– Das Jahr 2955 –
Nach dem Öffnen der Sprungtores fliegt John Brubacker gemeinsam mit seinem Freund Gabriel „Husky“ Winters in das Pyro-System – seit knapp einem Jahr wird er von dem Piraten Sean Aruhso erpresst, etwas, das Brubacker endlich hinter sich bringen will. Auch führt die Spur der Slicers, die das Stanton-System überfallen hatten, in das benachbarte Sternensystem. Doch der geplante kurze Aufklärungsflug in das Outlaw-System entpuppt sich schnell als Höllentrip ins Unbekannte. Bald kämpfen Brubacker und Winters ums nackte Überleben – ohne Aussicht auf Hilfe, eine Feuerprobe für ihre Freundschaft. Schließlich entdecken beide, dass sie mehr verbindet, als sie bisher ahnten…
Sprung ins Unbekannte
„Kann‘s losgehen?“
Husky nickt zögerlich.
Nach Monaten der Vorbereitung wollen wir es nun endlich wagen.
Wir schweben wenige Kilometer entfernt vor dem Eingang zum Sprungpunkt nach Pyro.
Ich drücke den Schubhebel der „Shack One“ langsam nach vorn, konzentriere mich auf das große schwarze Loch im Nichts vor uns, richte das Schiff aus, dann löst sich der Weltraum plötzlich in Schwaden auf und wir fallen in eine Art Tunnel.
Wimpernschläge später sind wir mittendrin in unserem Sprung in ein anderes, fremdes Sternensystem.
Krampfhaft halte ich das Steuer fest und versuche den Wänden, oder was immer das ist, nicht zu nahe zu kommen. Es ist, als würden wir durch die Eingeweide des Universums stürzen.
Ich steuere vorsichtig nach rechts, vorsichtig nach links, versuche, eine gleichmäßige Geschwindigkeit beizubehalten.
Die Zeit scheint stillzustehen und dehnt sich gleichzeitig bis ins Unendliche.
In der Ferne meine ich einen Ausgang zu erkennen, dann jedoch windet sich der Tunnel, in dem Raum und Zeit keine Rolle spielen, wieder wie eine Schlange.
„Wir sind fast da“, brüllt Husky, doch ich verstehe ihn kaum.
Ich selbst schreie auch irgendwas, aber im Gewitter der Sinneseindrücke nehme ich es selbst kaum wahr.
Schweiß tropft mir von der Stirn.
Schließlich fallen wir ohne Vorwarnung aus dem Wurmloch.
Die Sterne sind verschwunden.
Wir sind da.
Pyro.
*****
Wenige Tage zuvor.
Ich sitze in der Redaktion und beende meinen Artikel zu den „Slicern“.
Mein Mobiglas piept – Aruhso.
Doch er ist es nicht persönlich – sondern nur eine Sprachnachricht.
„Mr. Brubacker, ich warte noch immer. Und ich verliere nun langsam wirklich die Geduld….“
Es knistert und rauscht im Funk.
„…also bringen Sie mir endlich den verdammten Chip! Sonst kann ich für nichts mehr garantieren. Auch meine Auftraggeber…“
Aruhso hustet stark, dann bricht die Verbindung ab.
Zum Henker, welche Auftraggeber…?
Ich reiße mich zusammen, schreibe Husky eine Nachricht.
„War das der Typ, wegen dem du nach Pyro musst?“
Killer lümmelt hinter mir auf dem alten Sofa.
„Yep.“
Ich drehe mich zu ihm um.
„Dauert aber nur ein paar Tage.“
„Das sagst du jedes Mal.“
Killer blickt mich auffordernd an.
„Ich versprech`s. Ich muss nur was abgeben, danach komme ich sofort zurück. Und dann schauen wir uns die Wale auf Orison an, suchen Boomer und die Welt kann uns mal kreuzweise.“
Killer nickt.
„Wann musst du los?“
„Jetzt – und nicht wieder abhauen, okay?“
Erneut piept mein Mobiglas – diesmal ist es Husky. Die Idee mit dem Agentenleben sei eine Schnapsidee gewesen, er müsse nun dringend das System verlassen. Ich lächle. Auf ihn ist eben im Kern doch Verlass.
Wir treffen uns auf Baijini Point.
Killer und ich machen den auf ArcCorp unter Jugendlichen aktuell angesagten Ghetto-Kick bei dem man mit seinem Gegenüber die beiden Unterarme aneinanderschlägt – damit ist es besiegelt. Ich mache mir aber auch keine großen Sorgen mehr, dass er wieder stiften gehen könnte. Unsere Mondreise hat unsere Beziehung gefestigt.
Ich checke, ob der Chip mit den Daten aus dem Distributionscenter in meinem Anzug steckt, dann mache ich mich auf den Weg zum Riker Spaceport. Bevor es nach Pyro geht, will ich wenigstens einmal die Turbinen der „Shack One“ testen. Nie hätte ich in diesem Moment gedacht, dass ich für sehr lange Zeit nicht mehr in die Redaktion zurückkehren würde.
Ich warte auf Baijini Point, als ich auch schon Husky im Ohr habe.
Er kommt mit seiner „Frost“.
Minuten später sitzen wir im Mannschaftsraum der Carrack – und mich beschleicht sofort wieder das alte „Crew“-Gefühl. Was haben wir mit dem vermeintlich echten hadesianischen Artefakt nicht alles erlebt. Langweilig war es jedenfalls nicht und ein wenig vermisse ich die Zeiten auch.
Husky sieht furchtbar aus – er ist unrasiert, blass, hat gerötete Augen.
„Du siehst grauenhaft aus.“
Er lächelt mich schief an.
Dann erzählt er von seinen letzten Wochen auf Grimhex. Während Friedrich, Zero und ich die Slicer verfolgt haben, ist er tief in die Piratenszene eingetaucht. Die Advocacy habe ihn so unter Druck gesetzt, dass er sich schließlich bei den Grimhexern als Agent geoutet habe.
„…und das hast du für eine gute Idee gehalten?“
„Besser, als wenn sie es allein herausgefunden hätten. Ich sollte schließlich nur etwas über die Ninetails auskundschaften…“
Ich unterbreche ihn.
„…hast du irgendwas getan, was uns noch im die Ohren fliegen kann?“
Husky runzelt die Stirn.
„Ich meine, sind irgendwelche Rechnungen offen? Plötzlich ist in Pyro auch noch halb Stanton hinter uns her.“
„Nein…also einmal musste ich beim Eintreiben von Schutzgeldzahlungen Schmiere stehen…“
„…aber umgebracht hast du keinen?“
„Nein.“
„Jedenfalls hast du es geschafft, dass du nun zwischen allen Stühlen sitzt.“
Ich lasse ihn vom Haken – ich bin ja froh, dass er mitkommt.
Ich berichte, was sein Großvater, Zero und ich über die Slicer rausgefunden und wie wir die Idris bekämpft haben. Doch auch auf Grimhex hatte sich der Großangriff der Piraten natürlich herumgesprochen. Niemand war über die Konkurrenz aus Pyro wirklich glücklich.
„Dann lass uns nach vorn schauen. Wir müssen uns ausrüsten.“
„In der Tat“, sage ich. „Ich habe noch ein wenig zu Pyro recherchiert. Giftigste Umgebungen und jede Menge Outlaws, die nicht so nett sind wie deine neuen Kumpel.“
„Ich habe auf der Frost schon alles, was ich brauche. Ich muss es nur noch auf die Shack-One umladen.“
„Okay.“
Wir verlassen den Mannschaftsraum, Husky lädt eine Transportkiste mit seinen Habseligkeiten auf die Station um, sodass wir sie dann in die „Shack One“ bugsieren können. Gemeinsam klappern wir die Shops der Station ab, kaufen dies und jenes – Verpflegung, ein paar Klamotten, mehrere Multitools und was man noch so brauchen könnte. Danach machen wir uns noch einmal auf den Weg nach ArcCorp, wo ich meinen persönlichen Kram gelagert habe.
Einmal mehr geht es zurück auf meinen Heimatplaneten, einmal mehr durchstoßen wir die dichten Wolken – und als ich in den Landeanflug übergehe, ramme ich kurz vor dem Hangar mit dem Bug des Schiffes den Boden.
„Verdammt noch eins.“
„Was war das denn?“
„Ich…äh…habe bei den Kontrollen etwas falsch justiert…so, nun sollte es gehen.“
Ich lande so vorsichtig es geht, melde die „Shack One“ zur Reparatur an, doch die Hangar-Services sind geschlossen.
„Shit. Gut, dann müssen wir wohl so zum Pyro-Jumppoint fliegen und das Schiff dort reparieren.“
Ich schnappe mir ein paar Undersuits und Schutzausrüstungen sowie Waffen, dann machen wir uns wieder auf den Weg. Soeben geht die Sonne über ArcCorp unter. Ich sauge die Atmosphäre in mich auf, dann ziehe ich die „Shack One“ an den Himmel.
Der Pyro-Sprungpunkt ist nicht weit von ArcCorp entfernt und bald sehen wir auch schon den Nebel der die Raumanomalie umgibt. Wir nähern uns vorsichtig der riesigen Raumstation, erhalten die Landeerlaubnis und nach der Landung gebe ich die „Shack One“ zur Reparatur frei.
Anschließend stehen Husky und ich auf dem Panoramadeck und blicken auf den Sprungpunkt.
Ein schwarzes Loch im Nichts.
Es hat etwas Hypnotisches, etwas Lockendes.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken.
Warum nur haben wir uns so weit von Aruhso treiben lassen? Warum habe ich ihm nicht einfach die Meinung gegeigt und es dabei bewenden lassen? Wenn ich ehrlich bin, ist es auch ein wenig die Abenteuerlust, die uns hierher gebracht hat.
Morgen ist es soweit.
So schlimm wird es schon nicht werden in Pyro.
Nie wieder sollte ich mich so irren.
Dann trennen wir uns – noch einmal Energie tanken in unseren EzHubs.
Erneut piept mein Mobiglas – Zero.
Alle zieht es nach Pyro.
Ich antworte ihm kurz und noch während ich tippe, piept es gleich noch einmal.
Diesmal sind es nur drei Zeilen.
„Mr. Brubacker, viel Glück. Seien Sie vorsichtig. Trauen Sie niemandem. S.“
Smith.
*****
Wir schauen uns um.
Der Weltraum ist in rötliches Licht getaucht. Es sieht aus wie der Vorhof zur Hölle.
Auch wenn der Sprung nur ein paar Minuten gedauert hat – Stanton ist nun viele Lichtjahre entfernt. Alles, was wir dort erlebt haben, ist nur noch eine ferne Erinnerung.
Wir sind in einer neuen Welt.
„Wohin jetzt?“
Ich blicke auf die Karte.
Pyro ist groß – verdammt groß, doppelt so groß wie Stanton. Jeder Schritt will ab sofort gut geplant sein.
„Wollen wir gleich zu Aruhso?“
„Eins nach dem anderen.“
Ich schlage eine Station mit Namen „Rod N Fuel & Supplies“ vor, die auf halbem Wege nach Adir liegt.
„Sie gehört den Citizens for Prosperity. Dort dürften wir erstmal sicher sein.“
Husky blickt mich fragend an: Ich erkläre ihm, was es mit der Gruppe auf sich hat.
Dann machen wir uns auf den Weg durch unbekanntes Terrain.
Schreckliche neue Welt
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
Ich gebe Vollschub – möglichst schnell weg vom Sprungpunkt, wo Piraten gern mal Neuankömmlingen auflauern.
Wir gehen in den Quantumflug über – Pyros Sonne wird zu einem verwischten Fleck, ein so genannter Flare-Stern, der innerhalb weniger Minuten einen dramatischen Helligkeitsanstieg erfahren kann und dabei starke Strahlungsausbrüche freisetzt. Diese Solarbursts verbrennen dann alles, was nicht sofort Schutz sucht.
Ein sterbendes System mit einem sterbenden Stern.
Schließlich erreichen wir die Station. Wir trauen unseren Augen nicht – sie ist ein fliegender Schrotthaufen und sieht aus, als sei sie in der Mitte geradewegs durchgebrochen.
„Kann man darauf überhaupt atmen?“
Husky ist wie ich erschüttert.
„Keine Ahnung. Das müssen wir herausfinden.“
Wir umkreisen die Station mehrfach – aber es wird nicht besser. Überall ragen tragende Teile wie Knochen aus der Station raus, als würde man auf ein Skelett blicken, von dem das Beste bereits abgenagt ist. Bruchteile und Fragmente schweben vor der Station.
„Dennoch sind wir auf ihr erstmal sicherer, als hier draußen – denke ich zumindest.“
„Okay, dann lass uns landen. Mal schauen, was uns drinnen erwartet.“
Je näher wir der Station kommen, umso heruntergekommener wirkt sie – und auch nach der Landung wird es im Innern nicht besser. Im Hangar sind Verkleidungen abgerissen, es ist dunkel und feucht. Überall prangen hässliche Graffities.
„Hau ab, so lange du noch kannst“, heißt es auf einem.
„Schöne Begrüßung.“
Der nächste Schock folgt sofort: der Fahrstuhl in die Lobby. Er sieht aus, als würde er jeden Moment in sich zusammenfallen. Ich traue mich kaum einzusteigen, weil ich Angst habe, durch den Boden zu brechen.
„Wo sind wir hier nur gelandet?“
Mit meinem schneeweißen Undersuit-Anzug leuchte ich wie ein Fremdkörper, wie ein Alien aus einer fremden Welt. Kurz vor unserem Abflug hatte uns die Pyrogate-Station mitgeteilt, dass unsere Kisten irrtümlich auf ein anderes Schiff geladen worden waren. Husky hatte noch Ersatz, ich aber aber musste im örtlichen Shop einen Standard-Strampler kaufen. Nun sehen wir aus wie Weltraum-Touristen mit einem fetten Fadenkreuz auf der Stirn.
„Wir brauchen schleunigst etwas anderes anzuziehen, wenn wir hier auch nur fünf Minuten überleben wollen.“
Ich blicke mich um – wenn die „Citizens for Prosperity“ aus Pyro wirklich ein ordentliches System machen wollen, so liegt eine unfassbare Aufgabe vor ihnen. Bereits auf dieser Station hätten sie unendlich viel zu tun. Wo wir auch hinblicken, alles wirkt uralt, schrottreif, völlig verlottert.
An mehreren Ecken brennen offene Feuer, an denen sich Menschen wärmen.
„Dagegen ist Grimhex ein Kurort“, sage ich zu Husky.
Wir laufen über die Station, als Husky plötzlich vor einem Imbiss steht.
„Nicht zu fassen, die essen hier Ratten.“
Ich blicke auf die verschmorten kleinen Tierkörper und schlucke meinen Ekel runter.
„Hast du schon mal eine probiert?“
„Nein. Habe ich auch nicht vor. Habe noch ein paar Burritos dabei.“
Schließlich finden wir einen Shop, der wie alles auf dieser Station aus dem letzten Loch pfeift, uns aber zwei schäbige Shirts und Hosen verkauft. Ab sofort sind wir im abgerissenen Partnerlook unterwegs.
Husky sieht so fertig aus, er könnte glatt als Einheimischer durchgehen.
„Wohin jetzt?“
„Schauen wir uns einfach noch ein wenig um.“
Wir stolpern über Drogensüchtige, die sich zugedröhnt ihrer Sucht hingeben. Überall liegen angefaulte Essenpackungen und leere Alkoholflaschen. Wir schlendern kreuz und quer über die Station, aber der erste Eindruck bleibt.
Unrat, Dreck und Selbstaufgabe, wohin man blickt.
„Scheint ein altes Überbleibsel von Pyrotechnic Amalgamated zu sein“, sagt Husky schließlich.
„Wer?“
„Pyrotechnic Amalgamated. Haben Ressourcen im System abgebaut. Ist aber schon 400 Jahre her. Waren irgendwann pleite und haben einfach alles zurückgelassen. Seitdem streiten sich die Banden drum wie Hunde um einen alten Knochen.“
„Erklärt einiges.“
„Lass uns mal die nächste Bar ansteuern und einen Schlachtplan entwerfen.“
Die Bar ist gut besucht, aber wie alles auf der Station zusammengeschustert. Wir hauen uns auf das nächstbeste, speckige Sofa.
„Wir müssen nach Pyro IV, da in der Nähe ist auch Adir“, sagt Husky während er auf seinem Mobiglas rumtippt. „Da gibt’s wohl eine Insel mitten im Ozean und auch diese komischen Citizens.“
Ich nicke matt.
„Klingt gut für mich.“
„…übrigens habe ich keine Kohle mehr. Ich müsste dringend Geld verdienen.“
Ich mache kurz die Augen zu. Ich muss das alles erstmal verdauen.
Pyro, wir sind tatsächlich in Pyro.
Ich ahne, Aruhso wird unser geringstes Problem werden.
*****
Um mich herum wird geschluchzt, gejammert, teilweise geschrien.
Irgendwann kann ich es nicht mehr ignorieren.
Es sind die Albträume, die die Menschen in Pyro plagen.
Ich stehe auf und blicke mich in meiner Unterkunft um.
Ein dreckiges Loch, anders kann man es nicht nennen.
Ich habe zur Sicherheit in meinen Klamotten geschlafen, wer weiß, ob wir nicht von einer Sekunde zur nächsten fliehen müssen. Wer weiß, wer uns hier alles ans Leder will….
Ich verlasse mein EzHub, Beine vertreten.
Husky schläft eine Tür weiter.
Alles ist ruhig, die Flure sind leer, die Hallen verlassen, es ist mitten in der Nacht.
Abends kriecht jeder in sein kleines Loch.
Das Licht flackert.
Ich laufe über die scheinbar verlassene Station und schaue mich um. Wie kann man nur freiwillig in diesem Dreck leben? Müll, wohin man sieht, Wasser läuft von den Wänden. Blanke Kabel ragen aus Decken. Ich werfe einen Blick in die Waschräume und Toiletten – und bereue es sofort. Es ist so versifft, dass mir die Worte fehlen.
In einem Hinterzimmer stoße ich auf lauter Drogen.
Soviel zu den guten „Citizens for Pyro“.
Ich laufe an einer verschlossenen Tür vorbei hinter der leise Stimmen zu hören sind. Die finster drein blickende Wache scheucht mich mit einer beiläufigen Handbewegung weiter.
Ich betrete die Bar, die offenbar rund um die Uhr geöffnet ist. Eine einsame, junge Frau steht am Tresen. Ich geselle mich zu ihr.
„Alles klar?“, frage ich.
Demonstrativ dreht sie den Kopf weg.
„Verschwinde.“
Mir wird klar: In Pyro interessieren sich die Menschen einen Dreck füreinander. Ich beschließe, eine kleine Runde in der „Shack One“ zu drehen. Jetzt, mitten in der Nacht, wird mir wohl keiner auflauern.
Ich cruise ein weiteres Mal um die Station. Es ist ein Wunder, dass sie nicht einfach in sich zusammenfällt. In der Luft hält sie nur noch Spucke, Tape und guter Wille.
Irgendwann reicht es mir – ich lande wieder und kehre zurück in mein verdrecktes EzHub.
Ich schließe die Augen und versuche das Jammern auszublenden.
Hier will ich keine Sekunde länger bleiben als unbedingt nötig.
Hinter dem Horizont
Ich wache wie gerädert auf.
Irgendwo hinter einer Verkleidung hat es die ganze Nacht getropft – chinesische Wasserfolter auf pyroanisch.
Ich recke mich und treffe Husky direkt vor dem, was man auf dieser heruntergekommenen Station eine Schlafkoje schimpft.
„Lass uns abhauen.“
„Erst sollten wir uns noch was Richtiges zum Anziehen besorgen.“
„Okay.“
Wir laufen zum Klamottenladen und ich kaufe für uns beide die nächstbeste Ausrüstung. Wenn etwas in Pyro nicht zählt, ist es wohl fashion-style.
In einer dunklen Ecke findet Husky eine riesige Kiste voller Altrucia – Drogen.
„Wenn`s dich nicht stört, nehmen wir die mit. Können wir sicher gut zu Geld machen…“
Ich zucke mit den Schultern – warum soll man sich nicht in einem gesetzlosen System auch mal ein wenig gesetzlos verhalten? Hier ist sich ohnehin jeder der nächste. Wir ziehen uns um und machen uns auf den Weg zum Schiff. Husky fliegt, ich checke, wohin wir müssen.
Pyro IV – eigentlich ein Planet mit eigener Umlaufbahn, vor Milliarden Jahren aber aus seiner Umlaufbahn geworfen und nun ein Mond des Gasriesen Pyro V. In seiner Umlaufbahn befindet sich auch der Mond Adir. Während Husky in den Quantumjump übergeht, lese ich nach und erzähle von der Kollision.
„Das ist krass. Damals wurde fast seine gesamte Atmosphäre weggblasen. Mittlerweile hat sich aber eine neue gebildet. Eines Tages wird Pyro IV laut Wissenschaftlern zu einem Ring zerfallen oder in den Gasriesen stürzen.“
Ich grinse: Das wäre etwas für Killer.
„Dann beeilen wir uns lieber.“
Schnell kommt auch schon der gelb-grünliche Gasriese in Sicht. Niemand kreuzt unseren Weg und ich bin heilfroh darüber. Der Planet hat gewaltige Dimensionen, ähnlich Crusader. Wir fliegen mit einem Swing-By vorbei und springen nach Pyro IV.
„Schon komisch: Manche Planeten haben Namen, andere nur Bezeichnungen.“
„Vielleicht war einfach noch keiner da, der ihm einen Namen geben wollte.“
Als wir schließlich Pyro IV erreichen, bin ich sofort verknallt – der Planet ist wunderschön, hat eine ganz eigentümliche Färbung, schimmert türkisblau mit roten Einsprengseln.
„Wow, lass uns tiefer gehen.“
Für einen Moment vergessen wir, dass wir uns in einem hochgradig gefährlichen System bewegen. Husky taucht in die Atmosphäre ein und bald gleiten wir über rötliches Gestein, das scharfkantig aussieht, marmoriert und beinahe irgendwie künstlich. Schließlich fliegen wir über eine weite ebene Fläche.
„Lass uns unseren ersten Fußabdruck in einem fremden System setzen.“
Ich bin aufgeregt, vergesse für einen Moment einfach alles, was war. Es ist in der Tat ein besonderer Augenblick.
Husky setzt die „Shack One“ sanft auf, dann stehen wir auf dem unbekannten Planeten. Über sein Mobiglas checkt er die Atmosphäre, dann wagen wir es, nehmen unsere Helme ab und atmen tief ein.
Die Luft ist kalt und frisch.
Ich blicke mich um. Pflanzen, die ich noch nie zuvor gesehen habe, ähnlich einem Kaktus, aber ohne Stacheln und große Grashügel wachsen ganz in der Nähe.
Übermütig werfe ich mich mitten ins Gras hinein – vielleicht wird es ja doch alles nicht so schlimm in Pyro.
„Weißt du, das ist es doch… Neues entdecken. Was erforschen. Sich an Unbekanntem freuen. So ein Reporter möchte ich sein. Nicht den ganzen Mist, den wir erlebt haben…“
Eine Brise weht über die weitläufige Landschaft. Am Horizont sind Berge zu sehen.
Wir laufen ein wenig umher, genießen die Einsamkeit, die Schönheit des Planeten, der in ferner Zukunft dem Tod geweiht ist. Husky entdeckt einen Baum, dessen Stamm fast waagerecht gewachsen ist. Flugs ist er drauf geklettert.
„Ey, ich will auch mal.“
Ich schubse ihn zur Seite.
„Bist du früher auch so gern auf Bäume geklettert?“
„Na logisch.“
Ich mache einen Schnappschuss, wie er als Eroberer auf dem Baum steht.
„So bleiben. Okay, hab’s. Cool.“
Irgendwann haben wir uns ausgetobt.
„Wie heißt der Ort, zu dem wir wollen gleich noch mal?“
„Chawlas‘s Beach.“
„Ach ja.“
„Let’s go. Die Sonne geht schon unter.“
„Okay.“
Husky fliegt weiter, auch wenn es mich in den Fingern reizen würde, über meinen ersten Planeten selbst ein wenig zu cruisen. Es wird noch genug Gelegenheiten geben. Nach rund 200 Klicks erreichen wir den Ort, der sich aus der Luft als recht große Siedlung entpuppt.
„Wir landen besser ein wenig abseits und erregen erstmal so wenig Aufmerksamkeit wie möglich.“
Der Ernst der Situation hat uns wieder.
„Yep.“
Husky bringt das Schiff in einer Senke runter, dann machen wir uns auf den Weg. Die große Siedlung ist von mehreren kleineren umgeben und als wir uns der ersten nähern, entdecken wir auf dem Dach lauter hochgerüstete, vermummte Typen mit Maschinenpistolen im Anschlag.
„Ich glaube nicht, dass das die Citizens for Prosperity sind.“
„Ich auch nicht.“
„…und da hinten steht eine Polaris am Himmel. Ich glaube auch nicht, dass das etwa Gutes zu bedeuten hat.“
Husky schüttelt stumm den Kopf.
Wir schleichen durch hohes Gebüsch, suchen immer wieder Deckung hinter Felsbrocken.
„Wollen wir uns vielleicht trennen, um das Gebiet schneller zu erkunden?“
„Gut.“
Ich erklimme einen Hügel, auf dem große Windränder stehen, beeindruckende Konstruktionen, die stoisch ihre Runden drehen. Plötzlich höre ich Schüsse – die Polaris hat aus dem Nichts das Feuer eröffnet.
„Bru…verdammt.“
„Husky, wo bist du?“
„…in dem Gebäude, das die Polaris soeben unter Feuer genommen hat.“
„Was?!“
Ich werfe mich ins hohe Gras. Vor meinen Augen spielt sich ein Drama ab – die Polaris bringt mit gezielten Feuerstößen alle um, die sich auf dem Dach befinden.
„Husky, Husky?“
„Bin noch hier“, kommt es im Funk schließlich zurück.
„Wo bist du?“
„Habe mich im Dach verschanzt. Die Decke ist aus dickem Beton.“
Eben noch haben wir die Schönheit des Planeten genossen, nun liegen wir unter Feuer. Der Schütze an Bord der Polaris scheint es ganz genau wissen zu wollen – ohne Unterlass beharkt er mit den riesigen Geschützen das Gebäude. Nicht mehr lange, dann wird über Husky die Decke einstürzen. Ich will die Hoffnung schon aufgeben, als die Polaris plötzlich abdreht.
„Husky?“
„Ich lebe noch.“
Ich krieche geduckt von meinem Hügel herunter, dann renne ich zu ihm, klettere die Leiter des Gebäudes hoch – und stolpere über lauter Leichen.
„Was zum Teufel ist hier los?“
„Keine Ahnung“, antwortet Husky sichtlich geschockt.
Offenbar sind wir mitten in einen handfesten Bandenkrieg geraten.
„Wir müssen zur Siedlung. Dort finden wir am ehesten Deckung.“
„Alles klar.“
Die Polaris ist am Himmel für den Moment nicht auszumachen. Wir rennen über die flache Ebene, die zwischen dem soeben beschossenen Gebäude und der Siedlung liegt, dann erreichen wir so etwas wie Wachtürme.
„Erstmal die Lage checken“, sagt Husky und klettert hinauf.
