Auf Lorville geht ein kleiner Schmuggel schief. Nun können nur noch alte Freunde helfen.
Von Dave Haddock
Kapitel 01
Ich bin tot, ich bin tot.
Die Worte wiederholten sich in einer Schleife in Sully Cannatas Kopf, während er durch die gewundenen Tunnel der verlassenen Fabrik rannte. Gebündelte Hitzesäulen schossen aus den Entlüftungsöffnungen, die sich entlang der Wand erstreckten und beißenden Rauch in die engen Gänge pumpten. Eine Reihe Schüsse dröhnte hinter ihm. Es klang wie das dicke Schießeisen, das Jens bekanntermaßen bei sich trug. Sully vermutete, dass er sich verschanzt hatte. Besser er als ich, dachte Sully. Dann wurde das Pfeifen der Kugeln plötzlich von einem Chor von Hochgeschwindigkeits-Energiewaffen übertönt…
Ich bin tot, ich bin tot.
Sully bog um die nächste Ecke. Seine Füße rutschten in einer Pfütze unter ihm weg, er schlidderte und begann zu taumeln. Im Fallen schaffte er es gerade noch, eines der Rohre an der Wand zu erwischen, er gewann sein Gleichgewicht zurück und hastete weiter. Sully hatte die Fabrik vor der Übergabe ausgekundschaftet – etwas, das er sich in den letzten zwei Jahren angewöhnt hatte. Aber jetzt gerade versuchte er nur, seinen Schrecken zu bändigen, um nicht die Orientierung im Gängelabyrinth zu verlieren … ein Labyrinth, das einen Ausgang hatte…die Zugangstür kam vor ihm in Sicht. Er warf sich mit voller Wucht dagegen. Kreischend flog sie auf und schepperte gegen die Wand. Sully schlug sie wieder zu und rammte einen dicken Metallsplitter in das Türschloss, hoffend, damit seine Verfolger zumindest ein wenig aufzuhalten.
Dünne Metalltreppen schlängelten sich an den Wänden entlang. Er verschwendete keine Zeit und überwand zwei, drei Stufen auf einmal, obwohl seine Beine heftig brannten. In dem Moment, als er oben ankam, krachte unten jemand gegen die Tür. Sein improvisiertes Schloss hielt. Sully zog schnell Handschuhe und Kapuze an, während schwere Tritte gegen die Tür unter ihm prallten. Gerade als er seine Schutzbrille wieder aufgesetzt hatte, gab die Tür nach. Schwere Schritte polterten die Treppe herauf. Sully donnerte gleichzeitig am oberen Ende der Treppe gegen eine weitere schwere, vom Rost angefressene Tür, die der Wucht seines ganzen Körpers direkt nachgab. Ein Wirbel aus Schmutz wehte in die Fabrik. Er spürte, wie sich der feine Staub durch den Stoff seiner Kleidung zwängte und in seine Haut biss. Er sprang durch die Tür ins Freie und rannte davon.
Die Übergabe fand am Rande von Lorville statt. Die Fabriken hier draußen waren entweder automatisiert oder hatten ihren Nutzen überlebt. Außerdem waren sie nur wenige Gehminuten von den Wohngebieten entfernt, was dies zu einem günstigen Treffpunkt machte. Sully bog in eine gewundene Gasse ein, um nicht gesehen zu werden. Er schlängelte sich um Müllhaufen herum, die an ihren Ausläufern seltsam schimmernde Pfützen hinterließen. Sully bewegte sich in Richtung der Wohngebiete. Der auffrischende Wind trug bereits die Musik der öffentlichen Lautsprecher zu ihm hin. Der säuselnd-repetitive Klang diente nicht der Unterhaltung, sondern war dazu da die Bevölkerung ruhig zu halten.
Sully strengte sich an, in den stürmischen Böen die Schritte seiner Verfolger zu orten. Das war eines der beunruhigendsten Dinge an der Sicherheitsexekutive: Sie schalteten ihre externen Lautsprecher nur ein, wenn sie einen direkt ansprachen. Den Rest der Zeit waren sie still. Ihre versiegelten Körperpanzer schirmten ihren Funkverkehr komplett ab, kein Ton drang aus ihnen heraus. Eine Handvoll Menschen glitt am Eingang seiner Gasse vorbei und Sully wurde langsamer. Als er sich näherte, überblickte er aufmerksam den Straßenzug. Schnell erkannte er, dass er sich in einem der Handelssektoren in der Nähe eines Verkehrsknotenpunkts befand. Hier erledigten die Arbeiter auf ihrem täglichen Pendelweg zwischen Habitat und Fabrik alle notwendigen Besorgungen.
Wie armselig diese „Läden“ waren, hatte Sully erst erkannt, als er Hurston zum ersten Mal verließ. Die Regale in den Läden waren größtenteils leer und enthielten nur eine Handvoll „genehmigter“ Artikel, die Hurston importierte. Die Schaufenster trugen zwar farbenfrohe Namen, aber alle den gleichen Hinweis auf dem Schild: „Owned and operated by Hurston Dynamics“. Die Fassaden boten ebenso wenig Abwechslung, alle waren in mehrere Schichten eingepackt, um sie vor dem ätzenden Schmutz zu schützen, der über der Stadt lag. Kaum ein Passant sah auf, alle Blicke waren auf den Boden gerichtet.
Kala hatte immer gesagt, das sei eben die Mentalität der Menschen hier: den Kopf unten halten und sich auf den Weg vor einem konzentrieren. Sie war schon immer pragmatischer gewesen als Sully. Zumindest hatte sie sich selbst so beschrieben. Er dagegen konnte darin nur die Denkweise der Gebrochenen entdecken. Deshalb war Sully gegangen.
Während er eine Gruppe von Kameras passierte hielt auch er seinen Kopf gesenkt. Das gute dutzend Objektive spähte jeden Winkel der Straße aus. Dazwischen waren die Lautsprecher angebracht, aus denen sich unaufhörlich dieses unerträgliche akustische Beruhigungsmittel ergoß, das den Geist der Arbeiter einlullte und mit jedem Ton weiter abstumpfte. Tapfer stapfte Sully unter dem depressiven Plätschern der Lautsprecher hindurch und musste sich mit aller Kraft zusammenreißen nicht zu rennen als er die Monorailstation erblickte.
