Vom Recht auf Rausch

 …und seinen Konsequenzen. Warum Jumptown mehr ist als nur Ort. Er sagt uns, wer wir sind.
 Von John Brubacker


Drogen sind Selbstmord auf Raten. Wann hätte dieser Spruch je besser gepasst als auf Jumptown?  Auf jene Orte im Stanton-System, die Verheißung und Verdammnis zugleich sind. Unscheinbare Outposts im Nirgendwo, schäbig und runtergerockt, scheinbar verlassen. Und doch: Jeder Schuss – er ist hier ein Treffer. Vielleicht nicht  gleich in die eigenen Venen, aber doch ins Herz des Empires. Andererseits: Wer fliegt schon vorbei, wenn das schnelle Geld winkt bei kalkulierbarem Risiko? Ist es verwerflich oder nicht doch verständlich, wenn man auch mal etwas vom großen Kuchen abhaben will? Jumptown: Das sind die Orte, an dem man das Glück nur vom Boden aufheben muss – oder?

Wir liegen versteckt auf dem Bauch hinter einem Felsen und beobachten aus sicherer Entfernung das Treiben auf Lyria, einem felsigen, teils vereisten Mond ArcCorps. Eine mächtige Hammerhead beharkt in einer Senke soeben kleinere Fighter vom Typ Sabre und Arrow. Seit die Hammerhead eingetroffen ist, hat sie die Lufthoheit. Zwei schwere Gunships vom Typ Redeemer sichern die Korvette nach den Seiten hin ab. Ab sofort, so die unmissverständliche Botschaft, werden aus Jumptown keine Drogen mehr herausgeschafft.

Vor ihrem Eintreffen jedoch waren, fleißigen Bienen gleich, immer wieder mit Widow voll beladene Schiffe vom Typ Cutlass gestartet. Widow, das ist eine Designer-Droge, die aktuell das System überschwemmt – wieder einmal. Das als schwarze, tintenähnliche Flüssigkeit injizierte Opiat färbt auf Dauer die Venen schwarz und es entstehen netzartige subkutane Muster quer durch den gesamten Körper. Entspannt die Droge zunächst, bringt einen richtig runter, so sehen die Menschen nach exzessiver Einnahme irgendwann aus wie  Zombies.

Die „Helldiver“-Einheit, die das verhindern will, ist in Stanton bekannt für derlei Einsätze. Nachdem durchgesickert war, dass an diesem Abend auf Lyria eine größere Verladeaktion von Widow stattfinden soll, hatten die „Helldiver“ ihren Hut in den Ring geworfen. Die in Stanton stationierte UEE Navy hatte um Unterstützung von freien Söldner-Gruppen gebeten, weil sie der Lage allein nicht Herr wurde. Gab es einst nur ein einziges Drogenlabor auf Yela, einem unwirtlichen kalten Mond, der um den Gasriesen Crusader seine Kreise zieht, das aber vor gut einem Jahr durch Intervention von Crusader Industries geschlossen worden war, so existieren nun gleich drei an der Zahl – auf den Monden Lyria, Yela und Caliope. Keine Frage: Die Schattenwirtschaft findet immer neue Wege. Lockt der schnell verdiente Credit, wird der Markt immer und überall sehr schnell sehr kreativ.

Rauschmittel – sie ziehen Menschen seit Jahrtausenden magisch an. Der Gebrauch von psychoaktiven Substanzen hat sich bereits für die Jungsteinzeit der Menschheit auf der Erde nachweisen lassen. Schon damals wurden sie in schamanischen und religiösen Zusammenhängen genutzt. Im Kern geht es seither immer um eine wahrnehmungsverändernde Wirkung, die Abkopplung mentaler Prozesse vom Bewusstsein. Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich die verschiedensten Substanzen in die Venen zu spritzen, sie zu rauchen, zu schnüffeln. Heroin, Kokain, Speed, LSD, Crystal Meth, Crack vor bereits tausend Jahren, Maze, Widow oder Neon heutzutage – die Beweggründe, zu Drogen zu greifen, haben sich nicht geändert: Das Streben nach Glück und die damit einhergehende eigene innere Unzufriedenheit bedingen einander.

Es ist ein Teufelskreis, den man durchbrechen möchte – und der einen doch gefangen hält. Drogen versprechen den Ausweg. Sie sind Fluchthelfer, vermeintliche Heilsbringer. Man verlässt die Enge der eigenen Unzulänglichkeit, findet für eine Zeit inneren Frieden. Die Kehrseite: Abhängigkeit, körperlicher Verfall – und Gewalt in all ihren Auswüchsen. Bei Maze etwa kommt es regelmäßig zu Todesfällen, man findet nicht mehr den Ausgang aus dem eigenen Trip. Schließlich zerfällt das Gehirn. All dies ist bekannt – allein: Dieser Umstand ist nicht Abschreckung genug. Auch Maze wird aktuell auf illegalen Wegen gehandelt, als handele es sich dabei um pures Gold.