Ich klettere hinterher und blicke mich um.
„Es hilft nichts, wenn wir mehr rausfinden wollen, so müssen wir tiefer rein.“
Wir rutschen die Leiter wieder hinab und schleichen durch den fremden Ort. Draußen ist niemand zu sehen.
„Alles verlassen.“
„Das hat bestimmt auch nichts Gutes zu bedeuten.“
Wir betreten das erste Gebäude und plötzlich pflastern erneut lauter Leichen unseren Weg.
„Hier hat ein Massaker stattgefunden“, sagt Husky leise.
Pyro macht seinem Namen alle Ehre.
Ich entdecke Menschen, die sich offenbar versteckt hatten und nun wie paralysiert durch die Gebäude schleichen.
„Hallo? Was ist hier passiert?“
Keine Antwort.
Die Bewohner stehen augenscheinlich unter Schock.
Was sich hier auch ereignet hat – es kann noch nicht lange her sein.
Wir zücken unsere Waffen und wagen uns weiter vor. Es ist überall das gleiche Bild.
In einem Serverraum bietet sich uns ein besonders schrecklicher Anblick – eine junge Frau wurde offenbar ohne Vorwarnung hinterrücks kaltblütig erschossen. Als würde sie gleich wieder aufstehen, sitzt sie mit tropfender Kopfwunde auf ihrem Stuhl.
Ich stolpere fassungslos über lauter Kabel am Boden, als es auch schon passiert – ein Stromstoß jagt mir durch den Körper, der mich sofort zu Boden gehen lässt.
In der Ferne höre ich Huskys Stimme.
„Bru…Bru…?“
Anscheinend bearbeitet er mich mit einer Medipistole und nach ein paar Minuten kann ich wieder sehen.
„Was war das denn?“
„100.000 Volt.“
Ich schüttele mich.
Husky kann seinen Blick unterdessen nicht von der erschossenen jungen Frau nehmen.
„Wir müssen…“
„…keine Chance“, hake ich ein. „Wer weiß, ob sie noch mal wiederkommen. Ich wette, die Polaris gehört auch zu denen.“
Vorsichtig schleichen wir weiter durch die Siedlung – im Grunde ein schöner Ort an einem malerischen Fleckchen. Ich wette, hier sind wir richtig bei den „Citizen for Pyro“, nur dass ein großer Teil von ihnen hingerichtet wurde.
„Wer macht so etwas nur?“
„Vielleicht Slicers“, gebe ich zurück.
Es ist ein spontaner Gedanke, pure Theorie, aber denen ist schließlich alles zuzutrauen.
Plötzlich höre ich Husky schreien – auf ihn wird geschossen.
Ich renne zu ihm, mit letzter Kraft hat er seinen Gegner besiegt.
„Verdammt noch mal.“
Wir klettern auf das Dach des Gebäudes und geraten abermals unter Feuer.
Die Angreifer sind immer noch vor Ort, wahrscheinlich sichern sie das Gelände.
„So das reicht, weg hier!“, sage ich. „Sonst geraten wir nur zwischen die Fronten.“
Husky nickt.
Es ist keine Sekunde zu spät, denn in diesem Augenblick taucht die Polaris wieder am Himmel auf.
„Es ist noch nicht vorbei.“
Abermals sprinten wir über die flache Ebene, nutzen jede nur erdenkliche Deckung, dann erreichen wir die „Shack One“, die wundersamer Weise noch nicht angegriffen worden ist. Wir springen auf die Pilotensitze und Husky legt einen Alarmstart hin.
Nur Momente später sind wir auf und davon.
„Wohin jetzt? Zurück zur Station?“
„Bloß nicht.“
Unter uns zieht eine wunderschöne Bucht dahin.
„Lass uns einfach hier runtergehen.“
Soeben geht Pyros Sonne auf.
„Ich habe zwei Rust besorgt.“
„Was ist das?“
„Das örtliche Bier.“
Mir ist eigentlich nicht nach Anstoßen. Vielleicht ist es aber auch die einzige Möglichkeit, dem Wahnsinn zu trotzen. Wir landen, nehmen einen Schluck, aber es schmeckt grauenhaft. Fast zeitgleich spucken wir es wieder aus.
„Himmel, was ist das denn..?“
Dann blicken wir auf die wunderschöne Sonne, die sich langsam aus dem Ozean schält.
So viel Schönes, so viel Schreckliches dicht beieinander.
Es überfordert meinen Verstand.
Pirat Aruhso
Ich habe geschlafen wie ein Baby.
Es gibt eben nichts Besseres, als weit draußen unter freiem Himmel im eigenen Schiff zu übernachten – Pyro hin oder her. Die grauenhafte Station und ihre hoffnungslosen Bewohner habe ich schon fast verdrängt.
Husky schläft in der Koje über mir. Auch er ist richtig weggebrochen – zu viele Eindrücke und zu viel Adrenalin in zu kurzer Zeit. Jetzt holt sich der Körper, was er braucht.
Ich klettere aus der Koje und laufe in das Heck des Schiffs. Ich lasse die Rampe herunter, strecke mich, laufe barfuß ein paar Schritte zur Kante der Steilküste und blicke hinaus auf das Meer.
Der Himmel ist blutrot.
Alles ist friedlich.
Das furchtbare Massaker von Chawla‘s Beach – habe ich das nur geträumt?
Ich kehre zum Schiff zurück.
Husky kommt mir entgegen.
„Gut geschlafen?“
Er nickt müde.
„Heute ist der große Tag….Aruhso….bringen wir es hinter uns.“
Husky nickt abermals, dann dreht er sich um.
„Ich fahre gleich das Schiff hoch.“
Aruhso, schnell rein und wieder raus, das ist die Devise – und dann ab nach Hause. Ich ziehe mir einen Undersuit und zur Sicherheit auch gleich die Rüstung an und geselle mich zu Husky ins Cockpit.
„Da ist noch ein zweiter Außenposten auf diesem Planeten. Sacrens Plot oder so ähnlich.“
Husky gähnt und studiert die Karte auf seinem Mobiglas.
„Da würde ich vorher gern noch einen Zwischenstopp einlegen, vielleicht ein paar Vorräte besorgen. Für den Fall der Fälle.“
„Klar, wie du meinst.“
Ich lasse Husky erneut fliegen, das weckt die Sinne. Auch hat er sich auf der „Shack One“ mittlerweile eingegroovt. Es ist nur ein Katzensprung, dann kommt die Siedlung auch schon in Sicht. Sie liegt am Fuß eines Berges am Meer und scheint nicht sonderlich groß zu sein.
„Wir bleiben besser wieder ein wenig außerhalb.“
„Yep.“
Nachdem Husky das Schiff sicher auf einem erhöhten Plateau gelandet hat, marschieren wir zu dem Außenposten, der aber nur ein kleines Frachtterminal ist.
Ein einsamer Ort. Wir schauen uns um.
„Hier finden wir nichts“, sage ich.
Plötzlich hören wir ein Schiff.
„In Deckung!“
Kaum haben wir Schutz gesucht, fliegt an uns im Tiefflug auch schon eine andere Zeus vorbei.
„Wo will die denn hin?“
Wir blicken ihr aus unserer geschützten Position nach, dann entdecken wir zwischen zwei Felsen eine Art Canyon. Ein Weg führt hindurch.
„Ich glaube, die eigentliche Siedlung liegt da oben.“
Zwischen hoch aufragenden Felsen laufen wir den Pfad hinauf – und in der Tat: Bald stehen wir in einer Siedung, die in ein kleines Tal gequetscht wurde. Wie ein drohender Schatten steht die fremde Zeus am Himmel. Dann eröffnet sie ohne Vorwarnung plötzlich das Feuer auf die Passanten auf dem Vorplatz.
„Heilige Scheiße.“
Erneut findet direkt vor unseren Augen und aus nächster Nähe ein Massaker statt. Wir kauern in einem Gewächshaus, während nur ein paar Meter entfernt Menschen sterben. Der Pilot der Zeus tobt sich gnadenlos aus – alles geht so schnell, dass jegliche Gegenwehr schon im Keim erstickt wird. Schließlich liegen nur wenige Meter entfernt lauter Tote.
Zweimal innerhalb weniger Stunden werden wir Zeugen eines brutalen Überfalls. Die Zeus schwebt durch die Canyon-Siedlung und hinterlässt eine Schneise der Verwüstung.
Das Gewächshaus ist kein gutes Versteck. Wir wechseln unsere Position – just in dem Moment erfassen uns die Scheinwerfer des Angreifers. Ich rufe etwas, doch meine Schreie gehen im Lasergewitter unter. Ich nehme benommen wahr, wie Husky wenige Meter vor mir zusammenbricht.
Er ist getroffen worden.
Vor Schock kann ich mich eine Sekunde nicht rühren – dann hechte ich in Panik in den nächstbesten Schatten, keinen Moment zu spät, denn wo ich noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte, schlagen nun ebenfalls die Laser der Zeus ein.
Ich mache mich so klein wie möglich, höre, wie Husky stöhnt.
Noch ist er nicht tot.
„Bru…“
Er atmet schwer.
„…ich kann mich nicht rühren.“
„Warte, ich habe einen Medipen. Bleib liegen.“
Die Zeus schwenkt gut 20 Meter von uns entfernt die Nase hin und her, sie sucht uns.
Ich krieche im Schatten zu Husky und jage ihm den Pen in den Arm.
Keine Wirkung – er ist leer.
„Verdammt. Auf dem Schiff haben wir noch eine Medipistole. Ich hole sie.“
Ich packe Husky an seinem Anzug und ziehe ihn in die dunkelste Ecke, zwischen Gewächshaus und Felsen.
Husky murmelt etwas Unverständliches.
Im Schatten renne ich den Weg zurück. Bald gerate ich außer Atem, schließlich kann ich nicht mehr, mein Mobiglas zeigt: Meine Herzfrequenz ist bei 150. Ich blicke hinauf auf das Plateau, wo die „Shack One“ steht. Ich gebe mir einen Ruck und zwinge mich weiterzulaufen. Schließlich stapfe ich mit schweren Schritten den Hügel hinauf. Das Schiff ist unversehrt – Gott sei Dank. Schnurstracks hole ich die Medipistole und mache mich sofort auf den Rückweg.
Ich stolpere durch das hohe Gras.
Die Dunkelheit schützt mich vor Entdeckung. Bald habe ich Husky wieder erreicht und gebe ihm die passende Dosis. Nach ein paar Augenblicken richtet er sich auf.
Die Killer-Zeus ist nach wie vor da. Augenscheinlich findet der Pilot aber niemanden mehr, den er umbringen kann. Er scheint noch einmal die Lage zu checken, dann zieht das Schiff wie ein Raubvogel, der seine Beute zum Sterben zurücklasst, schließlich an den Himmel und ist auf und davon.
Wir blicken uns einen Moment stumm an.
„Und jetzt?“
„…tun wir, weshalb wir hergekommen sind.“
Wir laufen an den Getöteten vorbei, die eben noch ihren Geschäften nachgingen und dringen weiter ins Innere der Siedlung vor. Wir öffnen ein Schott und ich blicke mich um. Anscheinend hat man drinnen von der Attacke nicht viel mitbekommen. Kein Wunder: Die Stahl-Beton-Wände schirmen alles ab.
„Leute, draußen da haben eben…“, beginne ich.
„Wissen wir…“, entgegnet mir ein Siedler nüchtern.
Er hat sofort gesehen, dass wir nicht von hier sind.
„…macht es nicht zu eurem Problem.“
Meine Augen wandern durch den Raum auf der Suche nach Husky.
„Ich bin hier hinten.“
Er checkt die Schränke.
„Zu essen haben sie nicht viel und außerdem haben sie gerade auch ein paar andere Sorgen…“
Wir durchstöbern die Gebäude, aber außer ein wenig Getreide haben sie nichts im Angebot.
„Lass uns zu Aruhso und dann nichts wie weg hier.“
Husky nickt stumm.
Wir laufen erneut an den sechs getöteten Personen vorbei, kehren bedrückt auf die „Shack One“ zurück. Zwei so große brutale Überfälle auf Zivilpersonen innerhalb weniger Stunden…das ist kein Zufall mehr. Ich bin überzeugt: Da steckt mehr dahinter – viel mehr. Husky startet die Maschinen und nach wenigen Minuten sind wir auf dem Weg nach Adir. Ich sitze auf dem Co-Pilotensitz und schalte den Peilsender auf.
„Ich habe ein Signal.“
„Dem folgen wir.“
Husky geht tiefer, dann hat uns Adir in seinem Bann – ein Mond ohne schützende Atmosphäre, eine von Kratern übersäte fremde Welt. Hohe Bergspitzen glitzern in der Ferne, während wir in einem weitläufigen Tal niedergehen.
„Das perfekte Versteck“, sage ich. „Ich frage mich nur, warum Aruhso den ganzen Aufwand überhaupt betrieben hat?“
Husky zuckt mit den Schultern, blickt stattdessen konzentriert auf das Peilsignal. Schließlich entdecken wir eine Siedlung, vielmehr eine Schrotthalde.
„Mr. Aruhso, können Sie mich hören?“
Keine Antwort.
„Mr. Aruhso…wir sind gleich da und haben dabei, was Sie möchten.“
Funkstille.
Husky landet und wir machen uns auf den Weg, jeden Felsen als Deckung nutzend. Die Siedlung erweist sich schließlich in der Tat als reine Schrotthalde. Überall lodern wilde Feuer.
„Mr. Aruhso?“
Wir laufen kreuz und quer durch die Müllhalde.
Nichts.
Schließlich entdecken wir einen Toten – doch der sieht dem Piraten nicht im Entfernesten ähnlich.
„Das ist er nicht.“
„Vielleicht sind wir hier falsch“, mutmaßt Husky.
„Glaube ich nicht. Das ist bestimmt der richtige Ort.“
„Dann weiter.“
Mehrfach rufe ich Aruhsos Namen, klettere kreuz und quer umher.
Schließlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Die halb zerstörten Gebäude sehen original so aus, wie diejenigen, die wir in Stanton gesehen hatten. Wir hatten den richtigen Riecher, verdammt, wir hatten mit allem Recht. Es gab früher Siedler in Stanton – und sie kamen aus Pyro. Hier haben wir nun den ultimativen Beweis.
Ich denke an Zero und frage mich, wie es ihm derzeit wohl ergeht.
„…hast du ihn gefunden?“
„Nope.“
Husky klettert auf einen Turm, schaut sich von oben um.
Dann entdecke ich Aruhso nahe einer Feuerstelle. Er liegt mit dem Gesicht auf dem Boden aber er ist es – unverkennbar.
Und: Er ist tot.
Ich stehe sprachlos vor ihm.
„…ich habe ihn.“
Husky eilt zu mir.
Gemeinsam blicken wir auf den toten Piraten, der uns über zwei Jahre das Leben schwer gemacht hat. Er hat sein Leben ausgehaucht, einsam, im Dreck.
„Was ist hier geschehen?“
„Keine Ahnung.“
„Hast du eigentlich die ganzen Explosiv-Kanister gesehen, die hier gelagert werden?“
„Hm?“
Ich bin immer noch in Gedanken.
„..na, die roten Kanister.“
Husky schießt auf einen und der laute Knall lässt mir einen gehörigen Schrecken in die Glieder fahren.
„Sag mal, spinnst du?!“
„Hattest du nicht von Explosiv-Stoffen geschrieben, mit denen die Slicer Attentate in Stanton planen wollten?“
Ich blicke Husky an.
„Ist wahrscheinlich das gleiche Zeug. Hat man hier vielleicht umgeladen.“
„Husky, ich bin gerade nicht ganz auf der Höhe….“
„…das könnte doch bedeuten, dass Aruhso ein Slicer war oder…“
„…oder zumindest für sie gearbeitet hat“, bringe ich den Satz zu Ende.
Ich habe verstanden, worauf Husky hinaus will.
Ich denke an Aruhsos Aussage in seinem letzten Funkspruch, dass seine Auftraggeber langsam ungeduldig werden würden.
„…und die ganze Aktion mit der Carrack war eine Späher-Aktion, um den Fuß in die Tür von Stanton zu bekommen. Quasi ein trojanisches Pferd.“
„Klingt verrückt, aber irgendwie auch logisch. Und was ist mit dem Chip?“
„Da ist vielleicht etwas drauf, was für die Slicer ungeheuer wichtig ist, aber weil Aruhso nicht rechtzeitig geliefert hat….“
„…haben sie ihn erschossen.“
Ich blicke auf Aruhso. Es würde alles passen.
Wir laufen noch ein letztes Mal durch die Siedlung, aber mehr hat sie uns nicht zu erzählen.
Wie ein Menetekel geht in diesem Moment am Horizont Pyros Gasriese unter.
„Wir sollten mal checken, was auf dem Stick ist“, sagt Husky, während wir zurück zum Schiff laufen.
Ich schüttle vehement den Kopf.
„Auf keinen Fall, den schließe ich nicht an die Schiffssysteme an.“
Wir erreichen die „Shack One“, setzen uns und atmen tief durch.
Husky blickt mich auffordernd an.
„Also gut.“
Ich nehme den Stick und stecke ihn in das Engineering-Terminal.
Ein paar undefinierbare Zeilen fliegen über den Monitor, sonst passiert nichts.
„Nicht sonderlich spektakulär.“
Wir warten noch ein paar Sekunden, aber es geschieht weiterhin nichts.
„Ab nach Hause.“
Husky fährt das Schiff hoch, gibt in den Navigationscomputer als Ziel das Sprungtor nach Stanton ein und wir machen uns auf den Weg.
„Hey, das Schiff versucht irgendwohin Kontakt aufzunehmen…“
„Was?“
„Auf meinem Monitor steht immer: Verbindung nicht möglich. Außerhalb der Reichweite.“
„Verstehe ich nicht.“
„Ich auch nicht. Egal. Lade Quantumdrive.“
Ich lehne mich zurück, schließe die Augen. Der Quantumflug zum Sprungtor sollte eine Weile dauern – ein paar ruhige Minuten, um alles sacken zu lassen. Doch nach wenigen Sekunden werden wir abrupt aus dem Quantum gerissen.
Vor uns schwebt ein unbekannter Mond.
„Himmel, was ist passiert?“
Huskys Finger fliegen über die Konsolen.
„Wir probieren es noch mal.“
Das Schiff springt erneut, nur um kurz darauf wieder aus dem Quantum zu fallen.
„Husky?“
„Ich…keine Ahnung.“
Dann trifft es uns wie der Schlag.
Wir haben die „Shack One“ mit einem Virus infiziert.
Gewaltmarsch
Ich schlage mit der Hand auf die Konsole.
„…das kann nicht wahr sein.“
Krampfhaft versuche ich mich wieder zu beruhigen.
„Okay, der Reihe nach…was ist das für ein Mond dort vorn?“
Husky checkt die Karte,
„Wenn mich nicht alles täuscht…Fuego.“
„Okay. Versuchen wir, dort heil runterzukommen, dann sehen wir weiter.“
Husky nickt atemlos.
In den nächsten Augenblicken gehen die Antriebe mehrfach an und wieder aus. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie dem sonst so coolen Rennpiloten Gabriel Winters der Schweiß auf der Stirn steht.
„Bru…was passiert hier?“
„Ich weiß es nicht“, fahre ich ihn hart an, „ständig fragst du mich…“
Weiter komme ich nicht.
Fuego kommt rasend schnell näher.
Wir stürzen ab.
Ich schließe die Augen.
Als ich es wage, sie wieder zu öffnen, steht die „Shack One“ auf einem leichten Abhang. Keine Ahnung wie, aber Husky hat sie sicher runtergebracht – vom Co-Pilotensitz aus. Er muss noch im letzten Moment das Schiff hochgerissen und die Landestelzen ausgefahren haben.
Wir blicken uns stumm an.
„Lass uns die Systeme checken.“
Wir fahren sämtliche Wandpaneele hoch, hinter denen die Aggregate der „Shack One“ verstaut sind. Alles sieht auf den ersten Blick gut aus. Nirgendwo brennt es.
„Hier auf dem Monitor sieht man, dass die Energie irgendwie umgeleitet wird…“
Husky hat dafür viel mehr den Blick als ich.
Ich bin frustriert und stocksauer zugleich – die verdammten Schiffshersteller! Sie verkaufen einem ihre schnieken Schiffe in ihren Hochglanz-Showrooms, aber wehe es geht etwas schief: Hier draußen, im Nirgendwo, sieht die Sache dann ganz anders aus. Da starrt man dann darauf wie ein Schwein ins Uhrwerk.
„Zieht vielleicht die Energie ab, um die Sendeleistung zu erhöhen.“
Ich verstehe kein Wort.
„Husky…“
„…hast doch gesehen: Das Schiff hat versucht, irgendwohin Kontakt aufzunehmen.“
Ich bin mit meinem Latein am Ende.
„…sonst scheint aber nichts kaputt zu sein.“
„Tolle Landung übrigens.“
Husky grinst mich an.
„Erfahrungen aus meinem Rennflieger-Leben. Alles auf einen Punkt konzentrieren.“
„…und jetzt?“
„Außencheck.“
Ich ziehe meinen Helm auf, dann verlassen wir das Schiff.
Wir sind im Nirgendwo gestrandet.
Scharfkantige, spitze Steine soweit das Auge reicht, dazwischen ein Gestein, das vielleicht mal flüssig war. Ich atme tief durch und rufe mein Mobiglas auf.
Fuego, der fünfte Mond des Gasriesen Pyro V. Er hat eine relativ gemäßigte, aber kalte Atmosphäre, die hauptsächlich aus Kohlendioxid und geringen Anteilen von Stickstoff, Schwefeldioxid und Sauerstoff besteht. Der hohe Anteil an Eisensulfid in seinem Boden verleiht seiner Oberfläche ein gelb-schwarzes Aussehen. Die berühmt-berüchtigte Schmugglergruppe Headhunters nutzte Fuego in ihren Anfangsjahren in den frühen 2600er Jahren oft als Warenversteck.
So weit, so schlecht.
Headhunters, nie gehört. Offenbar eine weitere Outlaw-Gang.
Ich laufe um das Schiff herum. Auch von außen sieht noch alles gut aus.
Wir haben Glück im Unglück gehabt.
„Was haben wir noch an Vorräten dabei?“
„Nicht viel, ein wenig Wasser, ein paar Riegel.“
„Vielleicht kriegen wir die Kiste ja wieder flott.“
Ich setze mich in den Pilotensitz, starte die Systeme – und tatsächlich: Die „Shack One“ erwacht wieder zum Leben.
„…jetzt die Triebwerke.“
Auch sie fahren hoch – nur um im nächsten Moment wieder abzuschalten.
„Versuch es noch einmal.“
Es geschieht das Gleiche wie während des Absturzes.
Mist.
„Und jetzt?“
„Scann mal die Umgebung, vielleicht ist irgendwas in der Nähe.“
Ich glaube es zwar nicht, tue Husky aber den Gefallen – und tatsächlich: Gar nicht so weit entfernt wird ein Radarsignal zurückgeworfen, Entfernung: zirka fünf Kilometer.
„Könnte eine Siedlung sein.“
„…oder ein gelandetes Schiff.“
„Dafür ist das Signal zu stark.“
Ich blicke Husky an.
Wir denken beide offenbar das Gleiche – sollen wir es wagen und uns auf den Weg machen? Pyros Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel. Wir müssten in voller Rüstung laufen, da die Atmosphäre nicht atembar ist. Und wir haben nur wenig zu trinken dabei.
„Ich finde, wir sollten es trotzdem wagen.“
Wir laufen am Engineering-Terminal vorbei, werfen noch einmal einen Blick darauf, doch schlauer werden wir nicht. Eine fremde Macht hat die Kontrolle über das Schiff übernommen – und wir sind auf einem fremden Mond abgestürzt, weit weg von zu Hause.
Noch schlimmer kann es kaum kommen.
Dass der Stick ganz leicht pulsiert, fällt mir nicht auf.
Schnell lassen wird die „Shack One“ hinter uns.
Unter mir knirschen die Steine, schon jetzt tun mir die Füße weh.
Husky gibt die Richtung vor; er hatte den Außenposten in einer Peilung von rund 300 Grad ausgemacht. Vor uns liegt ein riesiger Berg.
„Wollen wir da hoch oder dran vorbei?“
„Woher soll ich das wissen? Ich bin auch das erste Mal hier.“
Stumm laufen wir ein paar Minuten nebeneinander her.
Verdammt, ich blaffe ihn echt oft an. Es ist meine Angst, meine Überforderung. Husky tut eigentlich immer alles, um Sachen zum Guten zu wenden, er ist hilfsbereit und…
„…Husky, tut mir leid!“
Er winkt bloß ab.
Wir laufen durch weites Gelände, eine Art Geröllfeld. Den ersten Kilometer sollten wir bald geschafft haben.
„Eigentlich weiß ich gar nichts über dich“, beginnt Husky das Gespräch erneut. „Woher kommst du, bist du aus Stanton?“
Herrje, da haben wir einen ganzen Planeten auf Bikes umrundet und sind uns bisher doch fremd geblieben. Ich zögere kurz, das sind nicht Zeitpunkt und Ort für abgefahrene Geschichten – andererseits, vielleicht gerade hier und jetzt. Ich hole kurz Luft, dann erzähle ich von der Artemis, meinem 700-jährigen Kälteschlaf, meinen ersten Schritten in Stanton, wie ich Friedrich kennengelernt habe und anderes mehr.
Husky hört schweigend zu.
Ich kann mir sein Gesicht unter seinem Helm lebhaft vorstellen. Wie immer ende ich damit, dass ich ebenfalls kein Wort glauben würde, würde man mir so eine Geschichte auftischen. Wenigstens will er mich nicht gleich in die nächste Irrenanstalt einweisen lassen, wie damals Zero.
Mittlerweile haben wir einen guten Schritt drauf – nicht zu schnell und nicht zu langsam. Die Landschaft wird abwechslungsreicher, Canyons liegen vor uns, ein großer Berg ragt links von uns auf.
„Wenn wir da rauf klettern, können wir uns einen Überblick verschaffen.“
„Einverstanden.“
Wir kraxeln den Berg empor, doch von der vermeintlichen Station ist weit und breit nichts zu sehen.
Husky checkt sein Mobiglas.
„Die Richtung stimmt noch, das Signal ist auch noch da.“
„Dann weiter.“
Wir entdecken wilde Felsformationen und ich lasse es mir nicht nehmen, drauf zu klettern. Dann stolpern wir sogar über verdorrtes, altes Buschwerk, ohne Blätter zwar, aber dennoch ein Beweis dafür, dass auf Fuego mal etwas gewachsen ist. Zeugnisse, einer besseren, längst vergangenen Zeit.
„Jetzt bist du dran“, sage ich.
„Wie?“
„Deine Geschichte.“
Husky blickt in die Ferne, als müsste er sich erst sammeln.
„Ich stamme aus Ellis, wie meine gesamte Familie, Heimat des Murray Cups. Bin dann gemeinsam mit meinem Großvater nach Stanton gekommen, nachdem die Geschäfte von Nordlicht in Ellis wegen der ganzen Billigkonkurrenz nicht mehr gut liefen. Meine Rennkarriere war eh vorbei.“
„Wie? Bist du mal beim Cup mitgeflogen.“
„Ja, ich hatte es bis in die Finalläufe geschafft.“
„Wow!“
„War das Highlight meines bisherigen Lebens…“
„Wieso?“
„Ich hatte einen Hirntumor. Wurde operiert.“
„Krass. Und Deine Eltern?“
Husky zögert.