Dort angekommen warf Sully einen Blick zurück in die Gasse. Es gab keine Anzeichen für seine Verfolger, offensichtlich hatte er sie abgeschüttelt. Die einzigen Sicherheitsleute befanden sich in einem geschlossenen Beobachtungsposten über dem Kontrollpunkt. Sully stellte sich in die Schlange und wartete. Als er an der Reihe war, betrat er den kleinen Vorraum. Die Laminattüren schwangen zu, als er seine Karte scannte. Einen Moment später blinkte der Bildschirm grün auf und die Plexiglastüren davor öffneten sich als gerade eine Bahn einfuhr. Sully stieg mit den anderen Arbeitern in den Zug ein. Während des Durchquerens der Zugangstür schossen Bündel von Pneumatikschläuche Luftstöße aus, die Staub und Schmutz von der Kleidung bliesen. Diese Maßnahme war Teil einer Initiative für öffentliche Gesundheit, die Hurston Dynamics vor zehn Jahren vorgestellt hatte, aber wie alle anderen Maßnahmen des Konzerns nahmen die Bewohner des Molochs die Aktionen schon lange nicht mehr ernst.
Sully ließ sich in einen Sitz gleiten. Mit sinkendem Adrenalinspiegel wurde er sich wieder seiner völlig übersäuerten Beine bewusst, sie schmerzten heftig. Aber darüber konnte Sully jetzt nicht nachdenken. Er musste herausfinden, was so entsetzlich schief gelaufen war.
Kapitel 02
Dies war nicht das erste Mal, dass Sully Lorville einen Besuch abstattete. Seit er sich vor fünf Jahren Pengs Bande angeschlossen hatte, waren unter seiner Beteiligung eine gute Handvoll Schmuggelaufträge sauber über die Bühne gegangen. So sehr er es auch verachtete, in dieses Höllenloch zurückzukehren, so einfach war es im direkten Umfeld von Hurston Güter für den Schwarzmarkt zu organisieren, da viele Alltagsgegenstände der Nachbarplaneten hier keine Genehmigung hatten.
So konnte man irgendwo eine simple DMC-Hose kaufen und sie hier für den vier-, manchmal fünffachen Preis verkaufen. Das einzige Problem waren die Sicherheitsleute, an denen die Ware vorbei musste. Genau darum ging es bei diesem Job – ein leichtes Geschäft mit Kleidung und Lebensmitteln, die man nirgendwo sonst in der UEE zweimal ansehen würde. Nach der Landung setzte sich Sully mit seinem Kontaktmann Shaw in Verbindung, der die „Spezialfracht“ an der Zollkontrolle vorbeischleuste und sie auf einem Cargo-Transport zu den Fabriken unterbrachte.
Sobald die Zollkontrolle für Sullys Fracht abgeschlossen war, traf er sich mit Jens und machte den Deal. Alles war so gelaufen wie immer. Ein gesundes Maß an Paranoia, aber ansonsten Respekt untereinander. Jens hatte zwei seiner üblichen Vollstrecker dabei, die ihm beim Tragen der Kisten halfen. Er öffnete die dritte Kiste, aber statt hydroponischer Wachstumsförderer waren Ampullen mit WiDoW darin. Jens wandte sich an Sully.
„Was zum Teufel ist das?“
Sully war selbst so verblüfft, dass er die Frage fast überhörte.
„Fuck … was zur Hölle …“, stammelte er.
Im nächsten Augenblick erwachte brummend ein Dutzend Energiewaffen über ihnen zum Leben. Jens, seine Vollstrecker und Sully drehten sich um und sahen, wie ein Trupp der Hurston-Security den Laufsteg über ihnen säumte, die Gewehre im Anschlag.
„Guten Tag, meine Herren“, durchbrach eine elektronisch verstärkte Stimme die Stille. Sully drehte sich um und sah eine Gestalt aus dem Schatten treten. Auf der Rüstung prangte eine Offizierskennzeichnung. „Ich will ehrlich sein. Was mich üblicherweise am meisten stört, ist, dass die Leute zwölf Stunden täglich produktiv sind und zur Verbesserung der Welt beitragen um dann nach Hause zu gehen, während ihr Typen versucht, mehr Credits für weniger Arbeit zu scheffeln.“
Der Sicherheitsbeamte umkreiste Jens und Sully in aller Ruhe. Jens‘ Vollstrecker warfen immer wieder einen Blick auf die Sicherheitskräfte auf dem erhöhten Laufsteg, während Jens dem Beamten in die Augen sah, als der sich der Kiste mit dem WiDoW näherte.
„Aber das hier…“, sagte er, als er eine Ampulle mit der dicken schwarzen Flüssigkeit hochhob. „…unsere Bevölkerung mit diesem Zeug zu vergiften … nun, das kann ich einfach nicht dulden.“
„Wir…“
Der Offizier gab ihm eine Ohrfeige. Die Rüstung verstärkte den Schlag und ließ Sully einige Meter über den mit Staub bedeckten Boden rutschen bevor er stöhnend liegen blieb. Jens‘ Hand wanderte langsam hinter seinen Rücken. Der Offizier öffnete seinen Helm und nahm ihn ab. Er war schon älter, wahrscheinlich Ende sechzig, hatte eine gebräunte, verwitterte Haut und kalte, graue Augen. Er ging auf Sully zu, beugte sich hinunter und stellte nüchtern fest, dass er keine Redeerlaubnis erteilt habe.
„Was wird das kosten?“ murmelte Jens.
Der Sicherheitsbeamte hielt inne, die Augen immer noch auf Sully gerichtet, dann lächelte er.
„Was?“
„Ihr bekommt schon jeden Monat neue Stiefel von mir, aber das genügt wohl nicht mehr. Es gibt eben immer jemanden, der noch ein größeres Stück vom Kuchen will.“
Dabei blickte sich Jens betont gelangweilt um.