Es war im Jahr 2949, als die Bürger Stantons ein lukratives Widow-Drogenlabor auf der Oberfläche des Crusader-Mondes Yela entdeckten. Bald schon strömten zehntausende bis dahin unbescholtene Bewohner des Systems zu dem Außenposten mit unterschiedlichen Motiven. Piraten und andere Gesetzlose sowie ganze Organisationen mit wenig Skrupeln schickten sich an, diese neu entdeckte illegale Fundgrube möglichst schnell auszubeuten oder unter die eigene Kontrolle zu bringen. Andere, gesetzestreue Truppen wiederum wollten die Station abriegeln, um kriminelle Aktivitäten zu verhindern. Freizeit- und Berufsschmuggler keilten sich um jedes Drogenpäcken wie Hunde um einen Knochen.

Nur wenige wussten zunächst über Jumptown Bescheid – und niemand ahnte, dass sich daraus schon bald ein ausgewachsener Drogenkrieg entwickeln würde. Doch schnell wuchsen die Kämpfe über Jumptown hinaus, entwickelten ein Eigenleben und griffen, einem Krebsgeschwür gleich, im ganzen System um sich. Wo zuvor noch ein einigermaßen friedliches Miteinander geherrscht hatte, regierten alsbald Gier, Chaos und Anarchie. Harmlose Handelsschiffe, die zuvor Güter des täglichen Bedarfs durchs Verse transportiert hatten, wurden über Nacht Drogenkuriere, die wiederum von anderen aufgebracht wurden. Streckenweise wurde das gesamte Drogenlabor besetzt, ja sogar Eintritt verlangt. Ruchlose Söldnertruppen beschützten Drogenschmuggler, bildeten regelrechte Kartelle. Jeglicher Anstand starb – und mit ihm tausende Bürger. Kurzum: Für den schnellen Profit brachten sich die Menschen gegenseitig um – mehr als in jedem anderen Konflikt, den es zuvor in Stanton gegeben hatte. Schließlich konnte man hier bei einem Run mehr verdienen als bei einem legalen Cargo-Run in einem ganzen Jahr.

Jumptown – diese Bezeichnung trägt seitdem die Ungewissheit daher schon im Namen. Man springt ins Unbekannte. Was werden die Drogen mit einem machen? Selbst wenn man sie nicht selbst konsumiert: Drogen verändern den Menschen. Immer. Sei es, weil man Drogen, die man in der Cargo-Bay des eigenen Schiffes hat, weiter unter die Citizens bringt. Sei es, weil man die UEE-Gesetze ehren und eben dies verhindern will. Kurzum: Illegale Stimulanzien erzeugen einen Kreislauf, aus dem es so schnell kein Entrinnen mehr gibt. In Jumptown fokussiert sich daher wie unter einem Brennglas, was gut und was schlecht läuft im Empire, ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel, das niemanden unberührt lässt.

So auch diesmal bei „Paradise Cove“, so der Name des Jumptown-Outposts auf Lyria. Verzweifelt versucht die Gegenfraktkon zurückzuschlagen, kein Wunder: Mit jedem Päckchen lassen sich rund 15.000 Credits verdienen. Die Gier schaltet Verstand und Herz aus. Bald schon liegen mehrere brennende Wracks am Boden – Sinnbild auch dafür, was geschieht, wenn sich ein komplettes Sternensystem der UEE-Jurisdiktion entzieht. Mit dem Verkauf der einzelnen Planeten an private Unternehmen entstand ein rechtsfreier Raum, ein Vakuum, das Piraterie und Schmuggel aber auch schreckliche Misssverständnisse und Misstrauen geradezu förderte. So wird sich im Nachhinein herausstellen, dass mit der “Yellowhand Security“ ein zweite private Söldnertruppe versuchte, Schmuggel zu unterbinden. Wer aber glaubt dem anderen noch, ist das Grundvertrauen erst einmal nachhaltig erschüttert? Die aufgegebene einstige Bergbaustation Grimhex im Asteroidengürtel rund um Yela und ihre Besetzung durch die Piratengruppe der Nine Tails tat ein Übriges – für sie lag das erste Jumptown ja vor der Haustür. Wer eins und eins zusammenzählen konnte, wusste, was bald geschehen, wie jedes Vertrauen und jeder Gemeinsinn erodieren würde.

Was man bei Jumptown beobachten kann, ist daher das ewige Kräftemessen zwischen Gut und Böse – wo auch immer ein neues Drogenlabor entsteht. Jumptown zeigt das Ringen des Menschen mit sich selbst, ein Kampf mit den eigenen inneren Dämonen. Gibt es ein Recht auf Rausch, ein Recht auf Glück im Leben? Jumptown – das ist mehr als ein Ort. Es ist der Inbegriff für den schmalen Grat auf dem wir alle wandern. Jumptown – das ist der Ort, an dem sich immer wieder neu entscheidet, wer wir sind, wer wir sein wollen, was wir bereit sind, dafür zu tun. Es ist der Ort, der unsere Seele berührt. Letztlich stellt Jumptown uns die Frage, was echtes Glück im Leben bedeutet. Und die muss jeder für sich ganz allein beantworten.

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Der Bericht basiert auf eigenen Gedanken, nutzt aber auch die Zusammenfassung Jumptown Wars – Totalis Bellumvon Paul Shelly,  „Astro Pub“

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