„Meine Mutter wurde bei uns zu Hause erschossen, von einem Polizisten. Sie hatte angeblich seinen Kollegen angegriffen. Ich glaube aber kein Wort.“
„Verstehe ich nicht. Warum war denn…“
„…ich hatte Mist gebaut und einen Unfall verursacht. Ist alles meine Schuld.“
Ich bin still – das ist wahrscheinlich das erste Mal seit Ewigkeiten, dass Husky sein Innerstes nach außen kehrt. Man weiß eben erst, was hinter einer Person steckt, wenn man direkt danach fragt.
„…und dein Vater?“
„Der ist Biologe, immer noch in Ellis auf Noble. Wir haben aber nur wenig Kontakt. Hat das alles nicht verkraftet, meinen Tumor, den Tod meiner Mutter…“
Noble..irgendwas klingelt da bei mir.
„Ist ein toller Planet, alles voller Wald. Musst du mal hin.“
Ich schüttle das Gefühl ab.
„Klar, irgendwann bestimmt.“
Jedenfalls ist mir nun klar, warum Husky mit seinem Großvater nach Stanton gegangen ist.
„…und sag mal, Friedrich….“
„…was ist mit dem?“
„Der hat sich dann um dich gekümmert…“
„Ja, er nervt manchmal aber auch.“
„Mir ist er mittlerweile zum echten Freund geworden.“
„Ja, ja er ist nicht verkehrt. Aber er mischt sich ständig in Sachen ein, weil er glaubt, alles besser zu wissen.“
Inzwischen sind wir ein großes Stück vorangekommen, doch nun bleibt Husky plötzlich stehen.
„…zum Beispiel dieser Auftrag für die Advocacy, da hängt er auch schon wieder mit drin. Hat mich sogar überwachen lassen.“
„Echt, ich dachte…“
„Eben. Aber so ist er. Kann nicht aus seiner Haut.“
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Der Apfel ist nicht weit vom Stamm gefallen.
„Wie sieht eigentlich dein Sauerstoff aus?“
Ich blicke auf die Anzeige.
„Ist bei rund 20 Prozent.“
„Was? Ach du Scheiße!“
„Wieso?“
„Na, weil wir das nie schaffen bis zum Außenposten.“
Verflucht, wir haben uns verquatscht, aus dem Blick verloren, dass wir die ganze Zeit in Lebensgefahr schweben.
„Wieviel hast du noch?“
„Zirka 40 Prozent.“
Klar, meine Klettereien – nun fordern sie ihren Tribut.
Ich laufe langsamer, um Sauerstoff zu sparen. Kommt es mir nur so vor oder brennt die Sonne gleich noch gnadenloser? Jetzt, da ich die Anzeige beobachte, scheint der Pegel auch noch schneller zu sinken. Mir wird klar, das werde ich tatsächlich nicht schaffen.
Husky beschleunigt seinen Schritt, in der Hoffnung, Hilfe zu finden. Bald ist er weit voraus. Ich schleppe mich hinterher, bis es irgendwann nicht mehr geht. Die letzten Prozent Sauerstoff verflüchtigen sich geradezu.
Mein Verstand setzt aus, der Blick wird unscharf.
Ich höre, wie Husky an irgendwelchen Steilwänden verzweifelt, offenbar direkt vor dem Außenposten. Zu allem Überfluss wird dort auch noch geschossen. Vielleicht lässt sich die Luft ja doch atmen…
„Husky…Husky…“
Ich klicke den Verschluss meines Helms auf.
Sofort wird alles schwarz.
Unter Feinden
Ich öffne langsam die Augen – mit brummendem Schädel und als hätte ich unter einem Betäubungsmittel gestanden. Ich lehne an einer Wand, vom Himmel brennt die Sonne herab.
Offenbar bin ich nicht in der Steinwüste Fuegos gestorben.
„Husky..?“
„Hier“, kommt es leise zurück.
Er liegt direkt neben mir.
Es knistert im Funk unserer Helme.
„Endlich aufgewacht? Los, auf die Beine!“
„Wer ist da?“
Die Worte kommen mir nur schwer über die Lippen.
„Mein Name ist Cliff.“
„Cliff…?“
„Ja, ich bin ein Headhunter und ich sage euch jetzt, was ihr tun werdet.“
„Ein Head…?“
„…ihr seid kurz vor unserem Außenposten zusammengebrochen. Wir haben Euch gerettet. Und dafür erwarten wir nun als Gegenleistung eine Kleinigkeit…“
„Und zwar?“
„Ihr helft uns, diesen Außenposten zurückzuerobern. Er wurde von den Frontier Fighters übernommen, unseren Feinden.“
„Was…wir sollen…?“
„Seid Ihr schwer von Begriff? Ihr sollt euch ein paar Waffen schnappen und für uns kämpfen!“
Husky und ich blicken uns geschockt und verwirrt an.
„Vergesst es! Ihr habt uns verschleppt und…“
„Keine Diskussion!“, unterbricht mich Cliff hart. „Ihr habt nur diese eine Chance.“
Ich rapple mich mühselig hoch und blicke mich um.
Ich habe keine Ahnung wo wir sind. In jedem Falle sind wir auf einem fremden Planeten oder Mond, zumindest sieht es komplett anders aus als auf Fuego.
„Kämpft und ihr seid wieder frei. Oder sterbt gleich. Ein paar Scharfschützen zielen auf euch.“
Langsam drehe ich den Kopf, doch es ist nichts zu sehen.
Husky nickt schwach.
„Okay“, sage ich resignierend – was bleibt uns schon anderes übrig.
„Wir schauen, was wir tun können, bevor ihr uns abknallt wie Hasen.“
Es ist nur ein kleiner Außenposten. Es gibt ein paar Gebäude, eine Solaranlage, einen großen Turm – vielleicht ist es machbar.
Innerlich koche ich vor Wut – Katastrophe folgt auf Katastrophe in Pyro.
Langsam schleichen wir voran. Wir sind offenbar nicht die ersten, überall liegen Leichen, Husky checkt die verstreuten Waffen, doch die meisten haben leere Magazine. Weiß der Himmel, was hier schon passiert ist. Erst jetzt fällt mir auf, dass uns die Headhunters in andere Undersuits gesteckt haben.
Ich fluche vor mich hin.
„Ich habe eine Waffe gefunden“, meldet Husky.
Nur ein paar Momente später stolpere ich ebenfalls über ein Maschinengewehr, in dem noch ein paar Schuss stecken.
„Ich auch.“
Wir rücken weiter vor, doch wir entdecken keinen dieser so genannten Frontier Fighters.
„Ich habe da eben was gehört….ein Tier oder…“, sagt Husky und bleibt stehen.
„Wo?“
Ich lausche in die Umgebung hinein.
Nichts.
Husky hört offenbar schon Stimmen.
Da…jetzt höre ich es auch.
Es ist ein tiefes Grollen; es klingt brutal und gefährlich.
Vorsichtig luge ich um die Ecke eines Gebäudes, als das Grollen von einer Sekunde zur nächsten extrem laut wird – dann sehe ich es. Ein Kopion, eine Killermaschine auf vier Beinen. Sie hat ihren Kopf tief gesenkt, ist in Angriffsstellung, hat offenbar unsere Witterung aufgenommen.
Plötzlich springt das Vieh aus dem Stand mehrere Meter auf mich zu. Ich reiße instinktiv das Gewehr hoch, drücke ab und treffe das Monster tödlich. Direkt vor mir bricht es zusammen. Husky schreit unterdessen, ein zweites dieser Biester ist hinter ihm her. Ich springe in den Stand und nehme die Beine in die Hand.
„Weg hier!“, kreische ich während sich eines der Viecher in meinem rechten Bein festbeisst. Ich falle vornüber hin und trete in Panik auf das Tier ein, bis es von mir ablässt.
„Husky…Husky..?“
„Hier lang, Bru!“
Gemeinsam rennen wir mehr schlecht als recht einen Hügel hoch, nur weg aus dem Außenposten.
Hinter einem großen Felsen klappen wir schließlich zusammen.
„Leute, Leute…“, kommt es über Funk.
„Ihr könnt uns mal“, brülle ich den Headhunter an, der sich „Cliff“ nennt.
Husky packt mich am Arm.
Stumm zeigt er zur Sonne – sie geht bald unter.
„Vielleicht haben wir im Dunkeln eine bessere Chance“, flüstert er.
Ich schüttle fix und fertig den Kopf.
Was auch immer hier läuft, ich will damit nichts zu tun haben.
Husky macht ein paar Handzeichen, bewegt stumm die Lippen.
Offenbar will er mir etwas sagen, ohne dass es Cliff mitbekommt.
„Wir probieren es nachher noch einmal“, sage ich schließlich und gebe auf.
„Okay“, kommt von Cliff knapp zurück. „Ruht euch aus.“
Ich schließe die Augen, die Zeit zieht sich wie Kaugummi.
Nachdem die Sonne hinter dem Horizont untergangen ist, schleichen wir ein zweites Mal in die Siedlung – vorsichtiger als beim ersten Mal, jetzt da wir wissen, dass neben menschlichen Gegnern auch noch beißwütige, abgerichtete Monster hinter jeder Ecke lauern können.
Ich finde eine weitere Waffe – ein Scharfschützengewehr.
Mehrfach blicke ich durch den Sucher, doch ich sehe gar nichts.
Zero wüsste, wie man damit umgeht.
Irgendwas mache ich falsch. Ich fummle daran herum, als ich an den Auslöser komme – ein Schuss peitscht durch die Nacht.
„Verdammt.“
Sofort richten sich Scheinwerfer auf uns. Wir rennen um unser Leben, das Gewehr fliegt mir aus der Hand. Keine Ahnung, warum es auf diesem Planeten so dunkel ist, aber nach wenigen Metern sehe gar nichts mehr.
„Husky…?“
„Hier drüben.“
Ich kann ihn nicht ausmachen. Panisch versuche ich, ihn zu entdecken und ich komme mir mit meinem sinnlosen Gerenne vor, wie ein Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat.
Schließlich fallen weitere Schüsse.
„Aaah…Bru. Sie haben mich…“
Er bricht mitten im Satz ab, dann sehe ich, wie er den großen Aussichtsturm erklettert, ich drücke mich unterdessen an die Wand eines Gebäudes direkt davor.
Mir wird klar: Auch dieser zweite Versuch wird scheitern.
„Cliff, wir…“
„Was seid ihr denn für totale Versager?!“, herrscht er mich an.
Meine Angst schlägt in blanke Wut um.
„Ihr verschleppt uns in ein Kriegsgebiet, gebt uns nicht mal eine Waffe und wir sollen…“
„…da kommt ein Schiff“, unterbricht Husky.
Ich stöhne – auch das noch.
Ohne Umschweife eröffnet es das Feuer und legt am Boden Kopions wie Soldaten reihenweise um. Hier läuft wirklich was ganz Großes, mindestens ein handfester Bandenkrieg – und wir geraten immer tiefer mitten hinein. Husky macht sich auf dem Turm unterdessen so klein wie möglich und entgeht dem Blick des Piloten. Schließlich hat der Angreifer fast den gesamten Außenposten ins Jenseits befördert. Husky klettert im Schutz der Dunkelheit wieder herunter.
Atemlos stehen wir uns gegenüber.
„Wo ist unser Schiff?“, frage ich in mein Mikro, erwarte aber eigentlich keine Antwort.
„Nicht weit von hier“, antwortet Cliff.
Offenbar hat er es satt, sich mit uns Nieten abzugeben und will uns loswerden.
„Lass uns hier so schnell wie möglich weg.“
Husky und ich verlassen den Außenposten in stockdunkler Nacht und laufen aufs Geratewohl los. Wir stolpern vorbei an kahlen Bäumen und riesigen Felsbrocken, während über uns ein blutrotes Firmament allenfalls ein bisschen Licht spendet.
Irgendwann sehe ich in der Ferne ein kleines Funkeln.
„Da ist sie.“
Wir beschleunigen unseren Schritt, dann haben wir die „Shack One“ erreicht. Ich stürme in das Schiff, reiße mir den Helm vom Kopf, schleudere ihn wutentbrannt in die Ecke. Husky klettert unterdessen flugs ins Cockpit und fährt die Systeme hoch.
„Scheint noch alles zu funktionieren.“
„Dann Abflug. Egal wohin“, sagte ich kurz angebunden, als sich Cliff erneut meldet.
„Nicht so schnell, Freunde.“
„Was noch?“
„Unsere Aufklärung zeigt, dass sich im Außenposten noch ein, zwei Fighter befinden. Erledigt sie aus der Luft mit euren Bordgeschützen. Das solltet ihr doch wohl hinbekommen.“
„Kommt nicht in Frage“, nimmt mir Husky die Worte aus dem Mund.
„Macht euren Scheiß alleine!“
Ich höre, wie Cliff lächelt.
„Gut, dann empfehle ich mal einen Blick auf den Monitor eures Powerplants.“
Wir stehen genervt auf und laufen nach hinten. Dann blicken wir fassungslos auf den Monitor, auf dem ein Countdown herunterzählt.
„Was ist das nun wieder?“
„Wir haben in euer Schiff einen Sprengsatz gebaut.“
„Wie bitte!?“
„Ruhig“, unterbricht mich Cliff, „du verlierst ganz schön schnell die Nerven, oder?“
„Was bildet Ihr euch …?“
„…folgendes“, sagt Cliff mit kalter Stimme, „wir haben einen zweiten Auftrag für euch. Stellt euch besser an und wir nennen euch den Code zur Entschärfung. Dann könnt ihr eurer Wege ziehen. In Pyro werden eben auf diese Weise Geschäfte gemacht…“
Mein Mobiglas piept, ich habe den Auftrag erhalten.
Wir sollen in einem anderen Außenposten irgendwelche Generatoren abschalten.
„Wie lange haben wir dafür Zeit?“
„48 Stunden. Cliff over.“
„Hallo…?“
Doch der Funk ist tot.
Wir kehren ins Cockpit zurück und Husky zieht das Schiff an den Himmel. Ich checke unterdessen, was es mit den verdammten Gruppen Pyros eigentlich auf sich hat. Ich lese: Letztlich sind die Headhunter nichts anderes als Kriminelle, ohne größere Agenda. Gefährlicher kommen mir da schon die Frontier Fighters vor, sie scheinen echte Extremisten und Fanatiker zu sein: Wie es aussieht, wollen sie Pyro komplett auslöschen, um dann ganz von vorn anzufangen.
Mich fröstelt.
Ich erzähle Husky von meinen Überlegungen, er nickt stumm. Was gibt es zu diesem ganzen Wahnsinn auch schon groß zu sagen?
„Ich habe da vorn ein Felsplateau entdeckt, da könnten wir sicher runtergehen.“
Gekonnt landet Husky das Schiff auf wenigen Metern. Dann sehen wir erneut einen wunderschönen Sonnenaufgang, der den ganzen Planeten blutrot einfärbt.
Blut, das ist die Farbe des Krieges.
Und er zieht mit aller Brutalität am Horizont herauf.
Tödliches Land
„Ich sehe da Lichter…Moment…ah, das sieht nach Jacksons Swap aus.“
Husky schließt wieder die Karte.
„…da könnten wir runtergehen und uns noch mit ein paar Klamotten und Waffen eindecken. Gehört offenbar den Citizens for Pyro. Sollte also halbwegs sicher sein.“
„Klar, ist wahrscheinlich keine schlechte Idee.“
Ich höre Husky nur mit halbem Ohr zu.
Mittlerweile wissen wir, auf welchem Planeten wir sind – auf Monox: Er hat ein gemäßigtes Klima und war kurz nach seiner Entdeckung als geeigneter Kandidat für Terraforming eingestuft worden. Die Nähe zur Sonne des Systems machte ihn jedoch für Menschen gefährlich, und man weigerte sich, ihn für allgemeine Besiedelung freizugeben. Stattdessen wurden seine natürlichen Ressourcen ausgebeutet, bis kaum noch etwas übrig war, bis ihn schließlich Geächtete eroberten und sich die letzten Konzerne im 26. Jahrhundert zurückzogen.
Seitdem ist er mehr oder weniger sich selbst überlassen.
Wollte nicht auch Zero nach Monox? Ich checke meine alten Nachrichten – ja, irgendwo auf dieser kohlenmonoxid-verseuchten Kugel treibt er sich rum. Ich rutsche auf meinem Stuhl umher. Ich schüttele fassungslos den Kopf…da bauen uns die Headunter doch glatt einen Sprengsatz unter unseren Hintern ein, um uns so gefügig zu machen…
Wir sind ein Spielball unbekannter Mächte geworden.
Ich gehe tiefer und bringe die „Shack One“ kurz vor dem Eingang zur Siedlung auf einem freien Fleckchen runter – so langsam und vorsichtig wie möglich: Sprengsätze hassen Erschütterungen. Wir brauchen ein paar neue Klamotten für die geplante Infiltration, sonst klebt unser Gesicht nach dem Auftrag für die Headhunter auf jedem Plakat in Pyro und auf uns wird Kopfgeld ausgesetzt, von dem wir träumen.
Ich drücke mich aus dem Sitz hoch und laufe ins Heck des Schiffs. Hinter der Abdeckung tickt unerbittlich der Countdown. Ich halte kurz inne. Klar, wenn man ein paar Freiwillige hat, die man an die Front schicken kann, warum sollte man dann die eigenen Leute riskieren?
Husky und ich laufen durch den Ort. Er ist weitgehend verlassen, obwohl alle Lichter brennen.
„Wahrscheinlichhaben sie sich irgendwo versteckt, vielleicht in einer Höhle?“
„Möglich“, sage ich, „es gibt in Pyro ja derzeit auch allen Grund dazu.“
Wir laufen an den typischen Steingebäuden vorbei, die Siedlung liegt in einem kleinen Tal.
Ich blicke mich um – es ist recht idyllisch.
Warum nur kämpfen die verschiedenen Gruppen so verbissen um dieses System? Ich versuche mir auf all dies einen Reim zu machen, gleiche dafür Sternenkarte und Spectrum-Einträge ab. Kurzum: Pyro ist einerseits ein anarchistisches Gebiet, ein Flickenteppich aus Syndikaten, paramilitärischen Gruppen, Gangs und terroristischen Organisationen. Es verfügt jedoch auch über gleich drei entscheidende Sprungpunkte nach Stanton, Terra und Castra. Damit hat es wiederum eine riesige potenzielle Bedeutung für die UEE.
Anders gesagt: Pyro ist der Stachel im Fleisch. Vielleicht ist es deshalb so heiß umkämpft, weil es eigentlich ein Schlüsselsystem ist – und vielleicht wird hier über die Zukunft der UEE weit über Pyro selbst hinaus entschieden…
Verdammt, wahrscheinlich gibt es viele Motivationen von denen wir keinerlei Ahnung haben. Auch die Citizens for Pyro sind nicht nur Wohltäter: Sie wollen ebenfalls rücksichtslos Bedrohungen eliminieren, sie wollen kolonisieren und sie wollen, dass die UEE in Pyro Fuß fasst. Aber nicht jeder will dauerhaft unter der Fuchtel einer gigantischen Organisation leben…
„Bru, ich habe was Interessantes gefunden.“
Ich laufe zu Husky. Er steckt in einer mönchsgleichen Kutte.
„Nett.“
„Ist mal was anderes.“
Ich nehme auch eine der Kutten, wir decken uns mit ein paar Handfeuerwaffen ein, dann machen wir uns auf dem Rückweg zum Schiff. Keiner von uns hat Lust, erneut mit einer Maschinenpistole um sich zu schießen. Wir sind einfach keine Killer und wir wollen auch keine werden, Pyro hin oder her. Irgendwann ist von der eigenen Seele sonst nicht mehr viel übrig.
Ich bin ein paar hundert Meter hinter Husky, der bereits das Schiff hochfährt.
„Schneller Bru, über uns wird geschossen.“
„Okay.“
Vor Schreck laufe ich jedoch in die falsche Richtung.
„Bru, verdammt noch eins…“
„Ja, ja, jetzt hab‘ ich‘s gesehen.“
Ich renne zur „Shack One“ – gerade noch rechtzeitig, denn mittlerweile hat uns eine Hornet entdeckt und aufgeschaltet. Laserschüsse prasseln auf das Schiff ein. Husky legt einen Kavaliersstart hin und bringt die Zeus nur wenige Meter über dem Boden auf Höchstgeschwindigkeit. Ich halte mich krampfhaft fest, während er das Schiff nach back- und steuerbord schwenkt und es ihm auf diese Weise gelingt, den meisten Schüssen auszuweichen.
„Ich bin beeindruckt.“
„Schnapp dir lieber das Turret.“
Die Haube der Kutte rutscht mir immer wieder ins Gesicht, sodass ich sie mir schließlich vom Kopf reiße. Gemeinsam geben wir unseren Verfolgern Zunder. Wir schalten zwei Schiffe aus, dann sind wir auf und davon und Husky zieht die „Shack One“ im Steilflug an den Himmel.
Als wir im Orbit sind, atmen wir tief durch.
„Lass uns noch mal den Auftrag checken.“
Ich rufe ihn mir aufs Mobiglas.
Wie es aussieht, überfallen die Frontier Fighters Konvois und übernehmen Asteroidenbasen, um Pyro so nach und nach zu übernehmen – zumindest ist das die Sichtweise der Headhunters. Damit das nicht gelingt, sollen wir Generatoren auf den Basen ausschalten, um die Stromversorgung zu unterbrechen.
Ich schließe das Mobiglas wieder, es ist ein pures Selbstmord-Kommando – was, wenn wir doch einfach versuchen zu fliehen? Schnell verwerfe ich den Gedanken wieder. Nein, wir würden nicht mal bis zum Sprungpunkt kommen.
Nach kurzem Sprung erreichen wir das Asteroidenfeld. Gezackte, riesige Felsformationen treiben durch das Nichts. Es sieht aus, als wäre das Weltall selbst zerbrochen. Wir reduzieren das Tempo, drehen ein paar Runden, um zu checken, dass nicht irgendwo eine weitere böse Überraschung wartet, dann kommt die Basis auch schon in Sicht.
„Sieht verlassen aus“, sage ich. „Kannst du einen Eingang erkennen?“
Husky schüttelt den Kopf.
Wir cruisen um die Basis, Entladungen zucken aus Kondensatoren – vor uns breitet sich ein unheimliches Szenario aus. Es ist Pyro von seiner düstersten Seite. Schließlich entdecken wir ein verdrecktes Landepad, hinter einem riesigen Müllhaufen flackert ein Licht.
„…vielleicht geht es dort hinein?“
Wir landen und nur wenige Minuten später krabble ich durch Schmutz und Dreck. Dann stehe ich vor einem Fahrstuhl, der jedoch den Dienst versagt.
„…ist zwar Strom drauf, funktioniert aber nicht.“
Ich krauche zurück.
„Suchen wir weiter.“
Wir heben wieder ab, kurz darauf werden wir beschossen – die Turrets der Station sind zum Leben erwacht und haben uns als Feind ausgemacht. Wir umkreisen weiter den Asteroiden, spielen mehr oder weniger Katz und Maus mit den Geschützen.
„So wird das nichts. Wir müssen raus in den EVA und näher ran“, sagt Husky.
„Okay.“
Im Schatten des Asteroiden nähern wir uns ein weiteres Mal der Station, ich schwebe vorbei an riesigen Trägern und Konstruktionen. Wie immer bin ich überwältigt von der ungeheuren Schaffenskraft des Menschen und seiner Fähigkeit, sich selbst in lebensfeindlichster Umgebung zu behaupten – nur um dann alles wieder niederzureißen, weil man einem anderen nicht das Schwarze unterm Fingernagel gönnt.
„Ich habe den Eingang gefunden“, sagt Husky.
Ich fliege zu ihm hinüber. Wir hangeln uns in die Luftschleuse, dann sind wir im Innern der Station und zücken unsere Waffen.
„Und jetzt?“
„Suchen wir die Generatoren.“
Im Hintergrund hören wir Stimmen – die Frontier Fighters.
Geduckt arbeiten wir uns vor, dann sehen wir einen Generator – und schießen drauf. Glas zersplittert, mit einem leisen Knall gibt er seinen Geist auf.
„Einen haben wir.“
Wir schleichen weiter und stolpern fast in eine ganze Gruppe Fighters.
Schüsse fallen, sie haben uns entdeckt.
„Zurück, schnell!“
Wir rutschen eine Schräge hinab und befinden uns in einem völlig verdreckten Geheimgang unterhalb der Stationsebene. Giftige Dämpfe steigen mir in die Nase. Ich spüre, wie mir schwummrig wird.
„Husky..?“
Er sichert wenige Meter von mir entfernt den Gang.
„…mir geht es gar nicht gut…“
In der Kiste finde ich etwas zu trinken.
Ich nehme ein paar Schlucke abgestandenes, fauliges Wasser – doch es wird nicht besser.
„Verdammt, was ist das denn?“
Mir werden die Knie weich, dann knicken sie mir weg.
„Husky…ich braucht einen…Medi…pen…“
Dann verliere ich das Bewusstsein.
*****
Als ich wieder zur mir komme, bin ich an Bord der „Shack One“.
„Husky…wie bin ich…?“
Er steht direkt neben meinem Bett.
„Hab‘ dich hergeschleppt.“
Er blickt mich intensiv an.
„Du warst völlig weggetreten. Ich hatte sogar noch einen Medipen besorgt. Half nichts. Du hast da unten irgendwas ganz Fieses eingeatmet.“
„Wie lange war ich weg?“
„Eine Stunde.“
„Die Generatoren?“
„Ich bin ewig da rumgeschlichen, habe gesehen, dass da noch andere waren, die auf die Fighter schossen. Wir waren nicht die einzigen.“
Er macht eine Pause.
„Das gab mir die Möglichkeit, dich da rauszuholen.“
„Also…alles erledigt?“
„Yep.“
„Und der Typ von den Headhuntern….Cliff?“
„Hat sich gemeldet…wie es aussieht, hatten sie sich doppelt abgesichert. Sagten, dass das eine Art Test gewesen sei, dass sie immer gute Leute suchen, aber wir…na ja, sie haben jedenfalls kein Interesse mehr an uns.“
„…und der Sprengsatz?“
„Gibt keinen. Alles nur Fake. Hat Cliff zumindest gesagt. Ich denke es gibt für ihn auch keinen Grund zu lügen.“
Ich spüre, wie ich stocksauer werde, das Adrenalin vertreibt die Müdigkeit.
„So ein verdammter…“
„Ruhig. Seien wir doch froh…habe Cliff auch schon meine Meinung gesagt.“
„Pffft..und jetzt?“
„Was schon? Ab nach Hause. In Pyro gibt’s für uns nichts mehr zu tun.“
Ich schwinge mich aus dem Bett.
„Okay.“
Ich freue mich darauf, nach diesem Horrortrip nach Hause zurückzukehren. Gemeinsam laufen wir ins Cockpit. Killer wird schon mit den Füßen scharren, ich bin schon viel zu lange weg. Husky aktiviert den Sprungantrieb, ich relaxe für einen Moment, als mein Mobiglas piept.