„…also, was soll es dieses Mal sein?“
„Ich will den Namen von jedem, den ihr bestecht“, sagte der Beamte kalt, als er sich wieder Jens zuwandte.
Sully analysierte unterdessen die Umgebung: Da war eine Seitentür, vielleicht vier, fünf Meter entfernt.
„…ja, klar. Ich habe hier eine Liste.“
Jens zog eine Schreckschusspistole aus seinem Hosenbund und eröffnete das Feuer. Seine Vollstrecker griffen nach ihren Gewehren. Der Beamte hob gerade noch rechtzeitig seine gepanzerte Hand, um Jens‘ Schüsse zu stoppen.
„Dann machen wir es eben auf die harte Tour“, sagte der Beamte grinsend und zog ruhig seine Pistole. Jens zog seine schwere Ballistik. In diesem Moment rannte Sully los.
Kapitel 03
Die Monorail kam ruckartig zum Stehen. Durch die Lautsprecher quollen allerlei Ansagen zur den Diensten und verfügbaren Bahnlinien. Sully hatte noch einen weiten Weg zum Pad mit seinem Schiff vor sich. Fieberhaft ging er in Gedanken noch einmal jeden Schritt des Jobs durch. Die Ladung war auf New Babbage wie üblich vorbereitet worden. Peng hatte die Lieferung gemacht, aber er war nicht der Typ, der sich mit Drogen abgab. Peng war lediglich ein Opportunist, der sich gerne bezahlen ließ. Er ging lieber auf Nummer sicher statt leichtsinnig Grenzen zu überschreiten. In Lorville mit solch einer Lieferung aufzuschlagen hatte unübersehbare Züge einer Sehnsucht nach dem Tode.
Sully lehnte sich gegen das Fenster, als die Bahn in den Schatten fuhr. Er blickte nach oben und sah das monolithische Hauptquartier von Hurston Dynamics, hinter dem grell die Sonne Stantons strahlte. Zu seinem Pech musste er in das Herz der Unternehmenssicherheit eindringen um von hier wegzukommen. Die Bahn wurde langsamer, als sie sich der nächsten Haltestelle näherte. Sully stand auf und gesellte sich zu der Ansammlung von Fahrgästen an der Tür. Sie öffnete sich und spuckte die Menge hastig aus. Sully aktivierte sein Mobi während er die Station durchschritt und sendete Peng eine Nachricht.
„Hey, was gibt’s?“ murmelte Peng, einen Moment später, offensichtlich gerade aus einem Nickerchen gerissen.
„Eine Sekunde“, sagte Sully und mischte sich unter eine Menschentraube, um sein Gespräch besser vor den allgegenwärtigen Kameras zu verbergen.
„Was zum Teufel hast du mich transportieren lassen?“
„Was meinst du, Mann?“
„Eine der Kisten . . .“ – Sully senkte seine Stimme – „…eine davon war voll verdammtem WiDoW.“
„Ganz schlechter Witz, Mann.“
„Höre ich mich an als wäre ich zu Scherzen aufgelegt? Das ist kein Witz, Alter!“
Die Menge um Sully herum begann sich zu bewegen, also hielt er Schritt.
„Und nicht nur das. Die Sicherheitskräfte haben die ganze Übergabe überwacht. Jens ist wahrscheinlich schon tot.“
Peng war augenblicklich hellwach.
„Moment mal, ich weiß nichts von verdammten WiDoW, Mann.“
„Wie ist es dann in die Kiste gekommen?“
„Woher soll ich das wissen?“. Peng schien nervös zu werden.
„Hast du die Ladung jemals aus den Augen verloren?“
„Nein, ich hatte die immer …“ Sully hielt inne. Es gab eine Lücke, in der er sie nicht mehr gesehen hatte – Shaw, sein Kontaktmann der sie am Zoll vorbei geschleust hatte.
„Hey, hör mal, du, äh, du musst da raus.“
„Ja, danke, Peng. Was glaubst du, was ich hier versuche?“
„Ja, klar. Wie auch immer … melde dich nicht, bevor du nicht in Sicherheit bist.“ Peng schaltete ab.
Sully murmelte vor sich hin und löste sich aus der Menge, um auf die Rampe zuzugehen. Er wusste, dass Peng wahrscheinlich gerade aufräumte. Er löschte alle Aufzeichnungen über Sully aus seinem Mobi, aus den Datenpads, wo auch immer. Er ging auf Nummer sicher.
Sully betrat das Innere von Archimedes Flight und schaute sich um. Piloten standen um verschiedene Terminals herum und dirigierten ihre Schiffe. Kameras überwachten jeden Quadratzentimeter des Raumes. Sully überprüfte die Gesichter der Angestellten und entdeckte Michael Shaw, der ausdruckslos ins Leere starrte, während irgendein Kunde in einem schlecht sitzenden Fluganzug den Klugscheißer raushängen ließ. Sully ging schnell zu ihm hinüber und stellte sich hinter den Kunden.
„. . es ist wichtig, dass mein Schiff abgedeckt ist“, murmelte der Kunde. „Ich habe viel über die atmosphärischen Bedingungen hier gelesen, und ich will nicht, dass mein Rumpf durch irgendetwas, das in der Luft herumfliegt, beschädigt wird.”
Es dauerte einige Augenblicke, bis Shaw bemerkte, dass Sully direkt vor ihm stand. Sofort wandte er sich an den Kunden.
„Gehen Sie weg.“
Der Kunde verstummte schockiert. Shaws Gesichtsausdruck hatte sich dabei nicht verändert. Er starrte den Kunden nur an, bis er sich entfernte, und wandte sich dann an Sully.
„Hallo, willkommen bei Archimedes Flight“, sagte Shaw in einem wenig überzeugenden und doch scheinbar fröhlichen Ton. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ja, ich hatte da wohl Schwierigkeiten mit meiner Fracht.“
„Tut mir leid, das zu hören. Wir tun unser Bestes, um sicherzustellen, dass unsere Kunden zufrieden sind, aber manchmal passieren eben Missgeschicke.“
Sully lehnte sich dicht an ihn heran.