Ich habe keine Lust nachzusehen, schließe die Augen.
„Bru, hast du die Nachricht auch bekommen?“
„Hm…ja. Moment.“
„Das gibt’s doch nicht…wir hatten wieder mal die richtige Eingebung.“
So langsam setzt sich ein Bild zusammen.
Nur ein paar Sekunden später werden wir nach vorn geschleudert – vor uns schwebt das Gasriese Pyro V.
Husky entgleisen die Gesichtszüge.
„Ich dachte, der Sprungantrieb…“
„Ich probiere es noch einmal.“
Noch einmal gibt Husky die Koordinaten des Sprungpunkts ein – mich beschleicht ein ganz mieses Gefühl.
Als wir erneut aus dem Quantum fallen, schwebt vor uns wieder nur ein unbekannter Mond.
Husky starrt stumm nach vorn.
Pyro will uns nicht loslassen.
Brüder
Wir begreifen es nicht. Mal funktioniert der Sprungantrieb, mal nicht – aber wer versteht schon wirklich, was in den Tiefen der Bordelektronik eines Raumschiffes vor sich geht? Tatsache ist: Der Virus scheint immer noch aktiv zu sein.
Stanton ist immer noch unendlich weit entfernt.
Husky checkt die Karte.
„Ich glaube, das vor uns ist Vuur.“
Ein weiterer Mond, von dem ich noch nie gehört habe.
Er liegt komplett im Dunkeln.
Ich schaue im Spectrum nach.
Vuur ist der sechste Mond des Gasriesen Pyro V im Pyro-System. Dank eines verstärkten Treibhauseffekts in seiner dichten Kohlendioxid-Atmosphäre ist er für einen so weit von der Sonne entfernten Mond ungewöhnlich warm. Sein kohlenstoffreicher Boden begünstigt Vegetationsformen, die kristallinen Kohlenstoff in ihren Grundstrukturen nutzen. Bevor das System Anfang des 27. Jahrhunderts von Gesetzlosen übernommen wurde, waren diese Pflanzen ein beliebtes Forschungsobjekt unter Botanikern.
Okay, das klingt zumindest nicht ganz so abweisend.
„Irgendwelche Lebenszeichen?“
Husky scannt die Oberfläche.
„Nein, er ist komplett unbewohnt.“
Verdammt, wir brauchen dringend jemanden mit Ahnung, einen, der das Schiff reparieren kann.
„Moment, da ist was, eine ganz schwache Signatur…“
„Das sollten wir uns vielleicht genauer anschauen.“
Husky bringt die „Shack One“ in die Atmosphäre des unbekannten Mondes und bald fliegen wir über eine Oberfläche, die irgendwie gesprenkelt aussieht, so als hätte der ganze Mond Ausschlag.
„Ich war schon an schöneren Orten.“
„Ich auch.“
Draußen ist es stockfinstere Nacht.
Husky versucht die Scheinwerfer einzuschalten – ohne Erfolg.
„Es sieht so aus, als würde der Virus nach und nach die Kontrolle über das ganze Schiff übernehmen.“
„Sag doch so was nicht.“
In absoluter Dunkelheit sucht Husky nach der Signalquelle.
„Mist, ich sehe rein gar nichts.“
Schließlich landet er das Schiff vorsichtig auf einer halbwegs ebenen Fläche.
„Im Umkreis von 50 Metern müsste irgendwas sein.“
Ich laufe ins Heck des Schiffs – hätten wir doch nur etwas anständiges anzuziehen…mit einem undichten Undersuit werden wir auf diesem Mond nicht sonderlich weit kommen. Ich reiße alle Spinds auf und traue meinen Augen nicht: Im hinteren hängen brav unsere Klamotten, die wir aus Stanton mitgenommen hatten – volle Ausrüstung, Helme, frische Undersuits, Rucksäcke. Das Bodenpersonal am Pyro-Jumppoint hatte sie sauber verstaut, statt nur die Kisten anzuliefern.
„Husky, ich habe hier was gefunden.“
Er kommt nach hinten und ist genauso freudig überrascht wie ich.
„Cool. Das hätten wir mal eher wissen sollen… aber dann kann ja jetzt nichts mehr schief gehen.“
Wir ziehen uns um, dann verlassen wir das Schiff.
Hinter uns kriecht der Gasriese Pyro V am Horizont empor.
Wir stolpern vorbei an den kleinen Pickeln des Mondes, die aussehen, als hätte er eine Krankheit, dann nähern wir uns der Signalquelle und blicken schließlich hinab in einen Schlund.
„…da kommt das Signal her?!“
„Yep.“
„Vielleicht von irgendwelchen Höhlenforschern.“
„Möglich.“
„Komm, lass uns mal rein.“
Mir kommt der Eingang alles andere als geheuer vor. Er sieht feucht und rutschig aus, passend zum sonstigen Erscheinungsbild des Mondes.
„Ich will da lieber nicht rein.“
„Unsinn, komm jetzt!“
Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, dann hat uns der Mond verschluckt. Mir schnürt sich die Kehle zusammen. Ich habe das Gefühl, in ein riesiges Monster hineinzulaufen, der Gang erinnert an eine Kehle, alles wirkt organisch, gewachsen – so, als könnte es sich im nächsten Moment zusammenziehen – und uns auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen.
„Lass uns nachsehen, ob hier jemand ist, dann wieder so schnell wie möglich raus.“
Mir zittern die Knie, während ich Schritt vor Schritt setze. Plötzlich weitet sich der Gang und wir stehen in einer riesigen Tropfsteinhöhle.
Meine Angst weicht schlagartig Ehrfurcht.
Riesige Stalaktiten hängen von der Decke, Stalagmiten ragen weit hinauf.
Irgendwo plätschert Wasser, es tropft von der Decke. Es muss Millionen Jahre gedauert haben, um diese unglaublichen Formationen zu schaffen.
„Wahnsinn!“
Ich leuchte mit meiner Helmlampe durch den weiten Raum, der Lichtstrahl lässt die Wände plastisch erscheinen, bringt Konturen und Details hervor.
„Wie in einem Märchenland.“
Wir laufen über Stege und Brücken, blicken in Abgründe, waten durch kleine Seen, lassen uns ganz von den unwirklichen Bildern gefangen nehmen. Immer wieder bleiben wir staunend stehen, saugen dieses Wunder der Natur in uns auf, geben uns ganz unserer kindlichen Neugier hin. Alle paar Meter gabeln sich Wege, bieten sich neue Ein- und Ausblicke.
Es ist in der Tat atemberaubend.
„Einfach phantastisch.“
„Ja, man hat keine Worte dafür.“
Angesichts dieser Unendlichkeit, wirkt die eigene menschliche Lebensspanne plötzlich wie ein Wimpernschlag.
Nach und nach akklimatisieren wir uns.
Husky läuft besonders nah an einen Abgrund, um hinab zu blicken.
„Vorsichtig…“
„Ja, man soll nie so nah ran, weil man nie wissen kann….“, erwidert er in einem Singsang, der mir ganz unvermittelt einen Schauer über den Rücken jagt, mehr noch: der schlagartig einen Damm in mir brechen lässt.
„Was hast du eben gesagt…?“
„…dass man nie so nah ran soll.“
„Ich meine den ganzen Satz.“
Er wiederholt ihn noch einmal – und plötzlich bin ich ganz weit weg.
In meiner Kindheit.
Ich sitze auf einem Felsen, neben mir mein bester Freund. Wieder einmal war er ein zu großes Risiko eingegangen, wieder einmal hatte ich ihn im letzten Moment retten müssen, wieder einmal hatte ich beherzt zupacken und ihn dann maßregeln müssen. Und wieder einmal äffte er mich nach.
„Ja, man soll nie so nah ran, weil man nie wissen kann….“
Ich war vier Jahre älter, selbst noch ein Kind – aber alt genug, um zu wissen, wann etwas gefährlich wurde.
Ich blicke Husky an – auch in ihm arbeitet es.
Wir stehen beide mitten in einem kleinen unterirdischen See, die seichten Wellen werfen wilde Muster an die Wand, die die ganze Höhle eigenartig leuchten lassen. Es ist, als hätten wir hier unten, mitten in dieser Pracht der Natur, die Tür zu unseren Seelen geöffnet.
Ich versuche meine Gedanken zu sortieren.
„Noble – du hattest doch letztens über diesen Waldmond Noble gesprochen…“
„Ja, da waren wir oft zu Besuch und…“
„…ich auch. Mit meinem besten Freund, früher….“
Husky blickt mich verstört an – und ich ihn ebenso.
„Wir sind da immer rumgeklettert und dann war da eines Tages dieser Felsen…“
„…von dem ich plötzlich abgerutscht bin…“
„..und ich habe dich im letzten Moment gehalten“, bricht aus mir heraus.
Keiner von uns traut sich, das Offensichtliche auszusprechen, es ist, als würden wir einen Eiertanz aufführen.
Mir wird schwindelig – das kann nicht sein. Ich stamme aus dem 23. Jahrhundert, habe 700 Jahre in einer Kältekiste gelegen…ich bin erst vor wenigen Jahren in Stanton aufgetaucht. Wie können wir da gemeinsame Erinnerungen haben? Wer hat in unserem Gedächtnis herumgepfuscht – und warum? Was ist mit uns geschehen? Ja, Gehirne sind nur komplexe Maschinen, Synapsen lassen sich elektrisch stimulieren, vielleicht neu programmieren, Gefühle aber – die lassen sich nicht implantieren.
Und die übermannen uns hier unten in einer Weise, dass…
„…Brubäckerchen, so hat dich meine Mutter früher immer genannt.“
„…Gäbi, so habe ich dich genannt….und du mich Bruderchen.“
Unter meinem Anzug zittere ich.
Bruderchen. Bru.
Etwas in uns bricht sich Bahn – und wir sind machtlos dagegen. Oder lässt uns die ungewöhnliche Umgebung, die Höhle selbst, hier unten nur phantasieren und spielt uns einen Streich? Manifestieren sich durch die überwältigenden Sinneseindrücke vielleicht geheime Wünsche, sind Ausdruck einer Sehnsucht, die…nein, je länger wir hier unten stehen, umso klarer wird es uns: Wir kennen uns von früher.
Noble, gemeinsame Besuche auf den Tribünen beim Murray Cup, Friedrich, der ab und zu vobeischaute und dann wieder von einem Tag auf den anderen verschwand…in mir tauchen Bilder auf, Fetzen, Bruchstücke…vieles liegt im Nebel…und doch…
„Wie alt bist du jetzt?“
„36.“
„Ich bin 40.“
Es passt genau. Schließlich spreche ich es aus.
„Wir sind Brüder, Husky.“
Wir stehen da, im See und blicken uns an.
Ich fühle mich überwältigt, in mir toben die Gefühle.
Husky geht es ebenso.
„…vielleicht sollten wir langsam an die Oberfläche zurückkehren.“
Ich nicke geistesabwesend.
Erst jetzt merken wir, wie tief wir in die Höhle vorgedrungen sind – der Rückweg wird eine ordentliche Kletterpartie. Mehrfach müssen wir umkehren, weil wir in Sackgassen landen. So langsam geht der Sauerstoff zur Neige.
Jeder hängt seinen Gedanken nach. Fortan werden wir nicht mehr allein durchs Universum stolpern, fortan wird immer einer da sein, der zu einem gehört. Ich sinniere darüber, was das bedeutet…
„…da ist der Ausgang.“
Über Vuur geht soeben die Sonne auf.
Schweigend blicken wir hinaus in die Wüste.
„Ich habe Angst davor, was jetzt kommt“, sagt Husky.
„Ich nicht“, antworte ich. „Das ist Schicksal, dass wir uns wieder über den Weg gelaufen sind. Das Universum ist riesig. Normalerweise sieht man sich nie wieder.“
Wir beobachten, wie Pyros Sonne langsam den Mond von seiner Dunkelheit befreit.
Jeder Tag bringt was Neues.
„Jemand anderen haben wir da unten jedenfalls nicht gefunden. Nur uns.“
„Das Signal waren vielleicht nur Kriechströme im Wasser“, sagt Husky nüchtern, „ein natürliches Phänomen der Höhle, das ein ganz leichtes elektromagnetisches Feld erzeugt.“
Ich grinse.
Kriechströme, das passt in dem Moment so gar nicht zu meiner Stimmung.
Das aber bedeutet: Wir sind immer noch auf Vuur gestrandet.
Aber was kann uns jetzt schon noch passieren?
Journal-Eintrag 22 / 02 / 2955
Husky und ich sind Brüder – Stiefbrüder um genau zu sein. Nach der ersten Überraschung oder nach dem ersten Schock, wenn man so will, ist die Erkenntnis langsam gesackt. Es ist daher kein Wunder, dass wir uns so gut streiten können, aber doch immer wieder zusammenfinden. Wir werden beide immer unseren eigenen Weg gehen, aber auch immer miteinander verbunden bleiben. Mittlerweile hat mir Husky ein paar Daten zu seiner, zu unserer gemeinsamen Familienhistorie geschickt. Seitdem sind schließlich viele Jahre ins Land gegangen.
Offenbar haben wir vor allem die Jahre 2922 bis 2934 gemeinsam verbracht, im Ellis-System, unsere Kindheit und einen Teil unserer Jugend. Dann hatte Husky den Gehirntumor, wurde sehr krank und irgendwie müssen sich unsere Wege getrennt haben. Was danach geschah, liegt nach wie vor im Verborgenen. Aber: Wenn ich in Huskys Familie aufgewachsen bin, wo zum Henker sind dann meine wahren Eltern? Was ist mit meinen indianischen Wurzeln, meiner Mutter aus Kanada auf der Erde? Was ist mit meinem Kälteschlaf? Klar, Smith muss mir irgendeinen Scheiß erzählt haben. Trotzdem ist es wie ein Splitter. Himmel, es fühlt sich an, als hätte ich ein riesengroßes Loch im meinem Kopf. Und doch: Ein großes Puzzlestück ist nun an seine richtige Stelle gefallen.
Für eine Zeit war ich ein fester Teil der Winters-Familie, so viel steht fest. Ich werde Friedrich zur Rede stellen müssen. Ich habe das unbestimmte Gefühl, alles dreht sich um ihn.
Entführt
„Aufstehen! Sofort!“
Ich fühle mich benommen, kann nur schwer meine Augenlider heben.
Und mir tut alles weh.
„Was…wer zum Henker sind Sie…wo bin ich?“
„Maul halten!“
Ich bin augenscheinlich nicht mehr auf Vuur. Eben hatten Husky und ich uns noch über unsere gemeinsame Vergangenheit gefreut, hatten wir zufällig nicht weit entfernt einen Outpost entdeckt, diesen dann mit der „Shack One“ angesteuert, in der Hoffnung dort irgendwelche Ersatzteile zu finden und dann…
„…wo…wo…ist mein…Freund?“
Mir brummt der Schädel und mich fröstelt. Sie haben uns bis auf die Shorts alles abgenommen.
„Du bist hier nicht in der Position, Fragen zu stellen!“
Der Typ vor mir trägt abgerissene Klamotten und offenbar nutzt er einen Stimmenverzerrer.
Ich reibe mir die Schläfen, versuche wach zu werden.
„Ihr seid in unserer Gewalt, gehört ab sofort uns, kapiert?“
Ich stöhne – schon wieder!
„Wie heißt du?“
Die Stimme ist tief, fordernd, lässt keinen Widerspruch zu.
„Ich…“
„Schneller.“
Der Typ, offenbar wieder irgendein Pirat irgendeiner Gang, blickt mich unter seiner Maske abfällig an. Ich kann seine Verachtung geradezu spüren.
„John…John…Brubacker.“
„Gut, wir sind die XenoThreat.“
Mir läuft es eiskalt den Rücken runter – wir sind in die Fänge des schlimmsten Syndikats überhaupt geraten. In dem ganzen verfluchten System will einem offenbar jeder am Zeug flicken. So gut es geht, versuche ich dennoch cool zu bleiben.
Ich nicke leicht.
„Wir wollen wissen, was ihr in Pyro macht.“
Ich denke fieberhaft nach. Noch schlimmer kann es kaum kommen…also rücke ich mit der Sprache raus, erzähle – ohne Aruhsos Namen zu nennen – von einer Person, der wir etwas bringen wollten und dass wir soeben auf dem Heimweg gewesen seien.
„Was solltet ihr bringen?“, unterbricht mich der XenoThreat unwirsch.
Ich spüre, wie der XenoThreat die Geduld verliert.
„Daten. Wir wissen nicht genau, was für welche. Sie waren auf einem Stick und…“
„…wo ist dieser Stick jetzt?“
Ich zucke leicht mit den Schultern.
Der XenoThreat lässt es dabei bewenden.
„Wir haben euer Schiff, aber irgendwas stimmt damit nicht…“
„Ja, das liegt an…“
„Maul halten. Nur reden, wenn ich was frage!“
Die Machtverhältnisse sind klar. Wenn wir nicht kooperieren, schmeißen sie uns einfach aus der nächsten Luftschleuse.
„Was hattet ihr mit den Headhuntern zu schaffen?“
Ich brauche einen Moment, bevor ich verstehe, worauf der XenoThreat hinauswill.
„Ich…wir…nichts. Sie hatten uns genau wie ihr gefangen genommen und uns gezwungen, für sie Aufträge…“
Der XenoThreat winkt gelangweilt ab.
„…okay, vergiss es.“
Er hat sich anscheinend sein Bild gemacht, vielleicht weiß er auch, was er wissen wollte – keine Ahnung. Der XenoThreat dreht sich um und verlässt das Hub.
Nur eine Sekunde später bin ich allein.
Ich fluche leise vor mich hin.
„Scheiße verdammt!“
Ich sammle meine Gedanken und rufe mir ins Gedächtnis, was ich über die XenoThreat weiß: Sie sind eine brutale Verbrechergang, die vor allem für ihren gewalttätigen Hass auf Aliens bekannt ist. Man glaubt, dass die Gruppe hauptsächlich aus korrupten ehemaligen Mitgliedern des Militärs besteht. Schon öfter hatten sie Stanton und wohl auch Terra überfallen. Die Raids auf Stanton sind mir noch gut in Erinnerung, damals hatte ich mit Chhris Miller gemeinsam irgendwelche gefährlichen Güter gesichert, die ihnen nicht in die Hände fallen durften…nun sind wir ihnen selbst in die Finger geraten.
Ich denke an Husky – wahrscheinlich verhören sie ihn auch, vielleicht nur ein paar Meter entfernt.
Ich raffe mich auf. Ich muss hier raus!
Ich lausche, ob draußen noch jemand ist, dann mache ich mich an der Tür zu schaffen. Lose Kabel hängen aus dem Rahmen, vielleicht kann man sie irgendwie kurzschließen… Funken sprühen und plötzlich gleitet die Tür quietschend auf – ich habe mehr Glück als Verstand…
Es ist niemand zu sehen.
„Husky, Husky…?“
„Hier“, kommt es leise zurück.
Ich suche die einzelnen Hubs ab, dann höre ich Husky deutlich hinter einer benachbarten Tür.
„Warte, ich versuche, dich da raus zu holen.“
Erneut mache ich mich an der Tür zu schaffen, diesmal von außen – dass auf Pyros Stationen alles so kaputt ist, hat nun auch sein Gutes. Nach nur wenigen Minuten rattert auch seine Tür auf.
Wir schleichen um Ecken und durch ganze Berge von Dreck und Abfall.
„Los, erstmal hinter die nächste Deckung.“
„Okay.“
Auch Husky hat keine Klamotten mehr.
„Als erstes brauchen wir etwas zum Anziehen.“
„…haben sie dich auch verhört?“
Husky nickt.
„Haben mich nach Aruhso gefragt und mir Dämlichkeiten an den Kopf geworfen. Ich solle mir mal ein paar Eier wachsen lassen…ist das zu fassen?“
„Du hast doch hoffentlich nicht seinen Namen gesagt?“
Huskys Blick spricht Bände.
„Fuck.“
Ich hatte mich mit dem Stick verplappert, Husky mit Aruhsos Namen – wer weiß, was sie sich in ihren kranken Hirnen daraus zusammenreimen…
„Los, weiter. Wahrscheinlich kommen sie bald zurück.“
Wir schleichen durch Massen Unrat, alles ist noch verwahrloster als auf der ersten Pyro-Station auf der wir waren. Junkies kreuzen unseren Weg. Plötzlich höre ich, wie sich zwei hinter einer Ecke unterhalten – und dass sie „das Drecksloch Ruin-Station so schnell wie möglich wieder verlassen wollen.“ Shit, schlimmer hätte es nicht kommen können – Ruin-Station, das ist der Hauptstützpunkt der XenoThreat.
Wir arbeiten uns weiter vor. Immer wieder passieren wir Wachen, die mit Waffen im Anschlag Türen oder Gänge bewachen. Noch wird kein Alarm geschlagen. Entweder sind sich die XenoThreat ihrer Sache extrem sicher oder sie sind einfach noch nicht zurückgekehrt. Schließlich erreichen wir einen gut besuchten Markt. Auch wenn die XenoThreat die Station offenkundig kontrollieren, so scheint es doch so etwas wie ein normales Leben zu geben. Es gibt allerhand Shops mit allerlei Dingen, die er der Pirat von heute so zu schätzen weiß.
Wir kriechen hinter einen Klamottenladen und ich ziehe von einem Stand zwei Kutten und Hosen. In eine Ecke gequetscht ziehen wir uns an, dann richten wir uns auf. Es sind eine Menge Leute auf der verfallenen Raumstation unterwegs. Gut, so fallen wir wenigstens nicht sofort auf.
„Wir müssen hier so schnell runter wie möglich“, sage ich.
„Ich glaube, sie haben unser Schiff beschlagnahmt“, erwidert Husky.
„Ich weiß, versuchen müssen wir es trotzdem.“
Ab sofort bewegen wir uns wie normale Besucher über die Station – doch den geraden Weg zu den Hangars trauen wir uns nicht einzuschlagen. Sonst erwischen sie uns gleich.
„Vielleicht gibt es irgendwelche Geheimgänge. Die Station ist riesengroß.“
„Gute Idee.“
Wir irren ohne großen Plan quer über die Station, laufen treppauf und treppab, mischen uns immer wieder unter Menschentrauben, vermeiden Söldner und solche, die direkt nach den XenoThreat selbst aussehen, dann entdeckt Husky einen Gang, der etwas abseits liegt.
„Hier das sieht gut aus, jedenfalls ist hier wesentlich weniger los.“
Vor uns öffnet sich ein großes Schott.
„Wo es da wohl hingeht?“
„Keine Ahnung, aber wo eine Tür reinführt, führt auch eine wieder raus. Vielleicht ist das der Weg, nach dem wir suchen.“
„Probieren wir es aus.“
Kaum hat sich das Schott hinter uns geschlossen, beschleicht uns ein ganz mieses Gefühl.
Irgendwo in der Nähe fallen Schüsse.
Anscheinend sind wir in einen abgesperrten Bereich der Station geraten, eine Art Arena, um Aggressionen abzubauen, Fehden auszutragen, vielleicht, um so den Rest der Station halbwegs friedlich zu halten. Ich drehe mich um, um das Schott wieder zu öffnen, doch es gibt keinen Schalter.
„Scheiße, wir sind gefangen. Es gibt nur den Weg nach vorn.“
Husky schaut mich leichenblass an.
Wir sind solche Idioten, latschen irgendwo rein ohne Ahnung – und ohne Waffen. Einmal mehr wird mir klar: Wir sind völlig fehl am Platz in Pyro. Wir müssen dringend unsere Einstellung ändern. Wir ducken uns hinter eine Wand, dann wird auf uns auch schon angelegt und abgedrückt.
Nach ein paar Minuten wachen wir wieder auf.
„Sie haben uns nicht umgelegt.“
„Nein, nur betäubt.“
Dafür haben sie uns beklaut – Husky fehlt sein Oberteil, mir fehlen Hose und Schuhe.
„Was für Penner.“
„Wir haben die Klamotten auch geklaut.“
„Das heißt doch aber nicht, dass man sie zurückklauen darf.“
Wir stehen auf – wir sind immer noch in der Arena.
„Wir müssen einen Ausgang suchen.“
Halbbekleidet schleichen wir voran, dann entdeckt Husky eine Art Tunnel.
„Hier rein.“
Als nächstes krauchen wir durch die Eingeweide der Station, ich ohne Hose und Schuhe – es ist entwürdigend und demütigend – und doch unser kleinstes Problem.
Myriaden Keime raspeln an meinen Beinen.
„Habe ich schon gesagt, dass ich Ruin-Station hasse?“
Husky grinst.
„Stell dich nicht so an. Mission Hose ist soeben gestartet.“
Es wird nicht mehr lange dauern und unser Sarkasmus wird in Wut umschlagen. Ich habe von Pyro jedenfalls gestrichen die Schnauze voll. Der Gang endet schließlich in einem gigantischen, offenbar aufgegebenen Raum. Wir klettern wild umher auf der Suche nach dem nächsten Weg, der uns irgendwie weiterbringt.
„Wenn ich nicht bald eine Hose bekomme, werde ich grantig.“
„Ja, ja.“
Husky findet einen weiteren Gang und nach ein paar Biegungen landen wir wieder am Markt – und ich traue meinen Augen nicht: Nur ein paar Meter entfernt ist ein Stand mit Klamotten, doch die Ernüchterung folgt schnell. Er hat fast alles: Mützen, Jacken, Schuhe, Oberteile – aber keine einzige Hose.
„Echt jetzt?“, frage ich den Verkäufer.
Der blickt mich an, als habe er es mit einem Irren zu tun. Ich kaufe wenigstens ein paar Schuhe, in dem Moment ist mir scheißegal, das meine persönlichen Daten wahrscheinlich sofort in den Zentralrechner von Ruin-Station wandern.
„…hier hinten, Bru.“
Husky hat einen weiteren Klamottenladen entdeckt – und der hat Hosen.
Ich nehme die nächstbeste als keiner hinsieht.
„So, auf zu den Hangars. Vielleicht geht ja doch was.“
Husky nickt.
Wenn sie uns kriegen wollen, schnappen sie uns so oder so. Das Versteckspiel sind wir jedenfalls leid. Wir laufen einen Steg hinauf und blicken hinaus ins All. Soeben zeigt uns ein fremder Planet seine Schattenseite.
„Terminus“, sagt Husky.
So viel unbekanntes Land – was könnte man daraus nicht alles machen….
Dann steuern wir das Terminal an.
Ich versuche, es zu aktivieren, doch es ist tut sich nichts. Sie haben uns aus- und damit auf Ruin-Station eingesperrt. Es kann nicht mehr lang dauern. Ich schließe die Augen und zähle die Sekunden, bis einer von den XenoThreat die Waffe auf uns richtet.
Die Flucht
„Und jetzt?“
Ich starre stumpf auf den Monitor und brauche eine Sekunde, bis ich wieder voll da bin.
„…jetzt? Jetzt müssen wir trotzdem so schnell runter von der Station wie möglich.“
Wir blicken uns um.
Die Bewohner der Station gehen ihren alltäglichen Geschäften nach und noch hat uns niemand entdeckt, verpfiffen oder anderweitig an die XenoThreat ausgeliefert. Noch haben wir die Chance, hier heil rauszukommen – wenn uns das Glück ein bisschen hold ist.