„Wir müssen uns unterhalten.“
„Tut mir leid, das kann ich im Moment nicht“, antwortete Shaw mit einem gelassenen Lächeln. Dann tippte er etwas auf seinem Datapad ein. „Ich habe Ihre Hangarakte mit einigen relevanten Informationen aktualisiert. Danke für Ihren Besuch.“
Sully drehte sich um und ging. Draußen angekommen, pingte sein Mobi. Es war eine Nachricht von einem unregistrierten Benutzer mit simplem Inhalt: „Bucht vier. Zehn Minuten.“
Ein paar Schiffe mit der Aufschrift Hurston Security rasten über ihn hinweg in Richtung des Fabrikviertels, aus dem Sully gekommen war. Das war alles andere als gut.
Kapitel 04
Die Halle war dunkel und leer. Shaw kam zehn Minuten zu spät. Sully vertrieb sich die Zeit damit, das Hurston-Spektrum nach irgendeiner Art von Alarm oder Benachrichtigung zu scannen. Es war ruhig. Der Ansager erklärte soeben, dass die Produktivität der Arbeiter im letzten Quartal gestiegen war, was zu einem Gewinnwachstum von zwei Prozent geführt hatte. Schließlich glitt die Tür zur Halle auf und ließ Licht ins Innere fallen. Sully versteckte sich hinter einem Terminal. Es war Shaw, der hereinspazierte, als wäre nichts geschehen.
„Wurde auch Zeit“, murmelte Sully, während er aus seinem Versteck kam.
„Hey, wenn ich im Dienst bin, bekommst du meine Zeit, wenn ich sie dir geben will.“ Dann zog Shaw sich eine Stim rein.
„Und?“
„Es hat sich herausgestellt, dass mein Paket eine kleine Extraladung enthielt. Ein paar zusätzliche Ampullen WiDoW.“
Shaw schwieg.
„Weißt du etwas darüber?“
„Warum zum Teufel sollte ich?“, erwiderte Shaw spöttisch.
„Die einzige Zeit, in der ich die Ladung nicht im Blick hatte, war, als du sie transportiert hast.“
„Nun, ich habe nicht die Angewohnheit, Kisten zu vertauschen.“ Shaw nahm einen Zug von der Stim.
„Bring das Zeug einfach zurück, und ich kümmere mich darum.“
„Ich kann nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil Hurston Security auch zur Übergabe kam. Jetzt haben sie es.“
Shaw lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und seufzte.
„Dann bist du wohl aufgeschmissen.“
„Das war nicht mein Zeug.“
„Jetzt ist es das.“
Shaw nahm einen letzten Zug von der Stim und warf die verbrauchte Patrone aus.
„Tut mir leid, Sully. Ich glaube, es wird Zeit für Dich, wieder zu verschwinden.“
„Kannst Du mein Schiff rufen?“
„Klar.“
Shaw ging zu einem der Terminals hinüber. Er rief den Hangar-Manager auf und tippte einige Befehle ein. Seine Miene verfinsterte sich.
„Ach komm schon, was jetzt?“
„Es gibt eine Landesperre für Dein Schiff.“
Shaw begann, einige andere Befehle einzugeben. Plötzlich hielt er inne, dann riss er das Stromkabel aus der Wand. Das Terminal war sofort tot.
„Der Sicherheitsdienst hat mich nach deinem Standort gefragt. Du musst abhauen. Jetzt!“
Sully ging auf die Tür zu. Shaw joggte hinter ihm her. Draußen angekommen, spähten sie den leeren Flur auf und ab.
„Eine Sache noch“, wandte sich Shaw an Sully, als er sich vergewissert hatte, dass der Flur leer war. „Wenn Du mich fallen lässt und an Hurston verrätst bist Du eine Stunde später tot. Comprende?“
Sully starrte ihn schockiert an.
„Gut.“
Shaw verschwand und ließ Sully allein in der Halle.
Sully ging zurück und steuerte auf das Hauptatrium von Archimedes Flight zu. Eine Handvoll Sicherheitsbeamte erschien plötzlich im Eingang. Sie drängten sich an Sully vorbei und zückten ihre Gewehre, als sie sich in Richtung der Hangars bewegten. Schnell zog er seine Schutzkleidung an und machte sich auf den Weg auf die Straße.
Da sein Schiff beschlagnahmt worden war, blieben ihm kaum noch Möglichkeiten. Er konnte versuchen, eine andere Mitfluggelegenheit zu finden, aber dann war da noch die Zollkontrolle, um wieder aus Lorville herauszukommen. Da die Sicherheitskräfte den Archimedes-Flug abgeriegelt hatten, war es jedoch unwahrscheinlich, dass er es überhaupt bis zum Zoll schaffen würde. Es blieb nur die Flucht aus der Stadt. Wenn er es in eine andere Stadt schaffte, ergab sich vielleicht eine andere Möglichkeit, den Planeten zu verlassen.
Kapitel 05
Vereinzelte Sonnenstrahlen durchbrachen die dunklen Wolken und beschienen die vorbeiziehende Stadt unter ihnen. Das Hurston Dynamics-Gebäude verschwand in der Ferne. Der Zug fuhr leise über die Hochbahngleise und steuerte auf eines der Wohngebiete zu.
Der Leavsden Square war schon immer einer der besonders deprimierenden Wohnblöcke Lorvilles gewesen. Die sterilen grauen Flure und Treppenhäuser erinnerten eher an eine Festung als an ein Zuhause. Sully beobachtete wie die dunklen Gebäude näher kamen. Aus den schmalen Fenstern funkelten hier und da kleine Lichtpunkte hervor. Da er in diesem Höllenloch aufgewachsen war, wusste er genau, wie gewalttätig die Wohntürme sein konnten. Offensichtlich hatte sich in den letzten fünf Jahren nicht viel geändert. Tatsächlich sah Leavsden sogar noch schlimmer aus. Für ihn war es nie eine Frage gewesen, Lorville zu verlassen. Als er schließlich einen Weg nach draußen fand und sich eine Stelle als Trainee bei einem Schrotthändler erhandelte, zögerte er nicht. Er hatte Familie, Freunde und Kala verlassen. Er konnte einfach nicht anders. Er hielt es nicht einen weiteren Scheißtag auf diesem gottverlassenen Planeten aus. Jetzt ging er zurück, und da gab es nichts, auf dass er sich freute.
Sicher, er hatte darüber nachgedacht, zurückzukommen, um zu sehen, ob Kala sich endlich von diesem Ort losreißen konnte. Gleichzeitig wusste er, dass sie das nicht tun würde. Sie hatte zu viele Bindungen. Sie würde nie den Drang verspüren, zu sehen, was das Universum zu bieten hatte.
Sully warf einen Blick auf die anderen Passagiere im Zug. Eine Ansammlung von Schmutz verschmierten Arbeitern, die gerade eine Zwölf-Stunden-Schicht in einer Munitionsfabrik hinter sich hatten oder Felsen schaufelten oder was auch immer. Er schaute die Gebrochenen direkt an. Er hatte nicht einmal mehr Mitleid mit ihnen. Sie kotzten ihn an. Er wollte ihnen eine Ohrfeige geben, ihnen sagen, sie sollten aufwachen und begreifen, dass sie Sklaven waren. Aber er wusste, wie sie reagieren würden. Sie würden irgendetwas davon murmeln, dass das Leben überall hart sei, oder irgendeinen ähnlichen Schwachsinn. Es war einfach nur zum Heulen. Der Zug fuhr in den Bahnhof von Leavsden ein. Seine Angst, hierher zurückzukommen, war fast so schlimm wie seine nagende Angst vor Hurston Security. Die Türen öffneten sich und Sully stieg aus.
Er überquerte den Gemeinschaftsbereich zwischen den vier monolithischen Gebäuden. In dessen Zentrum befand sich ein verrosteter Spielplatz hinter einem Ring aus betonierten Sitzgelegenheiten. Eine Gruppe Halbstarker saß darauf und starrte Sully an, als er sich näherte. Sie hatten in einem dreist-dummen Akt des Trotzes ihre Arme und Gesichter entblößt. Ihre Haut war bereits in bunten Mustern von den Giftstoffen in der Luft verätzt. Sully wusste, wenn sie aufstanden, würde das einen Kampf bedeuten, also hielt er sein Schritttempo aufrecht. Die Gang musterte ihn, als er vorbeiging. Einer von ihnen lehnte sich zurück, grinste und präsentierte einen Aufnäher, der billig auf sein Hemd genäht war. Ziviler Wachtmeisterdienst – Hurstons Augen, Ohren und wenn die Situation es erforderte Vollstrecker, die aus der Zivilbevölkerung rekrutiert wurden. Sie waren das Kanonenfutter für die Sicherheit, Ratten, die ihre Kollegen für einen Klaps auf den Kopf verrieten. Sully hielt seinen Kopf gesenkt und ging weiter. Die Jugendlichen warfen sich einen Blick zu und überlegten kurz, was sie tun sollten, kehrten dann aber zu ihrer leisen Unterhaltung zurück.
Sully ging weiter zum Atrium von Turm B und blickte kurz zur Gruppe zurück, um sicherzugehen, dass sie ihm nicht gefolgt waren. Dann rief er das Verzeichnis auf dem Wandterminal vor ihm auf. Er scrollte nach unten, bis er Kagan in der Liste fand, und tippte den Code ein.
„Ja?“
Eine ältere, aber dennoch vertraute Stimme murmelte durch den blechernen Lautsprecher.
„Joe“, sagte Sully und lehnte sich nah an den Sprecher, „ich bin’s, Sully.“
Dann nichts mehr. Eine ganze Minute lang stand Sully einfach nur da. Er wartete. Er wusste, dass dies eine schlechte Idee war. Dann surrte die Tür.
Kapitel 06
Joe Kagan sah alt aus. Es war erst fünf Jahre her, seit Sully ihn das letzte Mal gesehen hatte. Nun sah er aus als wären es zehn Jahre gewesen. Er hatte immer noch diesen konzentrierten Blick in seinen Augen. Sicher, er sah müder aus, aber da war immer noch diese Intensität. Sie hatten sich zum ersten Mal in den Fluren von Turm B getroffen, als sie acht Jahre alt waren. Joes Familie war eingezogen, nachdem sein Vater zu einer neuen Ausgrabungsstätte versetzt worden war. Eine Gruppe älterer Kinder hatte ihn auf der Etage willkommen geheißen. Joe hatte gerade dreißig Tritte eingesteckt, als Sully seinen Peiniger Micah Rodgers mit einem perfekt zentrierten Haken bewusstlos schlug. Nur war es Sullys einzig guter Schlag geblieben. Danach gesellte er sich schnell zu Joe auf den Boden. Unnötig zu erwähnen, dass fortan kein Blatt Papier mehr zwischen sie passte. Als sie älter wurden, teilten sie vor allem ihre trotzige Ader. Welchen Ärger sie auch bekamen, solange er mit den folgenden heiligen Worten endete war er es wert: “Hurston soll bezahlen.”
Es dauerte über zehn unzertrennliche Jahre bis sie endlich herausfanden, was sie trennte: Joe entschied, dass Streiche und Sabotage ohne ein echtes Bemühen um Veränderung sinnlos war. Sully hingegen hatte Gefallen daran, Leute einfach nur zu verärgern. In der Nacht bevor Sully Lorville den Rücken gekehrt hatte, hatten sie sich heftig gestritten. Sully unterstellte Joe Wahnhaftigkeit, Joe nannte ihn einen Feigling. Jetzt saß Sully erstmals wieder seinem alten Freund in der gleichen Zweizimmerwohnung gegenüber, die seine Eltern bewohnt hatten. Die Wände waren mit Bildern von historischen Revolutionären bedeckt. Aus den Lautsprechern ertönte bizarr klingende Musik. Joe saß in einem alten Sessel und starrte Sully einfach nur an.
„Wie geht es deinen Eltern?“, fragte Sully schließlich.
„Sie sind gestorben.“
„Oh“, lehnte sich Sully zurück, „verdammt, das tut mir leid.“
Stille. Bis auf diese schreckliche Musik.
„…und, kämpfst du immer noch … den guten Kampf?“, fragte Sully mit leicht amüsiertem Ton.