„Hier gibt es eine Menge unterirdische Gänge. Ich wette, da geht es irgendwo raus.“
Ich starre Husky an.
„Mit den Klamotten..? Wenn wir rauswollen, brauchen wir mindestens einen Undersuit. Außerdem glaube ich nicht, dass…“
„Eins nach dem anderen.“
Sagt‘s und ist einen Moment später hinter der nächsten Absperrung verschwunden.
Das war früher schon der Fall – immer einen Schritt weiter, während ich noch meine Gedanken sortiere. War das auch schon auf unserer Microtech-Tour so? Ganz bestimmt, nur war es mir damals noch nicht aufgefallen. Ich dachte immer, ich bin risikofreudig – aber Husky ist noch mal einen Zacken schärfer. Jetzt, da ich weiß, dass wir Stiefbrüder sind, fallen mir diese Dinge wie Schuppen von den Augen.
Ich laufe Husky hinterher.
„Bru, hier geht es runter.“
Nur eine Sekunde später ist er schon in eine Öffnung gesprungen.
„Mal schauen, wo es hier hingeht…“
Ich will hinterherklettern, rutsche ab und falle ein Stockwerk tief.
Nur der schwere Stoff der Kutte verhindert, dass ich mich verletze.
„So ein verdammter Mist.“
Wir sind in einer völlig verdreckten Sackgasse gelandet. Durch einen Schlitz sehen wir, dass wir hinter einer versifften Toilette stecken.
Es stinkt und wir stehen mitten im Müll.
Ich schlucke meinen Ärger runter.
„Okay, zurück.“
Husky klettert schnell wieder aufwärts. Ich hingegen rutsche mehrfach ab, immer wieder fällt mir die Kutte ins Gesicht und ich sehe rein gar nichts. Mal schaffe ich eine halbe Ebene, doch dann knalle ich erneut zurück.
„So ein Dreck!“
Pyro – rein und wieder raus, so hatten wir uns das vorgestellt. Und jetzt stecke ich fast bis zur Schulter in Unrat und Müll, reiße mir an scharfkantigen Graten die Hände auf und verfluche die gesamte Situation, in die wir uns gebracht haben. Ich reiße mir die Kutte vom Körper, frustriert feuere ich sie hinter mich.
„So, jetzt aber…“
Ein weiteres Mal versuche ich zurück auf die obere Ebene zu gelangen und nach zwei weiteren Anläufen, gelingt es mir schließlich. Wir schauen uns weiter um. In einer Ecke steigen stinkende Dampfschwaden auf. Eine Visitenkarte zum Abgewöhnen. Wir schleichen weiter, springen ein weiteres Mal eine Ebene tiefer. Röhren und Gänge führen irgendwo hin, enden aber immer wieder an Sperrgittern.
„Wir bräuchten ein Multitool mit einem Cutter-Aufsatz“, sagt Husky.
„Ja, so kommen wir jedenfalls nicht weiter.“
Ich bin es auch echt leid durch den bestialischen Gestank zu staken, der mittlerweile in jede unserer Poren dringt. Wir klettern noch ein wenig umher, dann kehren wir endgültig auf die Ebene der Terminals zurück.
„Da hinten hat der Stand ein Multitool. Wenn du die Leute ablenkst, versuche ich es zu stehlen.“
„Okay, probieren wir es.“
Wir laufen zu dem Stand.
Für einen Moment schenken mir die Leute ihre Aufmerksamkeit. Als wir wieder hinter der nächsten Ecke sind, zeigt Husky stolz ein geklautes Multitool. Im nächsten Moment hantiert er mit einem Cutter-Aufsatz, den er aus einem Müllberg gefischt hatte, nur um eine Sekunde später aufzugeben.
„Mist, das passt nicht. Muss sich um ein älteres Modell handeln.“
Eine gute halbe Stunde sind wir durch den Dreck der Station gewatet – nur, um wieder dort zu stehen, wo wir begonnen hatten.
„Wir müssen einen anderen Weg finden. Uns läuft auch die Zeit davon.“
Husky nickt.
„Versuchen wir erstmal ein paar Anzüge zu besorgen.“
Diesmal haben wir mehr Glück, nur ein paar Meter entfernt findet ein lauter Streit statt, einer der Streithälse geht zu Boden, rührt sich nicht mehr und der Tumult löst sich auf. Sofort ist Husky an ihm dran, schnappt sich seine Rüstung und seinen Undersuit samt Rucksack und Waffen. Er arbeitet schnell und zielstrebig – es geht jetzt um unsere eigene Haut. Kurz darauf steht er voll ausgerüstet vor mir.
Wir schauen uns weiter um – und tatsächlich: Auf einem Treppenabsatz liegt eine weitere ohnmächtige Person. Vielleicht ein weiteres Opfer des Streits. Diesmal mache ich mich an ihr zu schaffen. Wir haben keine Ahnung, um was für arme Hunde es sich handelt, aber wir haben auch keine Zeit mehr, noch groß drüber nachzudenken. Falls wir durch das Abziehen der Leute die Aufmerksamkeit auf uns lenken, sind wir geliefert.
„Hab‘ alles, zurück zu den Terminals.“
„Pass auf, wir stellen uns direkt neben einen Fahrstuhl und sobald einer rauskommt, springen wir rein. Manchmal ist noch der Eigner gelockt.“
„Okay, wenn du das sagst.“
Als sich die Tür öffnet, huschen wir so schnell hinein, dass der Neuankömmling keine Chance hat. Husky drückt auf den Knopf, der zum fremden Hangar führt – und wir können unser Glück kaum fassen: Der Fahrstuhl führt direkt auf ein externes Landepad.
Von dort ist es nur noch ein Sprung hinaus ins Weltall.
„Endlich Freiheit…“, bricht es aus Husky heraus.
Die Frage ist nur, was wir dort suchen.
„…ich wette, da gibt es Schiffe.“
„Versuchen wir unser Glück.“
Wir schweben an der riesigen Station vorbei, die sich bis ins Unendliche zu dehnen scheint. Sie zeigt die ganze Macht, mit der Pyrotechnic Amalgamated einst über das Sternensystem geherrscht haben muss.
„Gigantisch.“
Ich sehe mir alles im Detail an, stelle mir vor, wie vor Jahrhunderten Tausende und Abertausende Menschen die Station bevölkert haben – wie sie Hoffnung und Aufbruch ins System brachten. Natürlich auch, um seine Ressourcen auszubeuten. Dennoch war die Station so viel mehr als nur der verkommene Ort, der sie heute ist.
„Ein echt trauriger Anblick.“
Auch Husky nimmt der Anblick komplett gefangen.
Wir schweben unter der Station hinaus ins Nichts, unsere Augen wandern hierhin und dorthin, vielleicht finden wir ja tatsächlich ein Schiff. Ich fliege an einem riesigen Turret vorbei, das die Station bewacht.
„Wow, das nenne ich mal Waffen.“
Das Ding ist so groß, es hat sogar ein eigenes kleines Schwerkraftfeld.
„Wie sieht es eigentlich mit dem Sauerstoff in deinem Anzug aus?“
„Scheint alles voll zu sein“, gebe ich zurück.
Ich schwebe zur Raffinerie der Station. Die Wände strahlen Energie und Hitze ab, denn mein Mund trocknet plötzlich recht schnell aus, auch beschlägt mein Visier.
„Verdammt, das war keine gute Idee.“
„Was?“
„Hier so nah ran zu fliegen.“
Ich versuche wieder an Höhe zu gewinnen.
Unter uns landen unterdessen diverse Schiffe, unter anderem eine Origin 890 Jump.
„Ganz schön mutig, sich damit nach Pyro zu trauen.“
„Vielleicht sollten wir die kapern?“
„Genau…“, bringe ich nur hervor.
Mittlerweile ist mir ziemlich schlecht.
„Husky, wenn ich nicht bald etwas zu trinken bekomme, verliere ich das Bewusstsein.“
„Okay, dann lass uns umkehren.“
Ich habe mittlerweile genug gesehen von Ruin Station – und über herrenlose Schiffe sind wir auch nicht gestolpert. Wir müssen unser Glück anderweitig probieren. Mir fallen die Augen zu und ich habe Probleme, wach zu bleiben.
„Husky….“
„Bei mir bleiben, Bru. Du bist auf dem richtigen Weg. Nur noch geradeaus jetzt.“
Ich halte den Knopf der Anzugdüsen krampfhaft gedrückt, schwebe wie von Geisterhand auf das nächste Landepad zu. Husky ist knapp hinter mir.
„Gleich geschafft, Bru.“
Mit letzter Kraft erreiche ich das Pad, lasse mich drauf fallen und schleppe mich halb bewusstlos zurück ins Innere.
„…hast du denn gar nichts zu trinken dabei?“
„Warte, ich schaue gleich nach.“
Schwankend laufe ich in den Hangar hinein, schließlich breche ich zusammen.
„Bru…?“
Ich bin nicht in der Lage zu antworten.
Ich weiß nicht wie lange es gedauert hat, aber irgendwann richtet Husky eine Medipistole auf mich und auch zu trinken hat er besorgt. Gierig kippe ich die Flüssigkeit hinunter, egal was es ist.
„…das war jetzt bitter nötig. Wo sind wir hier?“
„In einem fremden Hangar. Weiß auch nicht, wem der gehört.“
„Vielleicht sollten wir uns verste….“
Ich bringe den Satz nicht zu Ende, als aus den Tiefen des Hangars plötzlich ein Schiff herauf kommt. Gespannt blicken Husky und ich auf das Pad und trauen unseren Augen nicht, als dort schließlich eine kleine Pisces steht.
„Das ist unsere Gelegenheit. Jetzt oder nie, Bru…“
Wir rennen zu dem kleinen Schiff.
„Jetzt nur noch kurzschließen und dann…“
„…sag mal, woher kannst du das?!“
„Frag nicht.“
Ich schnalle mich an.
Das kleine Schiff erwacht zum Leben und wir sind auf und davon im Quantumflug.
„Runter nach Terminus?“
„Nee, dann haben sie uns ja gleich.“
„Gut, dann nach Bloom. Weiter reicht der Tank nicht.“
„Alles klar.“
Husky liest vor, was im Spectrum über den Planeten steht.
Bloom (Pyro III) ist der dritte Planet des Pyro-Systems. Er ist kalt, aber von Natur aus bewohnbar und wurde zum Epizentrum der Bergbaubestrebungen in Pyro. Pyrotechnic Amalgamated und andere Konzerne errichteten mehrere Outposts, Unterkünfte für Angestellte und Verarbeitungszentren, die so lange genutzt wurden, bis die Kosten für ihre Instandhaltung nicht mehr durch die Bergbaugewinne ausgeglichen werden konnten. Als die letzten aktiven Unternehmen auf Pyro Ende des 26. Jahrhunderts ihren Betrieb einstellten, wurden sie von Geächteten und ehemaligen Bergleuten, die nicht über die Mittel verfügten, in das Vereinigte Imperium der Erde (UEE) zurückzukehren, übernommen.
Gut, besser als nichts.
„Wem gehört das Schiff eigentlich?“
„Moment…einer gewissen Lucy Stackleton…“
Ich schließe die Augen.
Lucy…vielleicht ein junges Mädchen, dem wir nun das erste Schiff geklaut haben…Leute abziehen, Einbruch, Diebstahl, Schiffsklau – Pyro macht etwas mit uns. Wie heißt es? Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Wenn‘s ums nackte Überleben geht, sind alle heiligen Grundsätze nichts mehr wert. Ich fühle mich schäbig.
Schließlich kommt Bloom in Sicht.
„Erstmal irgendwo in die Wildnis oder gleich zu einem Außenposten?“
Huskys ewige Fragerei…auch das war früher schon so. Bru hier, Bru da….einmal großer Bruder, immer großer Bruder.
„Ein kleiner Außenposten wäre nicht schlecht“, antworte ich schließlich erschöpft. „Bringt ja nichts, wenn wir ohne Essen und Trinken irgendwo im Nirgendwo festsitzen.“
Husky steuert den nächstbesten Posten an.
„Hier, Sherpherd‘s Rest. Das klingt doch nett.“
„Okay.“
„Willst du mal fliegen?“
„Klar, bringt mich vielleicht auch auf andere Gedanken.“
Wir wechseln die Plätze.
Schnell kommt der Außenposten in Sicht.
Wieder einmal haben wir die dunkle Seite des Planeten erwischt. Ich bringe die Pisces runter, doch kaum sind wir gelandet, wird auch schon wieder auf uns geschossen.
„Hört das denn nie auf in diesem Scheiß-System?“
Wir rennen zu dem einzigen Gebäude des Postens, können uns im letzten Moment in Sicherheit bringen. Um den Posten muss heftig gekämpft worden sein – überall liegen Leichen. Niemand ist mehr am Leben. Mit einem riesigen Knall fliegt hinter uns die geklaute Pisces in die Luft. Wir kauern hinter einem Felsen. Über uns kreisen seltsame Vögel wie Geier, die darauf warten, dass auch wir endlich das Zeitliche segnen.
„Dahinten steht noch ein Schiff, eine Avenger. Vielleicht können wir die nehmen um wegzukommen?“
„Klar, jetzt ist eh schon alles egal.“
Geduckt schleichen wir im Schatten der Nacht zurück zum Gebäude, vorbei an lauter Schiffswracks. Husky sucht bei den getöteten Soldaten nach irgendwelchen Waffen und macht sich dann auf, die Hecktür der Avenger aufzuschießen. Ich beobachte unterdessen, wie einer der Vögel an einem toten Menschen herumpickt. So ist die Natur, jeder versucht zu bekommen, was er kriegen kann.
„Hau ab!“
Ich versuche das Tier zu verscheuchen, doch es schaut mich nur frech an und pickt dann weiter mit seinem scharfen Schnabel.
Hinter mir knallt es laut.
„Yeah…ich habe es! Die erst Tür ist offen.“
„Wem gehört eigentlich das Schiff?“
„Ist doch egal.“
Husky schnappt sich die nächste Waffe und kehrt zum Schiff zurück. Wie ein Besessener ballert er im Schiff um sich, lässt sich völlig gehen, ich sitze da und schüttele fassungslos den Kopf.
Pyro zeigt uns, wer wir wirklich sind.
„Bru, hab`s gleich, eine Tür noch…“
„Okay, ich laufe nicht weg.“
Im Schiff knallt es immer wieder, dann ein weiterer Freudenschrei.
„Bin jetzt im Cockpit.“
Ich stemme mich hoch. Kaum habe ich die Avenger erreicht, startet Husky auch schon und wir sind auf und davon.
„Wohin jetzt?“
Husky checkt die Karte.
„Bueno Ravine?“
„Klingt so gut wie alles andere.“
Wenigstens liegt der Ort auf der Tagseite des Planeten und beim Anflug sehen wir, wie schön er eigentlich ist – er leuchtet hellgelb im Sonnenlicht. Er könnte ein regelrechtes Paradies sein.
Husky geht tiefer, ich blicke ihm über die Schulter.
Schließlich fliegen wir über Berge und Täler, dann landen wir und atmen tief die kalte Luft ein.
Husky hat das Schiff auf einem Kamm abgesetzt, in sicherer Entfernung zum Außenposten.
„Wow, hier gefällt es mir richtig gut.“
Meine Stimmung hellt sich auf.
Alles wirkt friedlich, wir blicken den Berg hinab.
Gemeinsam machen wir uns an den Abstieg, halten immer wieder mal inne, weil wir dem Frieden nicht trauen. Doch schließlich stehen wir in Bueno Ravine, einem Außenposten, zu dem ein alter Tagebau gehört.
„Hübsch hier.“
Wir laufen durch den Ort, der etwas Industrielles hat und trotzdem idyllisch wirkt.
Wir betreten das Hauptgebäude – es sind keine Leichen zu sehen. Wir lassen uns in zwei Stühle fallen und blicken uns an.
Es kommt uns fast unwirklich vor.
Nachtflug
Ich schwinge mich aus dem Bett – so tief und fest habe ich lange nicht mehr geschlafen. Kein enges, völlig verdrecktes EZ-Hub, bei dem man das Gefühl hat, die Wände erdrücken einen, keine enge Koje in einem Schiff im Nirgendwo, wo man unterbewusst immer mit einem halben Ohr wach bleibt, falls man plötzlich angegriffen wird.
Gut, das Bett war jetzt nicht mehr das Neueste und der Bezug fehlte auch – dennoch: Dass Pyro auch ruhige Seiten hat, wo man mal richtig runterkommen kann – es ist schön zu wissen, dass es das auch gibt. Bueno Ravine hat uns mal richtig durchatmen lassen.
Ich ziehe mich an und begebe mich auf die Suche nach Husky.
Ich finde ihn direkt außerhalb des Schlafgebäudes, er unterhält sich mit ein paar Bewohnern des Außenpostens.
„Bru…alles klar?“
Ich nicke noch ein wenig verschlafen.
„Yep, lass uns mal was zum Frühstücken finden. Ich habe einen Bärenhunger.“
Gemeinsam machen wir uns auf den Weg ins Hauptgebäude. Ich habe völlig das Zeitgefühl verloren.
„Wie spät ist es?“
„Ich glaube, die Sonne geht bald unter.“
„Ich habe fast 18 Stunden durchgepennt?!“
„Yep.“
„Okay…wow.“
In Bueno Ravine ist es nach wie vor friedlich, nur eine große Carrack ist gelandet, der Besitzer aber nirgendwo zu sehen. Vielleicht gönnt er sich auch eine Mütze Schlaf, wer weiß.
Ich nehme mir aus einem Kühlschrank einen Drink und blicke zum Fenster raus, als plötzlich zwei Typen hinter mir stehen. Ich drehe mich um.
„Tag auch. Seid ihr die Typen, die mit der Avenger gekommen sind?“
Ich fühle mich schlagartig unwohl.
„Ja, wir…“
„…die gehört zu uns“, unterbricht mich der eine. „Wir haben‘s aber schon mit deinem Kumpel geklärt. Unsere Fernaufklärung hat schon überprüft, dass ihr mit den Morden nichts zu tun hattet.“
„…dann ist ja gut.“
Ich nehme einen weiteren Schluck.
„Eine Sache noch…ihr habt nicht zufällig von einem Signal gehört, das aktuell auf einer geheimen Frequenz durch das ganze System gesendet wird? Es versucht immer Kontakt irgendwo in Stanton aufzunehmen…“
„Nein…“
„Das Signal kommt immer von verschiedenen Orten, so als wäre es auf einem Schiff.“
„Verstehe.“
„Einem Schiff, das wohl zwei Typen gehört hat, hinter denen jetzt halb Pyro hinterher ist.“
Mir läuft es kalt den Rücken runter, als ich zwei und zwei zusammenzähle.
Der Virus.
Ich versuche eine Pokermiene zu machen.
„Ehrlich, keine Ahnung wovon ihr redet.“
Sie lassen von mir ab.
Ich laufe zu Husky.
„Husky…wir müssen…“
„Gleich Bru…ich habe vielleicht eine Idee, wie wir hier wegkommen.“
Ich folge ihm in einen schmutzigen Hangar, wo Husky in einer dunklen Ecke mit einem zwielichtigen Typen spricht, dann kehrt er mit einem Grinsen zurück.
„Das ging leichter als gedacht. Richard dahinten gibt uns eine alte Aurora. Dafür müssen wir für ihn unter dem Radar nur eine Kiste Cobalt nach Carver‘s Ridge zu einem gewissen Nigel bringen, rund 30 Klicks entfernt. Er gibt uns dafür einen Cyclone – ein Kinderspiel.“
„Wenn du das sagst…Ich muss dir auch was…“
„Später, ich mache nur eben den Deal klar.“
Ich atme tief durch.
Husky besorgt noch ein paar Vorräte, dann verstauen wir auch schon eine Kiste mit dem Cobalt in dem Fahrzeug. Wir schauen uns noch mal um.
„Nette Leute hier.“
„Ja, ist mal was Neues in Pyro“
Husky steigt in den Cyclone und startet die Maschine – sie schnurrt wie ein Kätzchen.
„Vielleicht sollten wir uns erst ein wenig einfahren.“
„Klar, wie du meinst.“
Husky brettert in den nahe gelegenen Tagebau.
„Läuft wie geschmiert.“
Wir steigen aus und blicken uns um.
Eine alte Geothermieanlage rattert unter uns, holt Erdwärme aus der Tiefe. Davon hatten wir in Stanton auch schon einige gesehen – nur waren sie stets zerstört. Hier sind sie noch im Einsatz, eine überholte Technik, aber robust und einfach und daher gerade richtig für die harschen Bedingungen von Pyro.
Husky fährt sich noch ein wenig ein, dann ist er bereit.
„Lass uns los.“
Wir fahren noch einmal durch den Außenposten, niemand nimmt von uns Notiz.
Wie es scheint, haben wir zur Abwechslung mal Glück.
„Was ich vorhin sagen wollte…“
Husky weicht gekonnt ein paar größeren Klamotten aus.
„Ja…?“
„Mich haben zwei Typen angequatscht und die haben was von einem Signal erzählt, das sie wohl auf einer geheimen Frequenz aufgefangen haben und das ständig versucht, nach Hause zu telefonieren…von einem Schiff aus…“
Ich muss mich stark festhalten, denn der Weg wird nicht besser.
„…nun, ich glaube, dass das die Shack One ist. Unser Stick, der Kontakt aufnehmen will. Dafür zapft er die Energie des Schiffes an.“
„Meinst du wirklich?“
„Ja…Husky hörst du mir eigentlich zu?“
„Ja klar, Shack One. Der Virus. Versucht zu senden. Wissen wir doch schon.“
Ich nicke, auch wenn ich keine Ahnung habe, was das zu bedeuten hat, aber mich beschleicht ein komisches Gefühl. Irgendwas verdammt Wichtiges muss auf dem Stick drauf sein, wenn alle…
„Vorsicht!“
Husky gelingt es erst im letzten Moment, einem riesigen Felsen auszuweichen.
„Himmel…“
Die Sonne ist längst untergangen und uns schwant, dass die Fahrt nach Carver‘s Ridge alles andere als besagtes Kinderspiel wird.
Ich blicke verkrampft nach vorn, während sich Husky einen Weg durch zunehmend schwierigeres Gelände bahnt. Das schön anzuschauende Moos – es entpuppt sich als extrem rutschig, auf dem die Räder des Cyclone ihren Grip verlieren, mehr noch: Hat es einen Stein überzogen, versperrt es unter seinem schönen Schein brutal den Weg. Ein ums andere Mal muss Husky den Wagen hart herumreißen, damit wir nicht irgendwo gegendonnern.
Er hat die Lippen zusammengekniffen, versucht sich ganz zu konzentrieren – plötzlich nimmt er einen Stein seitlich so unglücklich, dass wir uns überschlagen. Nur dank des Überrollbügels geschieht nichts Schlimmeres und wir landen wieder auf allen Vieren.
„Die wissen schon, warum sie nicht selber fahren.“
„Und jetzt?“
„So schnell geben wir nicht auf.“
Immer wieder nehmen wir Moosflächen mit, weil es uns nicht gelingt, ihnen rechtzeitig auszuweichen, immer wieder drehen wir uns um 180 Grad, als würden wir über Seife fahren. Husky blickt auf den Kompass, der in den Wagen eingebaut ist.
„Auch das noch…“
„Was?“
„Der Kompass spielt verrückt. Hat beim Überschlag vielleicht was abbekommen.“
Ich blicke mich um – irgendwie sieht es mittlerweile nach allen Seiten gleich aus. Vielleicht sind es auch magnetische Schwankungen des Planeten, die uns einen Streich spielen. In jedem Fall scheinen die Bewohner Blooms zu wissen, warum sie sich mit ihren Fahrzeugen nicht allzu weit in die Wildnis wagen.
Ein paar Dreher noch und wir haben die Orientierung komplett verloren.
„Warte, ich habe eine Idee.“
Husky wendet den Cyclone in die Richtung, aus der wir scheinbar gekommen sind, dann nimmt er per Mobiglas eine Peilung vor.
„Ich kriege das Signal der fremden Carrack rein.“
„…und wie weit sind wir schon?“
Huskys Stirnrunzeln verheißt nichts Gutes.
„Drei Kilometer.“
Offenbar sind wir einen riesigen Kreis gefahren.
„So eine verdammte…!“
Gut, niemand kann etwas dafür. Vielleicht haben uns die ach so netten Citizens auch einfach eine totale Schrottkarre überlassen.
„Navigation mit Kompass können wir jedenfalls vergessen.“
Jetzt, mitten in der Nacht, fehlt uns auch die Sonne als Orientierung,
Husky checkt die Sternenkarte.
„Wir können versuchen, die als Orientierung zu nehmen. Ist natürlich viel zu grob aufgelöst für die Details eines Planeten – aber besser als nichts.“
Ich blicke hinauf ans Firmament. Stürmische Wolken ziehen über uns hinweg – in der Ferne aber, über einem Bergrücken, in der Richtung, die wir als die richtige vermuten, stehen zwei Doppelstern-Paare am Himmel.
„Lass uns die als Referenzpunkte nehmen“, sage ich und deute auf sie.
„Probieren wir es aus.“
Wie unsere Altvorderen orientieren wir uns wieder an den Sternen – und so fahren wir weiter ins Unbekannte. Irgendwo hinter diesen Bergen, wartet hoffentlich eine Aurora auf uns, sofern man uns nicht wieder nur abgezogen hat.
Husky gibt sich weiter alle Mühe, die Richtung zu halten, ich halte mich mit Kommentaren zurück. Immer wieder verschwinden unsere Doppelsterne hinter Bergspitzen oder Wolken. In der Ferne leuchtet das Moos wie Glut, als würden wir über eine riesige Lavafläche fahren. Wunderschön einerseits, verwirrend andererseits. Ich höre auf zu zählen, wie oft wir nun schon auf dem Moos Pirouetten gedreht haben – irgendwie werden wir auch aus dieser Situation schon wieder heil herauskommen.
„…haben mittlerweile ganz schön was erlebt in Pyro, oder?“, sagt Husky irgendwann.
Ich nicke, in der Tat: Entführung, Erpressung, Beschuss, Diebstahl – und wir selbst haben uns auch nicht immer sauber und korrekt verhalten.
„Noch leben wir“, sage ich schließlich.
„Willst du mal fahren?“
„Klar, wenn du eine Pause brauchst.“
Wir halten an, genießen die Stille in der absoluten Einsamkeit. Wir trinken etwas und dann fahre ich weiter – und stelle mich noch schlimmer an als Husky. Kein Stein, den ich nicht irgendwie treffen würde.
„Mit Hoverbikes wären wir längst durch.“
Husky nickt, beide denken wir in dem Moment an unsere Microtech-Tour.
„War auf jeden Fall cool damals.“
Ich weiß natürlich noch, wie mir unsere Tour damals teilweise auch echt zum Halse raushing, aber so funktioniert der Mensch eben: Im Nachhinein behält er immer die schönen Dinge in Erinnerung.
Husky checkt noch mal die Karte, dann peilt er erneut die Carrack an.
„Wir sind mittlerweile bei rund 15 Kilometern, Richtung sollte auch stimmen. In der Nähe unseres Ziels müssen irgendwelche Seen sein. Sieht zumindest so aus.“
Unmerklich steigt das Gelände langsam an – und ehe wir uns versehen, befinden wir uns plötzlich auf einem steilen Berganstieg. Der Cyclone ächzt unter seiner Haube, klettert aber immer weiter wie eine Bergziege.