„Wir versuchen mit einer Petition zu erreichen, dass Hurston einen Arbeiterrat zur Kontrolle der Arbeitssicherheit einsetzt.“
Sully konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Joe schüttelte den Kopf.
„Was willst du, Sully?“
„Ich, äh, ich brauche Hilfe, um aus der Stadt herauszukommen.“
„Du hast Beine, geh einfach.“
„Ich muss leise raus.“
Joe stand auf und ging in die Küche, wo Wasser kochte. Er machte einen Tee und kehrte zurück.
„Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Du verschwindest fünf Jahre lang und tauchst dann wieder auf. Offensichtlich bist Du in Schwierigkeiten und erwartest jetzt, dass ich dir helfe?“
„Irgendwie schon, ja.“
„Was hast du getan?“
„Ist das wichtig?“
Joe knallte den Becher zu Boden. Der Henkel brach ab. Er sah ihn kurz an und warf ihn in die Spüle.
„Was hast du getan?“ wiederholte er.
„Ich habe eine Ladung in die Stadt gebracht. Es gab eine Verwechslung mit den Paketen, und ich wurde mit üblem Zeug erwischt. Aber es war nicht meins. Ich schwöre es.“
„Also bist du jetzt ein richtiger Krimineller?“
„Ich wollte Kleidung und Hydrokulturen einführen, simple Dinge, um das Leben der Menschen zu verbessern.“
„Aber das tust du nicht.“
Joe rieb sich die Schläfen.
„Du verstehst es immer noch nicht, oder? Das Schmuggeln von Ware macht das Leben der Menschen nicht besser. Im Gegenteil: Es bringt sie in eine prekäre Lage und gibt Hurston die Möglichkeit, noch härter durchzugreifen, wenn sie erwischt werden.“
„Genau, aber Deine Petition wird die Dinge endlich ändern“, schnauzte Sully zurück. „Ich wette, die Führungsriege pisst sich vor Lachen in die Hose.“
Sie wurden beide still.
„Bitte, ich brauche Deine Hilfe“, sagte Sully schließlich. „Hilf mir, und Du siehst mich nie wieder.“
Joe dachte einige Augenblicke lang nach.
„Ich kann nicht“, sagte er nach einer Weile. „Ich weiß, dass Dir das egal ist, aber wir versuchen wirklich, die Dinge hier zu ändern. Ich kann nicht zulassen, dass meine Leute in Deinen Schmuggel-Mist verwickelt werden. Es tut mir leid.“
Sully stand auf und ging zum Fenster. Obwohl er von Joes Antwort nicht überrascht war, fühlte er sich in der Falle. Er konnte sich nicht lange in der Stadt verstecken. Er blickte aus dem Fenster, hinunter auf den Platz zwischen den Türmen. Hurston Security sprach soeben mit den Jugendlichen. Sie zeigten auf Turm B. Alle Sicherheitsleute drehten sich zum Turm um.
„Scheiße“, murmelte Sully.
„Was?“, fragte Joe, während er zum Fenster eilte.
Er folgte Sullys Blick.
„Scheiße.“
Joe sprang fast zu einem seiner Schränke und holte ein paar neue Mäntel, Schutzbrillen und Handschuhe heraus.
„Hie.“
Er warf sie Sully zu.
„Du hilfst mir also?“
„Ich kann dich nicht aus der Stadt bringen. Aber ich kann dir etwas Zeit verschaffen, damit du wegkommst.“
Joe zog die Haustür auf.
„Erinnerst du dich an das alte Treppenhaus, aus dem TwoTone früher gedealt hat?“
„Ja“, antwortete Sully und zog sich schnell die neuen Sachen an.
„Das ganze Ding wurde abgerissen und sie haben den Strom für die Kameras abgestellt. Das wird dich ganz nach unten bringen. Schlüpf hinten raus und mach Dich aus dem Staub.“
„In Ordnung, danke.“
Sully hielt an der Tür inne. Er streckte seine Hand aus.
„Es war schön, dich zu sehen.“ Joe zögerte, dann schüttelte er Sullys Hand.
Sully ging den Flur entlang. Die Sprechanlage des Gebäudes erwachte zum Leben, als er rannte.
„Achtung, Bewohner des Leavsden Square Tower, hier spricht Sergeant McMannus, Hurston Security. Wir haben Grund zu der Annahme, dass ein gefährlicher Krimineller in Ihr Gebäude eingedrungen ist. Wir werden Sicherheitsprotokolle in Kraft setzen, um alle Bewohner zu schützen, bis unsere ordnungsgemäße Durchsuchung abgeschlossen ist.“
Alle Wohnungstüren fielen plötzlich zu und die automatischen Schlösser rasteten ein.
„Alle Mieter, die sich draußen aufhalten, müssen sich ausweisen.“
Sully schlug gegen die Tür zum hinteren Treppenhaus. Als sie aufschwang, wurde er mit unfassbarem Gestank begrüßt. Jahrelanger Schimmel und Dreck vermischten sich mit den Überresten derjenigen, die das Treppenhaus als Toilette benutzt hatten. Er zog seine Schutzhaube näher an sein Gesicht und stieg in die pechschwarze Kloake hinab. Stockwerk um Stockwerk ließ er hinter sich. Der baufällige Zustand der Treppe zwang ihn, jede Stufe vorsichtig zu nehmen. Mehr als einmal wäre er fast von etwas abgerutscht, das er glücklicherweise nicht sah. Er konnte die schweren Schritte hören, die sich draußen durch die Flure bewegten.
Ein paar Mal wagten die Sicherheitsbeamten einen Blick in das Treppenhaus, aber sie betraten es nicht. Ein Blick auf den Zustand des Treppenhauses genügte, um sie davon zu überzeugen, dass sich niemand mit gesundem Verstand freiwillig auf diese Art in Lebensgefahr begab. Sully erreichte schließlich die unterste Etage und den Notausgang auf der Rückseite des Wohnturms. Er stieß die Tür auf und schlüpfte hinaus. Da kein Sicherheitsdienst in Sicht war, rannte er weiter in Richtung eines weiteren Hochhauses. Dabei stieß er fast mit einem der Kids zusammen. Es war einer der Älteren, der Sully stolz seinen Ausweis entgegenstreckte. Dank Joes neuer Kleidung erkannte er Sully jedoch nicht.
„Hey, das Gebäude ist abgeriegelt.“
„Oh ja, ich weiß. Ich habe schon mit dem Sicherheitsdienst gesprochen. Sie haben mir die Erlaubnis gegeben, zu gehen.“
Der Junge musterte Sully. Er hob seinen Arm, um über sein Mobiglas einen Anruf zu tätigen. Sully brachte ihn mit einem gut gesetzten Haken zu Boden und rannte weiter. Er blickte nicht zurück, bis er den nächsten Wohnturm erreicht hatte. Das Gebäude, das er gerade verlassen hatte, wurde von den Sicherheitskräften gleichzeitig regelrecht umlagert, sie hatten sogar Drohnen angefordert. Sully war klar, dass ihm die Zeit davonlief.
Kapitel 07
Er presste seinen Finger auf die Glocke an der Tür zu Kalas Wohnung. Von all den Dingen, die er in den letzten Stunden erlebt hatte, war dies bisher das Schrecklichste. Dieses Warten, nachdem er den Knopf gedrückt hatte. Zu wissen, dass sie auf dem Weg zur Tür war. Er hätte sie lieber nie wieder gesehen, als ihr so gegenüberzustehen. Endlich öffnete sich die Tür. Kala, die ihre Uniform trug, war verblüfft über den Mann, der in ihrer Tür stand. Sie raubte ihm immer noch den Atem, selbst nach all dieser Zeit.
„Hey K“, sagte er bloß.
Sie verpasste ihm ohne weiter zu zögern eine gepflegte Backpfeife. Die pure Heftigkeit warf Sullys Kopf dabei so schnell zur Seite, dass seine Brille das Weite suchte und an der nächsten Wand zerschellte. Sein Kopf dröhnte.
„Was zum Teufel?“ schrie Sully, während er schützend seine Hände hochwarf und alle Mühe hat sich zu stabilisieren.
„Du Mistkerl“, murmelte sie. „Was zum Teufel willst du denn?“
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Sully und ließ die Hände sicherheitshalber vor seinem Gesicht. „Kann ich reinkommen?“
Kala überlegte kurz, dann drehte sie sich um und ging hinein, wobei sie die Tür offen ließ. Sully ging ihr hinterher und schloss die Tür.
Die Wohnung war fast genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Der einzige Unterschied war, dass Bilder ausgetauscht worden waren. Jetzt waren es ruhige, intime Momente von Kala mit einem anderen Mann. Eine hübsche Aufnahme von ihr beim Lesen am Nachmittag. Die beiden in einer Bar. Und dann, ein echter Knaller: Kala, der Typ und ein kleiner Junge. Kala drehte sich um und sah, wie er das Bild studierte.
„Er heißt Max und er ist endlich eingeschlafen, also sei leise.“
„Ihr seht glücklich aus.“
„Ja, wir versuchen es.“
Sully deutete auf den Mann auf dem Bild.
„Ist er auch hier?“
„Er arbeitet.“
Sully nickte und sah wieder auf das Bild.
„Wie lange …“
„…was macht das für einen Unterschied?“
„Ich würde es nur gerne wissen.“
„Ich weiß nicht, vielleicht ein Jahr nach deinem Verschwinden“, antwortete Kala. „Eigentlich würde ich gerne wissen, was zum Teufel mit dir passiert ist.”
„Ich musste gehen.“
„Musste?“
„Musste.“
Sully trat ein und nahm die Schutzhaube ab. Nervös hantierte er mit ihr herum, und versuchte alles, um sie nicht direkt ansehen zu müssen. „Ich konnte nicht mehr, K, ich konnte diesen Ort nicht mehr ertragen. Ich konnte es nicht ertragen, dass er uns alle fertig macht.“
„Also bist du einfach gegangen.“
„Ich wusste, du würdest nicht gehen.“
„Vielleicht hättest du fragen sollen.“ Kala rieb sich ihre Hand. „Dann hätte ich dich vielleicht überrascht.“
Sully bewegte sich quer durch den Raum zu ihr.
„Wie wäre es mit jetzt? Ich muss hier raus, und zwar sofort. Du könntest mit mir kommen.“
Er ergriff ihre Hände, überwältigt von der Aufregung über diese Idee.
„Du arbeitest doch noch im Frachtbereich, oder? Wir könnten deine Freigabe nutzen, auf einen Zug aufspringen, in ein paar Stunden aus der Stadt raus sein und schon bald auf einem Schiff…“
„Was?“
Kala löste ihre Hände aus seinen und trat einen Schritt zurück.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie es da draußen ist“, sagte er und folgte ihr. „Es gibt so viel Leben, dass es überwältigend ist. Die Menschen sind glücklich. Die Zukunft ist voll von Möglichkeiten. Es gibt keinen Smog und keine Arbeit, bis man stirbt. Kala, bitte. Lass mich dich von hier wegbringen.“
Kala sah ihn einen Moment lang an. Sie berührte die Falten in seinem Gesicht, die sich gebildet hatten, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
„Du hattest deine Chance, Sully“, sagte sie fest.
Der Wandschirm flammte plötzlich mit einem durchdringenden Alarmgeräusch auf. Sully konnte den gleichen Alarm aus den anderen Wohnungen durch die Wände schallen hören. Auf dem Bildschirm erschien das Hurston Dynamics-Logo mit einem Sicherheitshinweis. Sully wusste, was jetzt passieren würde.
„Achtung, Bürger von Hurston, die Sicherheitskräfte suchen nach Sullivan Cannata wegen illegalen Drogenhandels und Körperverletzung.“
Sullys Foto von einer seiner Verhaftungen in seiner Jugend erschien auf dem Bildschirm zusammen mit einem Bild, das von einer Kamera bei Archimedes Flight aufgenommen worden war. Die Stimme auf dem Wandschirm fuhr fort:
„Eine Belohnung von dreißigtausend Credits wird für jede Information ausgesetzt, die zur Ergreifung dieser Person führt.“
Kala drehte sich um und sah ihn an. Der Schmerz in ihren Augen war niederschmetternd.