„Wow, dass der Motor das schafft…“
Ich suche Stellen die etwas weniger steil wirken – und irgendwann stehen wir ganz oben. Hinter dem Grat erstreckt sich ein weites Tal und im Sternenlicht glitzert Wasser in der Ferne.
„Wir schaffen es“, sage ich fast euphorisch.
„Jetzt kommt der spaßige Teil.“
Wir brettern auf der anderen Seite der Bergkette hinab, bis uns wieder das elendige Moos ausbremst.
„Das war auf jedem Fall mal eine Sause.“
Wir grinsen – irgendwie hat es auch was, so allein in einem offenen Wagen durch die Nacht zu brausen. Niemand ballert auf uns, niemand will uns am Zeug flicken.
Nur wir und die Natur.
Wir wechseln wieder und plötzlich geht es dahin – wir rasen über ausgedehnte Schotterflächen. Als Husky noch einmal die Peilung der Carrack nimmt, sind wir über 20 Kilometer von ihr entfernt, dann peilt er ein neues Signal an. Carver‘s Ridge ist nur noch zehn Kilometer weit weg und jetzt, da wir wissen, dass wir es schaffen werden, schmelzen diese schließlich dahin wie Eis in der Sonne. Niemals aufgeben – das ist eben die Devise in Pyro, nein, das ist die Devise überall im Universum.
Dann sehen wir auch schon den Außenposten und drosseln unser Tempo, mittlerweile haben wir gelernt, nicht gleich überall reinzustürmen – auf einem Plateau halten wir an und just in diesem Moment geht die Sonne auf. Es ist ein wunderschöner Augenblick, der uns den Atem raubt. Wie Finger greifen die Sonnenstrahlen nach dem Land und befreien den Planeten aus seiner Dunkelheit.
Wir stehen stumm und da und schauen uns das Schauspiel an.
Ja, die zurückliegenden 30 Kilometer haben sich wie 300 Kilometer angefühlt und letztlich haben wir die ganze Nacht gebraucht, aber in diesem Moment ist alles vergessen.
Schließlich ergreift Husky das Wort.
„Habe ich eigentlich schon erzählt, dass Friedrich hier in der Gegend war?“
„Äh…nein.“
„Ist mit seiner 600i wohl ziemlich hart runtergekommen. Hatte irgendwelche Probleme an Bord.“
„Echt?“
„Ja, wollte wohl Hilfslieferungen machen. Man hat ihn dann gefunden und abgeschleppt. Hatte mir einer in Bueno vorhin erzählt.“
„Wow, Friedrich und Pyro…vielleicht sucht er uns auch…“
Dann steigen wir wieder in den Cyclone und rollen langsam nach Carver‘s Ridge ein.
Man ist eben nie wirklich ganz allein.
Verstrahlt
Totenschädel baumeln über dem Eingang zu Carver‘s Ridge.
„Sehr einladend.“
Es handelt sich um einen Außenposten der Headhunters.
Weit und breit ist niemand zu sehen.
„Und wohin jetzt?“
Husky lässt seinen Blick durch den Outpost schweifen, der auf einem hohen Plateau liegt.
„Keine Ahnung. Richard sagte nur, dass hier unser Kontaktmann warten würde.“
Warum kann in Pyro eigentlich nie irgendwas entspannt über die Bühne gehen?
„Schauen wir uns um, dann finden wir ihn schon.“
Ganz verlassen scheint der Außenposten jedenfalls nicht zu sein – eine Constellation steht auf dem Landepad.
Wir laufen nach Carver‘s Ridge hinein und passieren lauter Käfige.
„Schau mal.“
„Yep, hab‘s gesehen.“
Wir wissen, was darin verschleppt wird.
Menschen.
„Lass uns das hier durchziehen und dann abhauen.“
Husky nickt.
Wir schauen uns weiter um – doch nichts.
Niemand ist zu sehen. Alles wirkt auch extrem heruntergekommen.
Irgendetwas scheint hier dennoch vorzugehen – denn ein riesiges Turret und sogar ein Raketenwerfer bewachen den Posten. Und beides glänzt noch nagelneu. Wir durchsuchen alle Gebäude und rostigen Verschläge, dann finden wir den Grund: In einem der Gebäude entdecken wir zwei riesige Bomben, auch als MOABs bekannt – „Mutter aller Bomben“ mit einer Sprengkraft, die ganze Außenposten in einem Moment in Schutt und Asche legen.
Aus einer Bombe hängen lose Kabel raus.
„Vielleicht sollen sie umprogrammiert werden…“
„…und vielleicht braucht man dafür das Cobalt….“
„…und weil man es nicht auf offiziellem Wege liefern kann, muss man es heimlich transportieren.“
Schlagartig wird uns klar: Einmal mehr waren wir nützliche Idioten. Richard hat offenbar auf eigene Rechnung gearbeitet, ohne den Segen der Citizens. Vorsichtig erkunden wir weiter den Ort.
„Bru, hier liegt eine Leiche unter einer Plane.“
Tatsächlich – wir wetten, es ist unser Kontakt, Nigel.
„Und jetzt?“
„Weg hier. Mit MOABs wollen wir jedenfalls nicht erwischt werden.“
Wir laufen zur Constellation und versuchen sie aufzuschießen – doch anders als bei der Avenger sind die Zugänge stahlarmiert.
„Da können wir lange drauf schießen.“
„…ist wahrscheinlich eh keine gute Idee, mit der geklauten Constellation eines Headhunters erwischt zu werden.“
„Ich stelle jetzt einfach Richard zur Rede.“
Husky läuft zu einem Terminal und nur Sekunden später taucht über einen geheimen Kanal sein Kontakt auf. Ich höre aus der Entfernung, wie es laut hin und her geht, dann kommt Husky zurück.
„Wir sollen das Cobalt hier lassen und weiterziehen. Die Aurora soll unterhalb des Plateaus stehen. Und wir sollen die Klappe über all das halten…er hätte übrigens nicht gedacht, dass wir das schaffen.“
Pyro wie es leibt und lebt.
Wir laufen zu besagter Stelle – und ich hätte es fast nicht geglaubt, aber da steht tatsächliche eine Aurora.
„Ist nicht mehr ganz neu, sieht aber flugtüchtig aus“, sagt Husky.
„Dann los.“
Husky startet die Maschinen, dann heben wir auch schon ab.
„Wollen wir erst noch eine Runde über Bloom drehen? Bisher haben wir es ja fast nur bei Nacht gesehen.“
„Klar, warum nicht.“
Wir steuern die Tagseite des Planeten an, der nun hellgelb im Sonnenlicht leuchtet. An einem See geht Husky nieder. Die kalte Luft belebt unsere Sinne. Wir blicken uns um – es ist keine Menschenseele zu sehen. Mit in einem großen Satz springt Husky plötzlich ins Wasser.
„Was soll das jetzt wieder?“
„…bisschen Spaß haben.“
Nur einen Moment später ist er auch schon unter der Oberfläche abgetaucht. Seit ich weiß, das Husky mein kleiner Stiefbruder ist, fühle ich ein besonderes Verantwortungsgefühl für ihn. Noch vor ein paar Wochen bin ich selbst übers Feuer gesprungen.
Dann wate ich ebenfalls ins klare Wasser.
„Husky, kannst du mich hören?“
„Klar und deutlich.“
„Na fein, auch unter Wasser funktioniert die Kommunikation. Wo bist du?“
„Hier hinten.“
Ich sehe Huskys Schatten nur noch schemenhaft.
„Lauf nicht zu weit rein, sonst verlierst du die Orientierung und weißt nicht mehr, wo es zum Ufer geht.“
„Keine Bange, Bru.“
„Vielleicht beißt dich auch irgendwas.“
„Möglich wär‘s.“
Ich lächele. Ich brauche dringend etwas von meiner alten Unbekümmertheit zurück. Sonderlich viel gibt es unter Wasser allerdings nicht zu sehen, sodass wir schließlich an Land zurückkehren.
„Wollen wir die Shack One eigentlich wirklich zurückholen? Die Versicherung…“
„Natürlich“, falle ich Husky entrüstet ins Wort.
„Schon aus Prinzip.“
„Alles klar – wohin jetzt?“
„Noch ein bisschen Bloom.“
„Okay.“
Diesmal fliege ich und bald wird das Gelände schroffer und geht in hohe Berge über, zwischen denen riesige Täler liegen. Wir blicken beide fasziniert aus dem Cockpit, während die alte Aurora ächzend Meter um Meter erklimmt.
„Da vorn, da könnten wir mal runtergehen.“
Ich zeige auf eine hohe Bergspitze, die genug Landefläche für eine Aurora bietet. Behutsam bringe ich das kleine Schiff nach unten, dann stehen Husky und ich auch schon im Wind und schauen in die Ferne. Wir kraxeln ein wenig umher, während uns eine Brise um die Nase weht.
„Warte, ich mach mal ein Foto von dir. Bleib so…“
Ich knipse Husky in einer paar Entdeckerposen. Schließlich haben wir genug.
„Vielleicht noch einen Zwischenstopp, dann sollten wir mal entscheiden, wohin wir weiter wollen.“
„Einverstanden.“
Wir laufen zurück zum Schiff, doch irgendetwas stimmt mit ihm nicht – die Türen gehen nicht mehr auf. Es hat uns ausgesperrt. Wir probieren es auf beiden Seiten, dann klickt der automatische Mechanismus doch noch. Husky übernimmt wieder die Steuerung und bringt uns in ein paar Steilkurven hinunter auf die großen Ebenen, die im Sonnenlicht glänzen.
„Ich will noch mal zu der Seenlandschaft.“
Kaum sind wir erneut gelandet, rennt Husky auch schon zum Wasser. Wieder taucht er ab. Offenbar ist in ihm das Spielkind erwacht – warum auch nicht nach dem Stress der vergangenen Wochen.
Noch einmal wandern wir auf dem Grund des Sees umher.
„Schau mal, die Steine hier, die glitzern fast golden.“
Ich entdecke unterdessen eine Arte Koralle, die aber auch ein versteinertes Tier mit einem seltsamen Panzer gewesen sein könnte.
„Yo, ist schon cool hier.“
Als wir auf der anderen Seite wieder aus dem Wasser steigen, habe ich eine Idee.
„Hey, ich mache mal ne Arschbombe!“
Ich klettere auf einen Felsen, stoße mich kräftig ab und lasse mich dann so kräftig ins Wasser fallen, wie es nur geht. Ja, höchste Zeit, wenigstens für ein paar Momente mal alles zu vergessen – auch das gefährliche Pyro hat so viel mehr zu bieten als Mord und Totschlag.
Zum Beispiel das herrliche Gefühl von unbeschränkter Freiheit!
Wir tollen umher, bis wir kaum noch können.
Das war jetzt bitter nötig.
„Wohin jetzt“, frage ich Husky außer Atem.
„Habe vorhin den Schiffscomputer gecheckt. Da war noch Pyro I geloggt.“
Ich lese auf meinem Mobiglas:
Pyro I ist der sonnennächste Planet des Pyro-Systems. Seine dichte Hochdruckatmosphäre verbirgt eine seltsame Landschaft, die von starken Winden und Blitzen heimgesucht wird. Unter den Wolken befindet sich ein Ökosystem aus Pflanzen und Tieren, das die extrem hohen Temperaturen selbst bei starken Sterneneruptionen aushält. Vermessungsingenieure und Wissenschaftler errichteten ab 2510 auf der Oberfläche abgeschirmte Forschungszentren und Bergbau-Außenposten, die es einer spärlichen Bevölkerung ermöglichten, den Planeten zu nutzen, bevor die Einrichtungen gegen Ende des 26. Jahrhunderts aufgegeben wurden.
„Klingt jetzt nicht sehr einladend.“
„Bringt uns aber vielleicht unserem Ziel näher, endlich ganz hier wegzukommen.“
„Na gut.“
Erneut machen uns die Türen zu schaffen, sie öffnen sich erst nach gutem Zureden.
„Mann, da haben sie uns ja vielleicht ein Schrottschiff angedreht…“
Wenigstens funktioniert der Rest halbwegs, wie es soll. Auch der Quantumantrieb springt tadellos an und nach einem längeren Flug liegt vor uns Pyro I, eine blaue, in dichte Wolken gehüllte Kugel. Das muss man dem Pyro-System echt lassen – seine Himmelskörper sind wahre Augenweiden. Husky geht tiefer und schnell erkennen wir: Der erste Eindruck hat getrogen. Plötzlich gleiten wir über die seltsamsten Felsformationen, die ich jemals gesehen habe – wie Grate, vielmehr wie Gräten ragen sie in die Höhe.
„Keine Ahnung, welche Bodenerosion so etwas hervorbringt, aber die Kräfte müssen enorm gewesen sein“, mutmaßt Husky.
Ich nicke und blicke stumm zum Fenster hinaus. Der Planet wirkt, als wolle er jedes Leben von sich abstoßen wollen, als wolle er einem zurufen: Bleibt nicht hier, sucht euch was Besseres.
Husky checkt die Karte.
„Viel gibt’s hier nicht – drei Orte.“
„Ja, auf Pyro I hat man alles soweit aufgegeben.“
„Rustcity.“
„Klingt schon so verlassen.“
Husky landet erst ein wenig abseits, mittlerweile haben wir unsere Lektion gelernt, aber erst nach der Landung sehen wir, wie groß die seltsamen Felsformationen tatsächlich sind – und wie sehr sie jedes Vorankommen erschweren.
„Wir fliegen noch mal näher ran.“
Ein drittes Mal ärgern uns die Türen mit ihrem Eigenleben, sodass sie Husky nun im geöffneten Zustand sperrt.
„Nachher sind wir als Cabrio unterwegs.“
Vorsichtig nähern wir uns den Außenposten, doch unsere Sorge ist unbegründet. Der Outpost ist verlassen und bald darauf wissen wir auch weshalb: Unter unseren Anzügen heizen sich unsere Körper plötzlich schlagartig auf. Die Strahlung muss auf dem Planeten exorbitant hoch sein – wie ein riesiger unbarmherziger Feuerball steht Pyros Stern über uns am Himmel.
„Wir brauchen dringend Schutz.“
Wir steuern das nächstbeste Gebäude an – es bleibt so: Rustcity ist tot, mehr noch: Es wirkt, als sei der Ort hektisch verlassen worden, als sei die Strahlung innerhalb kürzester Zeit dramatisch angestiegen, sodass die Bewohner von jetzt auf gleich dazu gezwungen wurden. Ich schaue noch einmal im Spectrum nach: Pyros Sonne ist als Flare-Stern klassifiziert, das heißt, er ist ein veränderlicher Stern, der innerhalb weniger Minuten einen dramatischen Helligkeitsanstieg erfährt und dabei starke Strahlungsausbrüche freisetzt.
Wir stromern durch das riesige Areal, das unter großen Mühen dem Planeten abgetrotzt und doch nicht zu einer dauerhaften Heimat der Menschen wurde. Irgendwann bleiben wir ratlos stehen.
„Wonach suchen wir eigentlich?“, frage ich.
Husky zuckt mit den Schultern.
„…vielleicht nach jemandem, der uns weiterhelfen kann. Jemanden, der sich mit Raumschiffen auskennt…falls wir wirklich die Shack-One zurückholen wollen…“
„Natürlich wollen wir das“, beharre ich.
„Nun, dann sollten wir jemanden finden, den wir fragen können.“
Wir kehren zum Schiff zurück und Husky checkt die Karte.
„Es gibt noch einen zweiten Ort, gar nicht weit entfernt – Gray Gardens oder so…“
„Probieren wir es dort auch noch mal, ansonsten müssen wir wohl oder übel auf eine der verdammten Raumstationen.“
Husky nickt und startet das Schiff.
Nach nur wenigen Minuten landen wir wieder zwischen dem gigantischen Steingestrüpp.
„Ich bin froh, wenn wir hier weg sind.“
„Ich auch.“
Schnurstracks steuern wir die paar Gebäude an, die sich wie Fremdkörper noch auf dem Planeten festhalten – und werden schließlich fündig: In einem Gebäude stehen gleich drei Bewohner und warten offenbar eine weitere Strahlenepisode der Sonne ab.
„Alles klar, Männer?“
Sie sind nicht sonderlich redselig.
„Wir suchen jemanden, der sich mit Raumschiffen auskennt, aber so richtig. Einen geborenen Schrauber.“
Zwei schütteln den Kopf, vielleicht haben sie auch keine Lust, sich über die Probleme anderer Leute den Kopf zu zerbrechen. Der dritte antwortet nach einer Weile halb genervt: „Sunset Mesa auf Monox. Ist ein größerer Ort. Da findet ihr alles, was ihr braucht.“
„Okay, danke.“
Wir warten gemeinsam ab, bis der Strahlungslevel wieder sinkt, dann verlassen wir das Gebäude.
„Sunset Mesa, nie gehört.“
„Probieren wir unser Glück.“
Durch die geöffneten Seitentüren steigen wir in die Aurora und lassen den abweisenden Planeten hinter uns. Wir fliegen vorbei an einer fetten Wolkenfront. Unter uns scheint ein Sturm zu toben.
„Kein Wunder, dass die Menschen hier nicht heimisch geworden sind“, sage ich.
Husky nickt knapp und geht in den Quantumjump über.
Der Eremit
Husky landet die alte Aurora behutsam in Sunset Mesa.
Soeben geht die Sonne unter.
„Warum nur wird es immer dunkel, wenn wir irgendwo neu hinkommen?“, murmle ich.
„Pech, würde ich sagen“, antwortet Husky.
Unsere Blicke wandern über den großen Außenposten – anders als auf Pyro I ist er belebt, trotz der anbrechenden Abendstunden. Hier haben wir tatsächlich die Chance, irgendwie weiterzukommen; der Typ auf Pyro I hat offenbar keinen Quatsch erzählt.
„Schauen wir uns um, vielleicht haben wir tatsächlich Glück.“
Wir marschieren aufs Geratewohl in das nächste Gebäude – und trauen unseren Augen nicht: Alles ist aufgeräumt, freundlich, in hellen, aber gedeckten Farben gehalten. Von der Decke hangeln sich Pflanzen herab. In einem Ofen brennt ein kleines Feuer.
„Nett hier.“
Wir laufen quer durch das Haus, dann trifft Husky auf einen Bewohner, ich höre die beiden im Nebenzimmer miteinander plaudern.
Lächelnd kommt er auf mich zu – er hält einen kleinen Zettel in der Hand.
„Schau mal, was ich bekommen habe…eine Skizze zu einem etwas abgelegenen Gemeindehaus hier ganz in der Nähe. Dort befindet sich wohl ein Mann, der uns weiterhelfen kann….und offenbar erwartet man uns schon…“
„Komisch.“
Husky dreht den Zettel um.
Auf der Rückseite steht:
„Falls zwei Typen auftauchen, die etwas verwirrt wirken, schickt sie zu dem Ort hier auf der Zeichnung. Aber nennt keine Namen. Ich möchte erst sehen, ob die beiden noch in Balance sind und den Weg der Mitte gehen.“
„Was soll das denn?“
Husky zuckt mit den Schultern.
„Offenbar eilt uns ein gewisser Ruf voraus…und wir sollen mit Bikes kommen. Wegen der Luftabwehr.“
„Woher kriegen wir jetzt…?“
„…aus der Garage nebenan…sofern wir was zum Tauschen haben.“
Wir laufen ein Haus weiter. Dort bringt soeben ein Mechaniker zwei Bikes auf Hochglanz – eine Dragonfly und eine kleine Pulse.
Sofort schlagen unsere Bikerherzen höher.
„Hi, wir würden uns gern die beiden Bikes für eine Zeit tauschen gegen eine Aurora, die draußen steht…“
Der Mechaniker blickt uns kritisch an und denkt einen Moment nach.
„…okay, aber vorsichtig damit! Habe sie eben erst wieder richtig poliert. Und das kleine Schätzchen hier habe ich auch etwas aufgemotzt.“
„Kein Problem, wir sind alte Biker.“
„Na dann.“
Wir schlagen ein.
„Ich nehme die Pulse“, sage ich.
„Okay. Ist eh ein fliegender Staubsauger“, erwidert Husky.
Kaum habe ich das kleine Biest angelassen, springt es aus dem Stand auch schon hundert Meter weit.
„Hui…“
Ehe ich mich versehe, verliere ich die Kontrolle.
Ich versuche, das Bike, das einem gerade so zwischen den Beinen klemmt, unter Kontrolle zu bringen – ohne Erfolg. Es bockt wie ein junges, wildes Fohlen.
„Mann ey…“
Ich drehe nur ganz wenig am Gashebel, aber die Pulse fetzt los, als hätte sie einen Tritt in die Weichteile bekommen.
„Shiiiiiit!“
Das nächste, was ich sehe, ist, wie eine Mauer auf mich zurast. Dann werde ich hoch in die Luft geschleudert, die Pulse explodiert und als ich wieder zu mir komme, liegt sie brennend neben mir.
Ich hoffe nur, der Mechaniker hat den Knall nicht gehört.
„Husky, Husky?“
„Ja, wo bist du?“
„Hier…unten auf der großen Landeplattform.“
Er kommt mit der Dragonfly und benommen steige ich auf.
„Was machst du denn?!“
„Nichts. Das blöde Ding hat verrückt gespielt…“
Ohne weitere Worte nimmt Husky Fahrt auf. Wir reiten ein paar Kilometer durch die Wüste, dann tauchen am Horizont auch schon Lichter auf.
„Das muss es sein.“
Vor dem einzeln stehenden Haus parkt eine Zeus, ein paar Wachen kreuzen unseren Weg, sonst ist niemand zu sehen.
„Schauen wir einfach nach.“
In einer Sitzecke finden wir einen einzelnen Mann, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
„Äh…hallo? Wir suchen eine Person, die uns vielleicht helfen kann…“
Der Mann schaut uns aus zusammengekniffenen Augen an. Ein strubbeliger Bart wuchert aus seiner Kutte. Dann ergreift er das Wort.
„Seid ihr die beiden Kerle, die ihr Schiff verloren haben so wie sich selbst?“
„Ähem…was?“
„Mir scheint ihr habt eure Mitte verloren…“
„Wie bitte?“
„…ihr seid aus der Balance…“
Ich will mich schon abwenden, auf Verrückte habe ich keine Lust, doch irgendwie kommt mir die Stimme auch seltsam bekannt vor.
Der Mann holt kurz Luft, scheint zu meditieren.
„Seid ihr wegen Aruhso hier?“
„Wegen…nein, also ja…“
„Nein“, sagt Husky.
„Ja“, sage ich.
„Entscheidet euch!“
Dann weiß ich, wen ich vor mir habe.
„Zero…das gibt’s doch nicht!“
„Ihr scheint mir sehr aus der Balance zu sein.“
„Zero, lass den Scheiß!“
Mit gefalteten Hände und tief gezogener Kapuze sitzt er vor uns.
Meine Güte, Zero hat den Verstand verloren.
„Wir sind’s. Husky und Bru…“
Plötzlich steht Zero auf und zieht die Kapuze zurück – er ist es tatsächlich.
Er trägt jetzt einen Vollbart und Rastafari-Haare.
Fast falle ich ihm um den Hals.
„Was machst du denn hier?“
„Ich habe in der Wüste meine Mitte gefunden.“
„Äh…ja…großartig.“
Er schüttelt den Kopf.
„Wisst ihr eigentlich, dass halb Pyro hinter euch her ist?“
„Ist uns nicht entgangen“, erwidere ich sarkastisch.
Wir laufen gemeinsam auf das Dach des Hauses, wo uns niemand hören kann. Vor uns breitet sich die Wüste aus. Es ist ein schöner, friedlicher Anblick. Dann bringen wir uns gegenseitig auf den Stand der Dinge. Zero hat tatsächlich so etwas wie eine innere Einkehr vollzogen, war eine Zeitlang allein in der Wüste, um zu sich selbst zu finden. Wir dagegen erzählen von Entführung, Erpressung, Flucht.
Zero blickt hinaus in die Wüste, dann berichtet er Neuigkeiten, die alles andere als beruhigend sind: Auf dem verdammten Stick in unserem Schiff steckt ein starker Peilsender, der aus den Distributionscentern in Stanton über eine Backdoor Sicherheitsdaten ziehen soll. Die Frontier Fighters wollen damit die Kontrolle über ganz Stanton gewinnen und die Center dafür zu ihren Operationsbasen machen.
Kurz gesagt: Der Stick ist der goldene Schlüssel nach Stanton.
Mir läuft es eiskalt den Rücken runter.
Und wir haben ihn Pyro auf dem Silbertablett serviert.
„Jeder in ganz Pyro will den Stick daher in die Finger bekommen“, endet Zero.
Es ist alles noch viel schlimmer als wir dachten.
„Und jetzt?“
„Müssen wir euer Schiff finden. Dann haben wir auch den Stick.“
„Du hilfst uns also?“
„Hätte ich euch sonst die Skizze geschickt?“
Ich blicke ihn musternd an.
„Aber warum die verdammte Geheimniskrämerei?“
Zero blickt mich an, als hätte er es mit einem begriffsstutzigen Kind zu tun.
„Hast du Pyro trotz all eurer Erlebnisse immer noch nicht verstanden? In Pyro traut keiner keinem. Erste Überlebensregel.“
„Okay. Wohin jetzt?“
„Ruin-Station. Wenn wir euer Schiff finden wollen, brauche ich ein paar besondere Teile.“
Mir zieht sich alles zusammen.
Ausgerechnet.
„..da kommen wir gerade her.“
„Hilft nichts. Aber ich kenne einen geheimen Eingang.“
Husky steht ruhig neben mir.
„Lass uns los. Je eher und schneller wir es über die Bühne bringen, umso besser.“
Wir nehmen die Zeus, die Zero offenbar von den Citizens zur Verfügung gestellt wurde. Gute Freunde, denke ich, das ist, was im Leben wirklich zählt. Während wir im Quantumflug sind, erzählen wir, dass Husky und ich Stiefbrüder sind und einen Teil unserer Kindheit gemeinsam verbracht haben – und ernten pure Ungläubigkeit.
Dann sagte Zero: „Ich denke, du bist 700 Jahre alt…“
So kenne ich meinen Kumpel – sofort den Finger in die Wunde legen.
„Ja, das muss Quatsch sein“, erwidere ich. „Irgendein Mist, den Smith mir erzählt hat.“
Wir lassen es erst mal dabei bewenden, ich bin bei Zero ohnehin längst in der Schublade der Seltsamkeiten gelandet – aber offenbar kann er damit auch gut leben. Ruin-Station kommt in Sicht und wir nähern uns von der Unterseite der Station. Behutsam navigiert Zero zwischen den zahllosen Trümmerteilen hindurch. Dann hat uns der alte, rostige Koloss bei lebendigem Leibe verschluckt.
„Wir müssen raus in den EVA.“
„Du hast nicht zufällig noch etwas anzuziehen an Bord?“
Ich erspare mir Zeros Blick, weil ich genau weiß, was er denkt.
„Hinten in den Schränken“, antwortet er tonlos.
Ich greife mir einen speckigen alten Undersuit und den mit Abstand hässlichsten Helm mit roten Leuchten um die Augen. Auffällig unauffällig, denke ich mir.