„Ich war es nicht“, sagte er schwach, aber er wusste, wie es klang.
„Raus hier“, war alles, was sie sagte.
„Mama?“, sagte eine junge Stimme an der Tür. Max rieb sich die Augen.
„Es ist alles in Ordnung, Schatz.“ Kala nahm den Jungen auf den Arm. „Nur ein Alarm. Mach dir keine Gedanken darüber.“
Sully ging ins Badezimmer und schloss die Tür. Jetzt war es soweit. Jetzt war sein Gesicht in den Medien. Sein Blick glitt zum Rand des Waschbeckens hinunter. Dort lagen Kalas Ausweis und ihre Unbedenklichkeitsbescheinigung. Irgendwie würde er es schon ertragen sie noch einmal zu verlassen, vielleicht konnte er es auf einen Güterzug schaffen. Es bestand die Möglichkeit, dass der Alarm noch nicht weltweit verbreitet worden war. Und wer weiß, wie viele Leute wirklich darauf achteten…
Dann dachte er darüber nach, was mit Kala passieren würde, wenn er Ausweis und Bescheinigung stehlen würde. Sie würde wahrscheinlich wegen Beihilfe zur Flucht eingesperrt werden. Bei ihrer Vergangenheit würde niemand glauben, dass sie ihn abgewiesen hatte. Sie würde ihren Job verlieren und vielleicht sogar Max. Seine Freiheit würde auf Kosten der ihren gehen. Er sah auf sein MobiGlas hinab.
*****
Sully trat zurück in das kleine Wohnzimmer. Aus dem Augenwinkel erhaschte er einen Blick auf ein vertrautes Bild. Es war vor sechs Jahren aufgenommen worden und zeigte Sully, Kala und Joe sturzbetrunken in Felix’ Bar. Er hatte seit Jahren nicht mehr an diesen Abend gedacht.
„Ich meine es ernst, Sully, du musst hier verschwinden“, sagte Kala, als sie aus Max‘ Zimmer trat und die Tür schloss.
„Ich weiß.“
Der Klang der herannahenden Sirenen erhob sich über den heulenden Wind. Kala eilte zum Fenster und schaute hinaus. Fahrzeuge und Drohnen des Hurston-Sicherheitsdienstes schwärmten die Straße hinunter und umkreisten das Gebäude.
„Du musst jetzt gehen, Sully.“
„Tu mir einen Gefallen“, antwortete Sully resignierend. Er war nun ganz gefasst. „Ihr solltet etwas unternehmen, das Spaß macht, okay?“
„Wovon redest du?“
Sully trat näher heran und nahm ihre Hände.
„Es tut mir wirklich leid, weißt du. So sehr ich diesen Ort auch verlassen wollte, dich zu verlassen war das Einzige, worüber ich nie hinweggekommen bin.“
Kala betrachtete ihn eine Sekunde lang und bemerkte seine Resignation.
„Was hast du getan?“
Sully lächelte und wich in Richtung Tür zurück.
„Sully?“
„Tschüss, K.“ Er riss die Tür auf und schrie aus Leibeskräften: „Du hast mich verraten!“
Sully rannte hinaus und schrie den ganzen Weg, während er die Treppe hinunterdonnerte. Hurston Security betäubte ihn in der Lobby. Er schrie, dass Kala ihn verraten hatte, bis er in die Bewusstlosigkeit abdriftete.
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Sully kam auf dem Rücksitz eines Transporters wieder zu sich. Er spürte, wie seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt waren. Dank eines schwarzen Beutels über seinem Kopf konnte er nichts sehen, aber er vermutete, dass er zum Zentralgefängnis unterwegs war. Er war überrascht, wie gut er sich fühlte. Trotz all der Dinge, die außerhalb seiner Kontrolle lagen, und der Dinge, die er sich selbst zuzuschreiben hatte, steckte er diesen Schlag erstaunlich gut weg. Es war nicht sein erster Besuch in einem Hurston-Knast. Er würde wahrscheinlich ein paar Monate brauchen, um sich zurechtzufinden, aber innerhalb eines Jahres würde er ein Teil des Ortes geworden sein. Dann brauchte er nur noch abzuwarten oder eine Gelegenheit zur Flucht nutzen.
Und das Beste war, dass Kala und ihre Familie dank des Hinweises, den er in Max‘ Namen bei Hurston Security abgegeben hatte, eine schöne, fette Belohnung bekommen würden. Wie er und Joe immer zu sagen pflegten: Hurston soll dafür bezahlen.
Der Transporter kam ruckartig zum Stehen. Sully konnte hören, wie die Tür aufgerissen wurde. Schritte kamen auf ihn zu. Zwei Paar Hände rissen ihn vom Sitz hoch und zerrten ihn grob aus dem Transporter. Plötzlich wurde ihm der Sack vom Kopf gerissen. McMannus, der Hurston Security Sergeant, der Jens getötet hatte, stand direktvor ihm. Sully sah sich um. Sie standen mitten im Nirgendwo. Kein Gefängnis. Kein Sicherheitsposten. Kein Lorville.
„Was geht hier vor …?,“ stammelte Sully. Er sah sich um. Ein weiterer Hurston-Sicherheitsbeamter stand stumm neben dem Transporter.
„Wo ist das Gefängnis?“
„Tja, das ist das Ding, erwiderte McMannus, während er seine Handwaffe zog. „Das Geld ist zur Zeit sehr knapp.“
Er hob die Pistole und feuerte.
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Zwei Wochen später checkte Karla ihr Creditkonto, während Aman das Abendessen kochte. Max spielte mit alten, ausgedienten Actionfiguren. Ihr Terminal gab das akustische Signal für eine eingehende Nachricht von sich. Sie tippte sie an. Die Nachricht kam von Hurston Dynamics und war an Max adressiert. Sie bedankten sich für seine Unterstützung bei der Ergreifung eines gefährlichen Verbrechers und baten um die Angabe eines Kontos um eine Belohnung von dreißigtausend Credits gutzuschreiben.