„Bin startklar.“
Wir schweben einmal mehr unter der Station vorbei und ich habe ein krasses Deja-vu – dann erreichen wir die geheime Schleuse und wir tauchen in die Eingeweide der Station ein. Alles wirkt verstaubt, so als wäre seit Ewigkeiten niemand mehr hier unten gewesen. Zero weiß, wo es lang geht. Kabel liegen auf dem Boden oder hängen von der Decke. Wir passieren Gerätschaften, die offenbar der Lebenserhaltung der Station dienen – ich bewege mich so vorsichtig, wie es geht. Wir kriechen durch diverse Schächte, klettern an mehreren Leitern auf und ab – nur zum Ende wieder dort zu stehen, wo wir begonnen hatten.
„Mist, die haben den Zugang dicht gemacht“, sagt Zero.
„Dann müssen wir uns eben so reinschleichen.“
Wir kehren zurück zu seiner Zeus und landen auf einer Plattform. Kaum sind wir auf der Station, schlägt Zero wieder ungewöhnliche Wege ein und wir klettern über Absperrungen und balancieren auf Trägern – schließlich landen wir in der Nähe des stationseigenen Marktes. Auch hier geht es heimlich weiter, durch enge Lüftungsschächte und über schmale Vordächer.
„So kommen wir an den Wachen vorbei, die den Zugang zum oberen Stockwerk kontrollieren. Dort bekommen wir, was wir brauchen.“
Ich klettere Zero stumm und ohne Widerworte hinterher. In solchen Dingen ist er einfach ein Ass. Kaum haben wir den Markt im oberen Stockwerk erreicht, bewegen wir uns wieder ganz normal, so als würden wir eben dazugehören. Wir laufen an Bomben vorbei. Ich schüttele fassungslos den Kopf. Zero besorgt eine Platine, mit der er Stromnetze überlasten kann, ohne sie zu sehr zu schocken. Dann kehren wir zurück.
Unter meinem verrückten Helm fühle ich mich halbwegs sicher. Niemand nimmt von uns Notiz, dann bleibt mir fast das Herz stehen: Riesengroß sind Huskys und mein Konferfei an eine Wand projiziert: Wir werden gesucht wegen des Mordes an Aruhso, auf uns ist ein Kopfgeld von einer Million Credits ausgesetzt.
„Das gibt’s doch nicht…“, flüstere ich.
Mir versagen fast die Beine, als ich das Bild sehe. Uns müssen Überwachungskameras erwischt haben. Zumindest ich bin so getroffen, dass man mich sofort eindeutig identifizieren könnte.
„Weiter, jetzt nicht stehen bleiben“, mahnt Zero.
Verdammt, wir haben Aruhso nicht ermordet…doch: Wen interessiert schon die Wahrheit in Pyro? Für eine Million Credits würden die meisten in diesem System ohne zu zögern wahrscheinlich auch ihre eigene Mutter ans Messer liefern. So schnell wir können, kehren wir zum Schiff zurück und lassen Ruin-Station hinter uns – hoffentlich auf Nimmerwiedersehen.
„Wohin jetzt?“
„Nicht weit“, sagt Zero. „Runter nach Terminus.“
Ich blicke auf mein Mobiglas:
Terminus (Pyro VI) ist die äußerste Welt des Pyro-Systems. Ihre Stickstoff-Sauerstoff-Atmosphäre ist rein technisch gesehen atembar, enthält aber so hohe Mengen an Methan und Kohlendioxid, dass sie sich bei längerem Aufenthalt negativ auf die Gesundheit auswirkt. Pyrotechnic Amalgamated richtete ihr Hauptquartier im Orbit von Terminus ein und gab die Station später auf, als sie das System verließ.
„Mit meinem Equipment können wir den Peilsender direkt aufschalten und scannen, wo das Schiff ist. Auf Terminus ist so ein Terminal, mit dem man das machen kann. Ich war da schon.“
Ich bin wie immer beeindruckt, was Zero so drauf hat. Das sind seine Wüsten-Überlebens-Gene. Er bringt uns direkt und ohne Umwege runter, ein weiterer, neuer unbekannter Planet, auf den wir unsere Füße setzen. Doch die Euphorie ist längst verflogen, zumal Terminus nur ein grauer Steinklotz ist – deprimierend und öde. Weit und breit ist alles grau in grau. Der Himmel hängt tief, darin diesig versteckt Pyros Sonne.
Mich fröstelt.
Hoffentlich funktioniert Zeros Plan.
Flott laufen wir einen kleinen Hügel hinab zu einem Außenposten namens Canards View. Er ähnelt eher einer militärischen Basis – wie sich in den Gebäuden zeigt: Alle ist vorgestopft mit Computern, Scannern, großen Serverracks, technischen Apparaturen. Ich möchte gar nicht wissen, was man hier sonst durchzieht. Zero steuert gezielt einen Raum an, der voller Monitore ist, dreht an diversen Knöpfen und scannt die Umgebung. Dann hat er offenbar das Peilsignal erwischt.
„Wenn mich nicht alles täuscht, ist die Shack-One nur wenige Kilometer entfernt, hier auf Terminus.“
Ich kann mein Glück kaum fassen.
„Warte, ich überprüfe es noch mal, yep…das sollte sie sein.“
Genauso schnell, wie wir gekommen waren, verlassen wir Canards View auch wieder. Zero steuert seine Zeus im Tiefflug über den Planeten, der aber nicht hübscher wird – im Gegenteil: Je höher Pyros Stern steigt, umso mehr zeigt er uns sein vernarbtes Gesicht. Wir ziehen über riesige Krater dahin.
„Vielleicht war das mal ein Testgelände“, sinniere ich und denke an die Bomben, die ich auf der Station gesehen habe.
In jedem Fall ist es kein Planet für große menschliche Ansiedlungen.
„Da ist sie.“
Zero geht tiefer, dann landet er.
„Hoffentlich ist sie das auch“, sagt Husky.
„…und hoffentlich wird sie nicht bewacht.“
Wir ziehen unsere Waffen, nähern uns der vermeintlichen „Shack One“. Dann betreten wir das Schiff durch die geöffnete Heckluke. Ich schaue mich kurz um, dann ist klar: Sie ist es – und sie ist verlassen.
Wir laufen zur Konsole.
Der Stick ist weg.
„Verdammt.“
Nachdem sie hatten, was sie wollten, haben die Xenothreat – oder wer auch immer – das Schiff einfach im Nirgendwo stehen lassen.
„Killen wir erstmal den Virus. Dann leuchtet ihr auch nicht mehr wie ein Weihnachtsbaum.“
Zero packt seine Strom-Schocker-Karte aus, entfernt ein paar Sicherungen und verpasst der „Shack One“ ein paar richtig heftige Stromstöße. Im gesamten Schiff flackert das Licht. Das gleiche macht er im Heck am Engineering-Terminal noch einmal.
„Das sollte es gewesen sein.“
Mir fällt ein Stein vom Herzen.
„Dann zurück nach Sunset Mesa.“
Zero ist nach wenigen Minuten mit seiner Zeus auf und davon, Husky und ich checken erst noch mal die Systeme – doch alles sieht gut aus.
„Wagen wir’s?“
„Yep.“
Das Schiff geht brav in den Quantumflug über, macht auch sonst keine Sperenzchen.
„Sieht gut aus.“
Dann meldet sich Zero über Funk.
„Leute, bei mir ist der Sprit alle. Könnt ihr mich grad aufsammeln?“
Ich kann es kaum glauben, auch dem sonst immer so gut vorbereiteten Zero Sense passiert mal so ein Kardinalfehler – noch dazu im Pyro-System.
„Klar, kein Problem“, sage ich und ich wette man kann mein fettes Grinsen über die Intercom hören.
Der Umstieg funktioniert problemlos, dann kommt auch schon Monox in Sicht. Die „Shack One“ ist nicht wild durchs System gesprungen, wir scheinen den Virus los zu sein. Flott bringe ich uns runter nach Sunset Mesa. Zeros Zeus werden später die Citizens bergen.
„Rust gefällig?“
„Du meinst das Bier, mit dem man auch Lack abbeizen kann?“
„Genau.“
Ich spüre, wie groggy ich nach den letzten Wochen bin.
Pyro hängt mir total in den Knochen.
Ich trinke das Rust aus, der hohe Alkoholgehalt steigt mir sofort zu Kopf.
Hoffentlich haben wir das Schlimmste hinter uns.
„Friedrich sucht euch übrigens auch wie verrückt und macht sich riesige Sorgen, wo ihr seid“, sagt Zero schließlich.
Husky beschließt seinem Großvater über die Comm-Anlage der Station eine kurze Nachricht zu schicken, ich will hingegen nur noch in eines der sauberen Betten des Außenpostens. Ich gebe Zero einen freundschaftlichen Klapps auf die Schulter, dann schleppe ich mich in das nächstbeste Schlafzimmer, ziehe mich mit geschlossenen Augen aus, kippe regelrecht aufs Bett und falle in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
.
Der Brief
Ich lande mit der „Shack One“ in Sunset Mesa, als ich auch schon Friedrichs Stimme im Ohr habe.
„John…bist du das?“
„Ja…schön, deine Stimme zu hören. Endlich. Es gibt so viel zu erzählen und…“
„…warte – ich lande eben, dann müssen wir nicht über Funk sprechen.“
Ich fahre Triebwerke und Energie der „Shack One“ herunter. Ich stehe aus dem Pilotensitz auf und schaue nach draußen. Staubwolken fegen über den Platz. Sunset Mesa ist mitten in eine Senke auf dem Wüstenplaneten gebaut worden. Diese wirkt in der Sonne wir ein Trichter. Hitze und Staub stauen sich – kein schöner Ort, um lange zu verweilen.
Ich blicke mich um – wo steckt Husky nur?
Er wollte sich bei seinem Großvater melden, soviel hatte ich noch mitgeschnitten. Nachdem ich mich hingelegt hatte, hat er sich aber wohl ein Bike geschnappt und eine Runde gedreht – und ist nicht zurückgekehrt.
Jeder hat eben andere Bewältigungsstrategien.
Ich lasse die Heckklappe der „Shack One“ herunter, dann höre ich auch schon ein Schiff in der Luft.
Friedrich kommt mit Huskys „Frost“.
Die riesige Carrack schwebt ein wie Fremdkörper aus einer fernen Welt.
Nur Minuten später ist Friedrich gelandet und läuft die Frontklappe des riesigen Schiffes herunter.
Ich traue meinen Augen nicht – entweder ist er vor Sorge um uns komplett weiß geworden oder er hat sich die Haare gefärbt. Auch trägt er einen Pferdeschwanz.
„Das…äh…ist interessant.“
„John, schön dich zu sehen…erkläre ich dir später. Wo ist Husky?“
„Nicht hier. Nachdem er dich angefunkt hatte, brauchte er wohl eine Auszeit. Es war verdammt viel in den vergangenen drei Monaten.“
Friedrich nickt.
„Für uns alle. Warte, ich erledige kurz die Landeformalitäten. Bin gleich zurück.“
Kaum ist er um die nächste Ecke verschwunden, taucht Husky auf.
„So…ist er also hier. Kommt sofort mit wehenden Fahnen angerauscht. Dabei ist er doch mit Schuld an dem ganzen Mist…“
Husky wirkt unruhig. Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will.
„Nein, er ist sofort gekommen, weil…“
Husky lässt mich nicht ausreden.
„…er will sofort wieder einen auf heile Familie machen. Unser Wiedersehen feiern…“
„Stopp!“, fahre ich ihn an. „Das ist doch Quatsch. Der hat das halbe System auf den Kopf gestellt, um uns zu finden und…“
„…glaub‘, was du glauben willst.“
Husky rennt die Ladeklappe des Schiffes hinauf, schnappt sich eine X1, die Friedrich mitgebracht hatte, und entschwindet damit ein weiteres Mal in die Wüste. Verstört blicke ich ihm hinterher – was nur stimmt zwischen den beiden nicht?
Kaum ist Husky davon, taucht Friedrich wieder auf.
„Husky war hier und….“
„,Ja?“
„…ist mit deiner X1 los. Ich konnte ihn nicht aufhalten, war eine Sache von Sekunden….“
Friedrich atmet tief durch, in ihm arbeitet es.
„Schwierig“, sagt er leise zu sich selbst.
Ich blicke ihn an.
„Was ist schwierig?“
„Wollen wir vielleicht irgendwo hinfliegen, wo man seine Ruhe hat?“
„Klar, gern.“
Ich schaue mich um, ob ich Husky noch irgendwo entdecken kann – aber er ist schon über alle Berge. Wir laufen in die „Frost“ und Friedrich zieht das Schiff steil an den Himmel. Ein paar Minuten lang sagt keiner von uns etwas.
„Soll ich anfangen – oder du?“
„Beginn du“, sagt Friedrich.
Ich sammle kurz meine Gedanken, gehe im Geiste die vergangenen Monate noch einmal durch, dann gebe ich ihm einen Abriss: Aruhsos Erpressung, der Stick, der Virus, die Erpressung durch die Headhunter, die Entführung durch die Xenothreat, unsere Flucht bis zu dem Punkt, an dem wir auf Zero trafen. Und natürlich, dass die Frontier Fighters ganz Stanton übernehmen wollen.
Friedrich hört still zu und steuert die „Frost“ gleichzeitig entspannt über die endlose Wüste von Monox.
Irgendwann bin ich fertig.
„Ganz schönes Abenteuer – und noch viele offene Enden“, sagt er schließlich.
„Kann man so sagen.“
Er kneift die Augen zusammen.
„Was Aruhso angeht – wisst ihr eigentlich, dass er ein bekannter Piraten-Broker war in Pyro?“
„Nein, das wussten wir nicht.“
„Hat für viele gearbeitet. War natürlich auch nur ein Deckname. Und wisst ihr, dass auf euch ein Kopfgeld ausgesetzt ist, weil die Xenothreat denken, dass ihr ihn umgebracht habt?“
„Ja, das haben wir gesehen. Eine Million Credits.“
Friedrich nickt.
„Wir waren es aber nicht.“
„Weiß ich. Aber in Pyro spielt keine Rolle, was stimmt und was nicht.“
Er schürzt die Lippen.
„Nun, dann bin ich wohl dran. Nachdem ich gehört hatte, dass ihr nach Pyro aufgebrochen und nicht wieder aufgetaucht seid, habe ich mich umgehört und mich schließlich selbst auf den Weg gemacht. Ein paar Mal haben wir uns knapp verpasst.
„Ja“, hake ich ein. „Haben wir gehört. In Bueno Ravine.“
„Ja, da hatte ich Probleme mit dem Schiff. Bin fast abgestürzt. Besser, ich fange mal mit meinem Aussehen an“, fährt Friedrich fort. „Kurzum: Ich bin inkognito hier. Mein Deckname ist Casey Colder.“
Ich muss ein Prusten unterdrücken, doch Friedrich ist die Sache anscheinend bierernst.
„Um euch zu finden, musste ich mich mit ein paar Leuten einlassen, die normalerweise nicht mein Umgang sind.“
„Ach ja…?“
„Hast du schon mal was von den Slaps gehört? Und von einem gewissen Ace, der sie anführt?“
Ich schüttle den Kopf.
„Sind Kleinkriminelle. Jetzt keine brutalen Piraten, aber, nun ja…eben auch Leute, die nicht immer auf der richtigen Seite des Gesetzes stehen.“
„Hmm…und?“
„Die haben euch nämlich auch gesucht – also, Husky. Der war bei denen wohl eine Art Mitglied…und weil er dann von einer Sekunde auf die nächste verschwunden ist, haben sie sich aufgemacht…“
Ich erinnere mich wieder – die halbseidenen Typen auf Grimhex.
„…und da habe ich mich drangehängt. War nicht leicht, ihr Vertrauen zu gewinnen.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Ich musste ein bisschen mitspielen. War auch bei einem kleinen Überfall auf die Citizens for Pyro dabei.“
Mir bleibt mein Lächeln im Hals stecken.
„Du hast…“
„…manchmal muss man sich ein wenig schmutzig machen, John. Ging aber alles glimpflich ab. Keine Sorge.“
Ich erspare mir einen Kommentar.
„…und bei den Headhuntern bin ich jetzt auch bekannt. Ich musste schließlich herausfinden, was sie mit euch vielleicht vorhatten. Die verschleppen Menschen.“
Ich verschlucke mich fast.
„Ja, aber das ist doch kein Grund…Du hast dich erpressbar gemacht.“
„Casey Colder hat sich erpressbar gemacht. Friedrich hatte Angst um euch.“
„Und wenn sie rausfinden, wer du wirklich bist…“
„Du unterschätzt mich, John.“
Ich atme tief durch.
„Okay, so bist du also auf unsere Fährte gekommen.“
Friedrich nickt und deutet nach draußen.
„Da unten, das sieht gut aus.“
Er hat eine kleine Seenlandschaft entdeckt.
„Bevor wir landen, möchte ich dir noch etwas zeigen.“
Friedrich überspielt mir ein Überwachungsvideo, auf dem Husky zu sehen ist, der übelst eine andere Person beschimpft – wie es scheint, einen Recruiter der Advocacy. Nur dass auf dem Video lediglich Husky allein zu sehen ist.
„Hier haben wir das Problem“, sagt Friedrich.
Mir läuft es kalt den Rücken runter – hat sich Husky seine ganze Agentenstory nur ausgedacht? Hat mein vermeintlicher Stiefbruder, mit dem ich gerade drei Monate aufs Engste beisammen war, eine Psychose? Etwas, das mir bisher entgangen ist?
Friedrich blickt stur vor sich hin, während er die „Frost“ fast beiläufig landet. Wir laufen aus dem Schiff hinaus in die Kälte des Planeten und blicken uns in die Augen. Husky und ich – darum dreht sich alles. Ich fasse mir ein Herz und spreche aus, was ich schon seit Wochen mit mir herumtrage und was wahrscheinlich so etwas wie die Gretchenfrage ist – die große Frage, ob Husky und ich tatsächlich Stiefbrüder sind.
Ich erzähle von der Höhle auf Vuur, unserem Moment der Offenbarung. Friedrich blickt mich verklärt an, ist in diesem Moment scheinbar ganz weit weg in der Vergangenheit. Auch ihm kommt die Wahrheit nur schwer über die Lippen, so scheint es. Dann aber spricht er es aus: „Es ist wahr, John. Ihr seid als Kinder auf Ellis gemeinsam groß geworden. Und deinen Namen – den hast du von uns….“
Ich kann im ersten Augenblick nicht glauben, was ich höre und weiß schon gar nicht, was ich darauf antworten soll.
Friedrich blickt unterdessen in die Ferne.
„Es ist wahr – und so viel ist schief gelaufen.“
Dann greift er sich in die Tasche und holt einen alten Brief heraus.
„Hier – den hatte ich geschrieben für den Fall, dass wir uns nicht wiedergesehen hätten.“
Ich nehme den Brief, falte ihn mit zitternden Händen auseinander und setze mich an einen Felsen. Friedrich läuft hinunter zum Wasser. Ich muss den Brief zwei, dreimal lesen, bevor ich alles aufgenommen habe. Ich sitze noch ein paar Minuten schweigend da, dann folge ich Friedrich.
Still setze ich mich neben ihn.
„Immer wieder habe ich den Brief begonnen und dann gelöscht“, sagt er schließlich. „Wie sagt man jemandem, dass er nicht der ist, der er glaubt zu sein?“
Ich blicke auf das Wasser, das mit leichten Wellen ans Ufer schlägt. Ich suche die richtige Antwort, aber sie will mir nicht einfallen. Dann sage ich: „Ich will mich bei dir bedanken. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich längst tot. Eines von Millionen Kindern, die in diesen Einrichtungen vor die Hunde gehen.“
In mir tobt ein Gefühlschaos.
„Nachdem wir Ellis verlassen hatten und dich in Stanton wiedersahen, hat mich fast der Schlag getroffen. Ich habe gedacht, wir sehen uns nie wieder.“
„…und ich habe immer schon irgendwie das Gefühl gehabt, dass du mir wie ein Ersatzvater bist. Nur warum hast du das nicht schon viel eher gesagt?“
Friedrich wiegt leicht mit dem Kopf.
„Dinge brauchen ihre Zeit, John. Und den richtigen Moment“, antwortet er bedächtig und zeigt mir den Bericht der Advocacy über das Aufbringen des Sklavenschiffes.
„Mehr hatten wir damals nicht.“
In diesem Moment wird mir klar: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer ich bin, woher ich komme, wer meine Eltern sind. Dann rufe ich mich innerlich zur Ordnung – ich bin John Brubacker, Journalist. Wir definieren uns durch unser Tun und durch unsere Beziehungen. Das ist es, was uns ausmacht. Das sagt uns, wer wir sind.
Ich denke an Killer.
„Ich muss dringend zurück nach Stanton – wegen Killer. Ich wollte eigentlich nur ein paar Tage weg sein. Er muss längst…“
Friedrich legt mir die Hand auf die Schulter.
„Keine Sorge, Killer geht’s gut. Ich war in deiner Redaktion, als ich anfing, nach euch zu suchen. Da habe ich ihn mitgenommen. Er ist derzeit auf Microtech in Sicherheit.“
Mir fällt eine tonnenschwere Last von den Schultern und ich sinniere über den Umstand, dass ich vielleicht ein Findelkind aufgenommen habe, weil ich selbst eines bin. Manchmal spielt einem das Universum seltsam mit.
Dann kommt mir wieder Husky in den Sinn – einerseits bin ich nun fester Teil der Winters-Familie, andererseits sitze ich auch zwischen allen Stühlen. Friedrich muss meine Gedanken erraten haben, denn er sagt plötzlich: „…und das mit Husky, dass lass mal meine Sorgen sein. Kümmere du dich erstmal nur um dich selbst.“
Eben war ich noch über 700 Jahre alt, nun habe plötzlich eine echte Vergangenheit. Wenn ich nur wüsste, was es mit meiner vermeintlichen Zeitreise auf sich hat…als ich Friedrich darauf anspreche, macht er eine kurze Pause, dann sagt er mit seltsamem Unterton in der Stimme: „Ich weiß nur eins: Du bist auf einem Sklavenschiff gefunden worden….“
Ich habe das dumpfe Gefühl, dass er mehr darüber weiß, belasse es aber dabei.
Wir stehen auf, laufen zurück zur „Frost“ und heben ab – einer ungewissen Zukunft entgegen.
Wüstensöhne
Erneut habe ich fast einen ganzen Tag geschlafen. Kein Wunder: Zum einen sind die Betten eine Wucht, sauber und die Matratzen sind nicht durchgelegen, zum anderen scheint sich mein Körper jetzt einfach zu holen, was er nach den Anstrengungen der vergangenen Monate gebraucht hat. Husky und ich sind Stiefbrüder, ich selbst bin ein Waisenkind, gerettet von einem Sklaventransport – wer würde angesichts solcher Enthüllungen nicht überfordert sein und nicht innerlich irgendwann zusammenbrechen?
Es ist kein Laut zu hören.
Zero hat Recht, die Abgeschiedenheit in der Wüste lässt einen runterkommen, entspannt Nerven und Sinne. Ich ziehe mich an und mache mich auf hinaus in die Sonne.
Husky ist noch nicht aufgetaucht, Friedrich wieder los. Ich hoffe nur, dass er sich nicht zu tief in seine Piratenkontakte verstrickt. Andererseits: Er ist gewiefter, als wir alle denken. Ich bin mir sicher, er hat einen Plan B, falls Plan A nicht funktioniert.
Ich stromere durch das leere Gemeinschaftshaus.
Alle ausgeflogen, vielleicht in das nahegelegene Sunset Mesa.
Mir soll es recht sein.
Hinter dem Haus steht eine kleine Drake Cutter und soeben macht sich eine vermummte Person daran zu schaffen und werkelt an einem Bike.
„Hey…“
„Morgen, ausgepennt?“
Zero.
„…yo….was machst du?“
„Bereite unseren Trip in die Wüste vor. Ich zeige dir, wo man seine Balance findet.“
„Ach ja…?“
„Einsteigen, Bru.“
Ehe ich mich versehe, sitze ich im hinteren Teil des kleinen Schiffes auf dem Bett, während Zero die Cutter hinaus in die Wüste lenkt.
„…wem gehört dieses Schiff nun wieder?“
„Meinen Freunden, hab‘ zu denen echt einen guten Draht.“
Ich grinse, Zero kann einfach mit jedem.
Die Cutter ähnelt eher einem fliegenden Sarg, man kann als Passagier nirgendwo hinaussehen.
„…oh, da unten sind Quasi Grazer. Lust, mal einen zu streicheln?“
„Quasi…was?“
„…Grazer.“
Nur Momente später stehen wir vor den Tieren, eine Art Büffel, die aber Eier tragen. Sie grasen friedlich, aber ich halte lieber ein wenig Abstand. Einmal in Rage, trampelt so ein Tier jemanden im Handumdrehen tot. Die Panzerplatten auf ihrem Schädel sind jedenfalls eine Warnung, dass sie auch anders können.
„Okay, nett. Und jetzt…“
„Pscht.“
Ich höre es kurz nach Zero – ein Motorengeräusch, doch es kommt nicht aus der Luft. Sekunden später jagt ein Bike über den nächsten Kamm. Es ist Husky, diesmal auf einer Nox, keine Ahnung, wo er die schon wieder her hat.
„Husky…“
„Bru…Zero…schön euch zu sehen.“
Er wirkt wieder wie ausgewechselt.
Gestern so, heute so – hat er vielleicht gar eine gespaltene Persönlichkeit? Nach einem Hirntumor wäre das sicher nicht verwunderlich.
Wir blicken uns an.
„Alles klar?“
„Yep.“
„Kommt mal her, Jungs.“
Zero steht auf einem Hügel und winkt uns zu sich hinauf.
„Was seht ihr?“, fragt er, als wir neben ihm stehen.
Ich starre hinaus in das rötliche Land, das sich eintönig bis zum Horizont erstreckt. Die Luft flirrt.
„Nichts“, sage ich schließlich.
„Ganz genau“, erwidert Zero, „nichts. Das ist das Geheimnis der Wüste.“
Ich blicke weiter hinaus, dann verstehe ich, worauf Zero hinaus will. Er atmet tief ein, als würde er den Odem der Wüste in sich aufnehmen. Die Kunst ist, sich bewusst darauf einzulassen. Und Zero hat recht, ich bin nicht in der Balance, nicht in meiner Mitte. Husky genauswenig. Wie könnten wir auch? Wir sind Getriebene, Verlorene und Wiedergefundene.
Wir sind auf der Suche.
Ich setze kurz an, um meine Gedanken zu formulieren, behalte sie dann aber für mich. Nur die Zeit kann Wunden heilen, heißt es nicht so? Aber ja – vielleicht können wir hier einen Anfang machen. Hier und heute in der Wüste auf Monox.
Zero beendet seine Kurz-Meditation.
„Ich kenne hier in der Nähe einen See, da könnten wir in Ruhe ein paar Bier trinken.“
„Klingt nach einem Plan.“
Während Husky weiter bikt, fliegen wir mit der Cutter dem See entgegen – es dauert nicht lang, da geht Zero schon wieder tiefer und landet schließlich an einem sanft abfallenden Ufer, im Hintergrund steil aufragende Klippen. Nicht der idyllischste, aber doch ein schöner Ort. Wir laden die Kiste mit Bier aus, während Husky mit der Nox auf dem See ein paar spritzige Runden dreht. Schließlich köpfen wir das erste Rust.
„Das war jetzt dringend nötig“, sage ich.
Husky donnert vorbei und ist ganz bei sich.
„Ist das nicht cool?“, fragt Zero. „Was brauchen wir noch?“
Ich nicke.
„…der ganze Stress in Stanton….das hier, das ist doch das wahre Leben.“
Ich wünschte, ich könnte mir die Welt auch so einfach machen.
Die Sonne wandert gen Horizont, bald wird sie untergehen. Ich ziehe die Klamotten aus und gehe ins Wasser, so lange sie noch wärmt.
„Uh, ist das kalt.“
Husky und Zero grinsen. Ich stolziere ein wenig im Wasser umher, dann lege mich ans Ufer und lasse die Beine ins Wasser baumeln.
„So kann man es aushalten. Wo ist mein Rust?“
Zero reicht mir eine neue Flasche. Ich habe keine Ahnung, wie hoch der Alkoholgehalt in dem Pyro-Gesöff ist, aber eines ist sicher: Es braucht nicht viele davon, um einen im Tee zu haben. Zero schwankt schon verdächtig.
„Wisst ihr eigentlich, dass ihr meine besten Freunde seid?“
Täuscht es oder lallen wir bereits ein wenig?
„Ich möchte euch noch was erzählen…“
„…immer raus mit der Sprache.“
Ich sammle meine Gedanken, dann berichte ich von meinem Gespräch mit Friedrich, von meiner Entführung als Kind und wie ich in die Winters-Familie gekommen bin. Zero nimmt es mit Gleichmut, aber auch Skepsis hin, Husky nickt kurz. Zumindest haben es beide wahrgenommen. Es wird bestimmt noch einmal die Sprache drauf kommen. Ich belasse es dabei.
Die Sonne ist mittlerweile um den Felsen herumgewandert und brennt mir auf den Pelz.
„Bru, so kriegste garantiert nen Sonnenbrand“, sagt Zero, während er sich ein neues Rust genehmigt.
„Schon gut“, erwidere ich. „ich wollt‘ mir eh grad den Sonnenuntergang ansehen….“
Ich blicke auf die Felsen.
„Ist doch ein Klacks für mich.“
„Bru…nicht“, höre ich noch, doch ich bin schon unterwegs.
„…von da oben kann man den Untergang bestimmt viel besser erleben…“
Ich stolpere barfuß über Steine und Gestrüpp, fluche vor mich hin, bald wird der Anstieg immer steiler.
„…hab‘ ich mich wohl mal wieder verschätzt.“
Die anderen sind längst außer Hörweite.
Ich kraxle umher, rutsche in meiner Buchse über den Stein – immer mit einem Rust in den Händen. Warum nur entpuppen sich kleine Hügel stets als Mount Everest, wenn man sie besteigen will? Ich wette, die Natur treibt mit uns üble Späße. Komm näher, du schaffst das –oh, leider doch nicht…
Ich nehme einen Schluck Rust.
„Husky? Zero?“
Ich rufe ihre Namen in die einbrechende Nacht hinein.
Weg.
Ich klettere weiter bergauf, das wäre doch gelacht, doch dann geht es beim besten Willen nicht mehr weiter. Da müsste ich schon Flügel haben.
„Gut, dann eben wieder abwärts.“
In der Ferne sehe ich die Cutter. Verdammt, das sieht weit weg aus. Zum Henker, wie lange bin ich schon unterwegs? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Das Glück ist mit Kindern und Betrunkenen, oder? Ich blicke den Berg hinab, dann stürze ich mich in die Tiefe. Ich rutsche, überschlage mich mehrfach, schliddere knapp an einer Felsspalte vorbei und lande schließlich wieder auf der Ebene, die zurück ans Ufer führt. Ich klopfe mich ab. Nichts gebrochen, nur ein paar Schürfwunden.
Ich laufe zurück zur Cutter und finde sie verlassen vor.
„Hallo…?“
Nichts.
Dann falle ich im Dunkeln über Husky, der sich mit einer Medipen abgeschossen hat.
„Nee…“
Mit den Füßen stoße ich eine Reihe leerer Rust-Flaschen um.
Himmel wie lange war ich weg?
Ich suche meine Klamotten, vergebens. Sie sind nirgends zu finden. Ich ahne was…
„Zero?“
Aus dem Schiff höre ich leises Schnarchen.
Solche Suffköppe.
Mein Kopf ist mittlerweile wieder halbwegs klar, mich friert.
Ich laufe zu Zero, rüttle ihn.
„Zero, hey…weisst du, wo meine Klamotten sind?“
„Hm…?“
„…meine…“
„Die Wüste verschenkt nichts….die Wüste….“, stammelt er.
„Ja, ja, weiss ich, aber jetzt…“
Ich bin geneigt , ihm ein paar Backpfeifen zu geben.
„Zero, mir friert gleich der Hintern ab.“
Er schlägt halb die Augen auf.
„Die Wüste…“
„…ein Wort noch.“
Schwerfällig rappelt er sich hoch, der Alkohol hat ihn fest im Griff.
„Mein Klamotten, meine Schuhe…“
„…hat mir die Wüste geschenkt.“
Zero steht auf wie ein Schwergewichtsboxer nach der 15. Runde und taumelt aus dem Schiff.
„..warte, ich leuchte mal.“
Zero ist dicht wie eine Strandhaubitze und fuchtelt mit seiner Lampe wild umher.
Husky wacht kurz auf, nur um sich gleich wieder wegzuschießen.
Ich geb‘s auf.
Ich lege mich auf den Rücken und blicke hinauf an den Sternenhimmel. So viele Sterne, so viele Versprechen. Ich grinse. Wohin wird uns unser Weg noch führen? Was wird uns dort draußen erwarten? Mir ist, als würden die Sterne zu mir sprechen. Irgendwann werde ich meine wahre Heimat wiederfinden – nachdem ich Killers gefunden habe. Wir alle werden unser Schicksal finden – das ist es, was einem die Sterne erzählen, wenn man nur genau genug hinhört.
Hinter mir nehme ich ein leises Stöhnen wahr.
„Bru…?“
„Hier.“
„Alles klar?“
„Bei mir schon.“
Husky setzt sich einen weiteren Schuss, aber diesmal offenbar das Gegengift. Sofort wird sein Blick klarer. Ich enthalte mich einer Bemerkung, aber Tatsache ist: Hinter seiner Fassade brodelt etwas. Etwas, das er unterdrückt, das er nicht zulassen kann.
„Bru..deine Klamotten sind im Schiff, im Schrank.“
Zero.
Ich stehe wortlos auf und ziehe mich an.
So langsam kriegen wir uns wieder ein.
„Heimweg?“
Stilles Kopfnicken.
„Ich nehme zurück die Pulse, okay?“
„Klar, wenn du willst.“
Beide sind wieder bei halbwegs klarem Verstand. Wir räumen alles zusammen, mittlerweile ist es stockfinstere Nacht, ich drehe ein paar Proberunden auf dem Wasser dann folge ich der Cutter, die bald nur noch als fernes Licht zu sehen ist.
Manchmal klaut dir die Wüste deine Hose und deine Schuhe.
Dafür schenkt sie dir die besten Freunde der Welt – die Wüste hat zu mir gesprochen.
Visionen
„Wollt Ihr zum Abschluss mal was Cooles sehen?“
Husky und Zero stehen vor dem Eingang zu einer Höhle.
„Warum nicht…“
Ich nicke und schüttle mir gleichzeitig den Staub aus dem Anzug. Ich bin froh, dass ich von der Pulse absteigen kann. Sie fetzt zwar los wie von der Hornisse gestochen, aber sie ist auch extrem schwer zu lenken, unbequem und geht in die Kurven, als wollte sie physikalische Gesetze brechen. Für meinen Geschmack alles ein wenig zu deftig. Die paar Klicks zurück zum Gemeinschaftshaus auf ihr haben mir jedenfalls gereicht. Da lobe ich mir meine Nox – höchste Zeit, damit mal wieder einen Ausflug zu machen.
„…da unten ist ein geheimes Lager der Citizen for Prosperity. Vorräte für den Notfall. Falls die Frontier Fighters plötzlich angreifen“, erklärt Zero.
„Aha…und da dürfen wir einfach so rein?“
Zero grinst.
„Klar, wenn ich mit dabei bin…“
Spricht‘s und springt nur einen Moment später ein paar Steinstufen hinab in die Tiefe. Husky und ich folgen – ist vielleicht wirklich ein ganz schöner Abschluss für unseren kleinen Wüstentrip, um uns wieder zu erden.
Wir laufen ein paar Schritte in die Höhle hinein – und mir gehen die Augen über. In der Höhle wachsen überall phosphoreszierende Pilze. Sie bedecken Wände und Decken und lassen in ihrer Nähe mit ihren Sporen sogar die Luft leuchten.
„Wahnsinn, das sieht ja cool aus.“
„Ja“, sagt Zero, „aber geh‘ nicht zu nah ran. Sonst…“
„…sonst was…?“
„….hast du schon mal was vom Propheten von Pyro auf Monox gehört?“
„Nein.“
Zero klärt uns auf.
Der Prophet war ein Höhlen-Schreckgespenst der Bergleute von Pyrotechnic Amalgamated – eine unheimliche Stimme habe ihnen immer wieder geflüstert: „Geh oder du wirst zerquetscht.“ Auch sollen diverse Outlaw-Gangs von der geheimnisvollen Stimme ihren Segen bekommen haben, Machtansprüche anzumelden. Heute glaubt man, dass die mysteriöse Stimme das Ergebnis einer akustischen Anomalie sein könnte, die durch das Zusammenspiel zwischen intensiven Sonneneruptionen und einer metallreichen Mine verursacht wird.
„Klingt trotzdem gruselig.“
„…vielleicht haben sie auch nur zu nah an den Pilzen geschnüffelt.“
Wir laufen weiter in die Höhle hinein. In der Tat ist sie voll ausgebaut, einem Bunker gleich. Lebensmittel, technische Gerätschaften, Waffen – im Fall eines Angriffs der Frontier Fighters könnten sich die Citizens hierhin erst einmal sicher zurückziehen. Künstliches Licht braucht es kaum, die Pilze geben der Höhle eine natürliche Beleuchtung.
Ich schaue mich um.
Irgendwie werde ich von den Pilzen magisch angezogen. Sie haben etwas hypnotisches. Nach und nach bleibe ich zurück. In einer Spalte wächst eine besonders große Kolonie und ich habe das Gefühl, als würden sie mich rufen. Allen Warnungen zum Trotz krieche ich fast komplett hinein und bin den Pilzen schließlich ganz nah.
„Wow, ihr seid wunderschön…“
Plötzlich durchzuckt es mich wie ein Blitz.
Vega II, Angriff der Vanduul. Ich bin auf einem riesigen Kreuzer, sitze an einer Waffe, um mich herum brennt das Weltall. Menschen brüllen Befehle, Metall kreischt, Laser donnern….ich werde durch die Luft geschleudert…
Ich reiße den Kopf zurück, die Bilder verblassen.
Ich stoße mich von den Wänden ab, stolpere den anderen mit zitternden Knien hinterher.
„Bru…alles okay?“
„Ja…äh…ja, alles okay.“
Irgendetwas in mir drängt mit Macht an die Oberfläche.
Nein, nichts ist okay. Die Pilze…sie sind nun überall um mich herum. Ist es real…es muss real sein…oder straft mich meine Phantasie Lügen…weitere Bilder tauchen auf. Die Vanduul…wo sind meine Freunde…Marshman, Eliot,…Marsh hilf mir…Marsh….Ellie…
Ich höre fremde Stimmen.
„Bru…Bru…“
Ich muss zu Bishop. Es war eine Falle, wir sind verraten worden. Wir sind…beweg dich, John…du musst hier raus, streng dich an…Bishop, ich muss zu Bishop. Er muss wissen, dass…
Gleißendes Licht strahlt mir ins Gesicht.
Wo bin ich? Wo bin ich nur?
Die Regen-Krise
Über mich beugt sich ein Arzt.
„Mr. Brubacker…“
„Hm…“
Ich öffne leicht die Augen.
„…schön, dass Sie wieder bei uns sind.“
„Wo bin ich?“
„Auf Patch City in Pyro…ein gewisser Mr. Friedrich Winters hat sie hergebracht.“
„Friedrich…was ist passiert?“
Der Arzt blickt mich durchdringend an.
„Sie können sich an nichts erinnern?“
Ich rapple mich hoch.
„Doch…ich weiß, dass ich….wie lange war ich weg? Wo sind meine Freunde?“
„Sie haben eine Notiz hinterlassen.“
Auf meinem Mobiglas blinkt eine Nachricht. Sie ist zehn Tage alt.
„Und wie lange war ich bewusstlos?“
„Sie haben zwei Wochen im Koma gelegen.“
Mir wird schwindelig.
Der Arzt blickt mich lange an.
„In den zwei Wochen ist viel passiert. Sie haben Glück gehabt…“
„Glück?!“
„Ja, wir haben derzeit eine ausgemachte Regenerations-Krise. Etwas stimmt mit den Imprints und den Gedächtnisaufzeichnungen nicht. Wie es scheint…“
Die Tür öffnet sich.
Friedrich.
„Mann, ist das gut, dich zu sehen!“
Er nickt, wirkt besorgt.
„Alles okay mir dir?“
Ich nicke matt.
„In Stanton ist die Hölle los. Ich erkläre es dir…“
Schweigend höre ich zu.
Offenbar gibt es ein ernstzunehmendes Problem mit den Imprints, die Gründe sind noch unbekannt. Kurzum: Wer stirbt, ist und bleibt tot – keine Regeneration möglich. Jeder kann betroffen sein. An Lösungen werde fieberhaft gearbeitet. Wie es aussieht, braucht es diverse Mineralien als Zusätze für einen funktionierenden Regenerations-Prozess. In Stanton gibt es die Mineralien offenbar auf den Monden Aberdeen und Daymar. Wie es der Zufall will, hatte die einstige Hathor-Bergbaugruppe dort Orbitallaser installiert mit denen schon früher brutal die Erde aufgeschweisst wurde, um möglichst schnell an Bodenschätze zu gelangen.
Friedrich beugt sich zu mir herüber und zeigt mir Bilder. In den Nachrichten gibt es quasi kein anderes Thema mehr. Für ein paar Sekunden bin ich froh, dass ich in Pyro bin, dann meldet sich meine innere Reporter-Stimme.
„Das ist doch Quatsch“, entfährt es mir schließlich spontan und ungewollt laut. „Man braucht doch keinen Orbitallaser, um ein bisschen Erde wegzuschaffen und anschließend ein paar Ressourcen abzubauen…“
Alles in mir schreit danach, dass etwas anderes dahinter steckt. Unwillkürlich denke ich an die Killersatelliten-Geschichte. Aber das wäre zu verrückt, vor aller Augen eine Biowaffe zu testen…obwohl…vielleicht gerade deshalb…
Friedrich unterbricht mich in meinen Gedanken.
„Und jetzt? Zurück nach Stanton? Nachsehen, was da wirklich los ist?“
Ich schüttele den Kopf.
„Nein danke, mein Bedarf an Kriminellen ist gedeckt.“
Friedrich legt den Kopf schief.
„So verzagt kenn ich dich gar nicht.“
„Nein, es ist nur…“
Ich atme tief ein.
Friedrichs Mobiglas piept.
„Moment…“
Das Gespräch dauert länger. Ich schlage im Spectrum unterdessen zum Thema Regeneration nach.
Ein Imprint ist ein vollständiger und ganzheitlicher Bioscan einer Person, der nicht nur die DNA, sondern auch alle Erinnerungen, Gedanken und die Persönlichkeit aufzeichnet. Bei der Regeneration wird ein neuer Körper erschaffen, der eine nahezu identische Kopie des Originals ist, abgesehen von den Auswirkungen des so genannten Echos – und hier scheint das Problem zu liegen. Traumatische Ereignisse, wie meine explosionsartig aufgetauchten intensiven Erinnerungen an meine Navy-Zeit, könnten dazu führen, dass das Gehirn in eine Art Schockzustand gerät. Viele finden daraus nicht wieder zurück.
Das meinte der Arzt damit, dass ich Glück hatte.
Friedrich kommt zurück, sieht nun echt besorgt aus.
„Die Sache zieht größere Kreise…“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Schwarzmarkthändler kaufen wohl alles weg, was es für das Beenden der Krise braucht. Sie kriegen sie nicht in den Griff und es wird schlimmer. Aber…“
Friedrich checkt sein Mobiglas.
„…aber wir können von Pyro aus etwas tun. Die Citizens for Prosperity haben mich angeschrieben. Sie fragen, ob wir für sie die Monde rund um den Gasriesen Pyro V checken können.“
„Warum?“
„Warte, ich leite dir die Nachricht weiter.“
Ich grinse.
„Sie ahnen wohl nichts von deinem Deal mit den Headhuntern und deinem Angriff auf ihr Depot…“
Friedrich lächelt.
„Das war nicht ich. Das war Casey Colder.“
„Sicher.“
„Also, was tun wir?“
„Wenn es der Sache denn dient…“
„Sei nicht so sarkastisch, John. Das steht dir nicht.“
Ich ziehe mich mürrisch an, dann machen wir uns auf den Weg. Ich frage mich, wie es Eliot und Marsh geht, meinen Navy-Brüdern. Wenn das hier alles vorbei ist, werde ich mich mit Killer auf die Suche nach ihnen machen. Ich weiß jetzt wieder ein Stück mehr, wer ich bin.
Jedenfalls nicht der, den alle zu kennen glauben.
Niemand würdigt uns eines Blickes, während wir zu den Hangars laufen.
Friedrichs Verkleidung passt wirklich perfekt nach Pyro.
Das macht eben einen Geheimagenten aus – verschiedene Identitäten.
„Womit fliegen wir?“
„Ich bin mit der Silver Arrow unterwegs.“
Gut, das ist jetzt nicht das passendste Schiff für Pyro. Andererseits ist es als Explorer mit viel Platz gut geeignet für das, was wir vorhaben. Ich bin froh, dass ich die „Shack One“ mal im Hangar stehen lassen kann.
„Okay.“
Nach kurzem Flug mit der „Arrow“ kommt Pyro IV auch schon in Sicht – wie beim ersten Mal bin ich gefesselt von seiner Schönheit. Der Ort, den wir anfliegen sollen, heißt „Goners Deal“ und liegt laut Karte direkt am Nordpol. Ich blicke aus der riesigen Frontscheibe hinaus – direkt am Pol erhebt sich ein enormes Bergmassiv, das in diesem Moment von der Sonne beschienen wird.
„Großartig.“
„Warum willst du eigentlich nicht zurück nach Stanton, jetzt, da du die Gelegenheit dazu hast?“
Es ist eine Frage, auf die mir spontan keine Antwort einfällt.
Ich sinniere.
Monatelang haben Husky und ich uns nichts sehnlicher gewünscht, als Pyro endlich hinter uns zu lassen. Jetzt, da es ruhiger und entspannter wird, spüre ich diesen Drang plötzlich nicht mehr.
Ich blicke auf Pyro IV.
„Es ist einfach wunderschön hier…wild und man ist innerlich frei….das macht etwas mit einem.“
Ich mache eine Pause.
„Der ganze Stress in Stanton…ArcCorp, das ewige Gehetze der Menschen…“
Friedrich nickt.
„Pyro ist eben…anders.“
Wir fliegen am Nordpol durch ein tiefes Tal.
Unter uns glänzt alles als wäre es aus flüssigem Blei.
Es braucht einfach keine weiteren Worte.
„Da ist die Basis.“
Friedrich landet auf einem Landepad, das für die riesige „Silver Arrow“ viel zu klein ist.
„Offiziell ist das ein Posten der Headhunter“, sagt Friedrich.
„Verstehe ich nicht….Hutton sagte doch…“
„Wir sollten jedenfalls vorsichtig sein. Auf dich und Husky ist immer noch ein Kopfgeld ausgesetzt.“
„Klar.“
Wir laufen durch die Siedlung und wie so oft in letzter Zeit scheint sie weitgehend verlassen. Kaum habe ich das nächstbeste Haus betreten, erwischt mich auch schon eine Kugel.
„Friedrich…“
Ich spüre, wie hinter mir das Schott geöffnet wird, dann werde ich ins Freie gezogen. Ich höre entfernt, wie Friedrich mit dem Schützen diskutiert, dann verpasst er mir einen Medipen, der mich zurück auf die Füße holt.
„…ich habe doch gesagt, vorsichtig…“
„Mein Fehler, sorry.“
Offenbar nur, weil Friedrich mit den Headhuntern aktuell gut gestellt ist, lassen sie uns ziehen.
„Wir sollten Hutton suchen.“
Wir stromern weiter durch den Außenposten – schließlich sehen wir einen einzelnen Mann, der etwas abseits steht und hinaus in die Ferne blickt.
„Hutton?“, frage ich leise.
Die Person, versteckt unter einem undurchsichtigen gepanzerten Helm, deutet ein zaghaftes Nicken an.
„Sie übernehmen den Job?“
„Ja.“
„Gut.“
Er ist nicht wirklich gesprächig.
„Zehn Prozent von dem, was sie finden, dürfen sie behalten.“
Mir liegt ein entsprechender Kommentar auf den Lippen, doch Friedrich kommt mir zuvor.
„Einverstanden.“
Ich mustere den Unbekannten.
„Eins würde mich noch interessieren…“
„Ja…?“
„Was macht einer von den Citizens bei den Headhuntern?“
„Krasse Zeiten erfordern krasse Allianzen.“
Dann dreht er sich um und geht davon.
„Komischer Typ.“
Ich blicke die Ebene hinab, vor uns erstreckt sich weites, wildes Land. Ich denke an Vooslo und an Chhris – mit beiden war ich vor Urzeiten auch mal im Nirgendwo, um zu minern – längst verflossene Freundschaften, traurig irgendwie.
„Wir werden jemanden brauchen, der sich damit auskennt.“
Ich knie mich hin und begutachte das Gestein unter unseren Füßen, das aussieht, als wäre selbst einmal flüssig gewesen. Meine Kompetenz auf dem Gebiet ist Null. Ich würde selbst an purem Gold vorbeilatschen, so viel steht fest.
„Kennst du einen gewissen Ultime Fauchlevaunt oder so ähnlich?“, fragt Friedrich.
„Nie gehört.“
„Ist wohl so eine Art Geo-Wissenschaftler. Vielleicht kriegen wir den verpflichtet.“
„Wie du meinst. Ich glaube Zero kennt sich auch aus.“
Mein Mobiglas piept.
„Hey, Hutton hat uns zeitweilig zwei ATLS Geo überlassen. Sind wohl gut zum Minern geeignet.“
Friedrich nickt geistesabwesend, während wir zurück zum Schiff laufen.
An Bord checkt er sein Mobiglas.
„Saldynium und Jaclium sind Mineralien, die wir hauptsächlich benötigen.“
Friedrich scrollt auf seinem Mobiglas durch irgendwelche Listen.
„Wow, vor allem Saldynium ist echt wertvoll. Zwei Kisten davon kosten so viel wie die ganze Arrow.“
Vielleicht lohnt sich das Ganze nicht nur moralisch, sondern für uns auch finanziell – wäre zumindest nicht schlecht, ich bin fast pleite.
Friedrich zieht die „Silver Arrow“ an den Himmel, zurück nach Patch City.
Er ist in Gedanken versunken – fast in sich gekehrt.
„Bevor wir hier richtig loslegen, muss ich aber erst was klären.“
Ich frage lieber nicht nach.
Journal-Eintrag 12 / 05 / 2955
Die Dame an der Rezeption des Krankenhauses auf der Gaslight-Station trägt einen blutverschmierten Kittel. Sie sieht aus, als würde sie nebenbei in einem Schlachthaus arbeiten.
Ich würge einen Ekelreiz runter.
„Ja?“
Ich fühle mich immer noch schlapp durch die ganze Pilzsache.
„Hi, ich würde mich gern einmal updaten lassen.“
„Geht aktuell nur eingeschränkt“, sagt sie ohne hochzublicken.
„Ich weiß, wegen…“
„Zimmer drei.“
Ich nicke und mache mich auf den Weg.
Mein Mobiglas piept.
Enos…alles in mir sträubt sich.
Keine Ahnung, wo Friedrich da reingeraten ist.
Es folgt ein kurzes Video – und ich traue meinen Augen nicht. Es ist eine Art Promo-Video der „Slaps“, in dem lauter seltsame Gestalten zu sehen sind. Typen denen man lieber aus dem Weg geht, Schläger und Psychopathen. Ich schüttele den Kopf. Soweit ist also gekommen: Statt heimlich krumme Dinger zu drehen, machen Outlaws hübsche Werbefilmchen für sich.
Ich will schon abschalten, als plötzlich Friedrich in dem Clip auftaucht.
Der Kopf leicht gesenkt, der Blick finster, eine gewisse Brutalität liegt darin. Ich grinse – wenn es mit der Touristik irgendwann nicht mehr klappt, kann er auch irgendwo als Inkasso-Schläger einsteigen.
Casey Colder, mein heimlicher Bandit.
Ich erreiche Raum drei und lasse mich durchchecken.
Alles wieder normal.
Ich springe von der Pritsche, erneut piept mein Mobiglas.
Xine – nie gehört.
Zero und seine unzähligen Bekanntschaften.
Enos, Killersatelliten….ich dachte, ich hätte das alles hinter mir.
Wieder piept mein Mobiglas – was ist denn heute bloß los – diesmal ist es ein direkter Anruf.
„Hallo?“
Niemand, nur Rauschen.
Es piept erneut.
So langsam reicht es mir.
Ich laufe zu den Terminals, wieder piept es.
„Himmel…hallo?“
Wieder rauscht es kurz im Funk.
„John…?“
„Ja, wer ist da?“
„Ich, Friedrich.“
„Häh…wieso?“
„…Kontaktunterdrückung…“
„Verstehe, Casey Colder. Habe deine Nachricht eben gelesen…“
„Ja, ich wollte nur sichergehen, dass…“
„Wo bist du?“
„Checkmate.“
Ich blicke auf meine Karte. Gleich um die Ecke.
„Wollen wir uns kurz treffen?“
„Ja, habe aber nicht viel Zeit. Ich komme zu dir.“
„Alles klar.“
Ich steuere in der Zwischenzeit den örtlichen Shop an, hole mir passend zu meinem Anzug einen Helm. Ich blicke in den Spiegel – und sehe aus wie einst Cyborg Zero Sense. Bescheuert eigentlich. Sollte man als Pirat nicht eher harmlos aussehen, so, als könnte man kein Wässerchen trüben und nicht mordsgefährlich?
Hinter mir steht ein Typ, der mich brutal zur Seite schubst.
„Sag mal, geht’s noch?!“
„Hast du‘s bald?“
Ich bekomme einen Schlag in die Nieren.
„Ich warte draußen auf dich.“
Großartig, auf eine Schlägerei hatte ich keine Lust.
Ich drücke mich noch ein wenig im Shop umher, dann habe ich Friedrich wieder im Ohr.
Er verkauft dem Hangar-Personal seine „Silver Arrow“ als ordinäre Cutless.
„John, bist du da?“
Ich schleiche zum Ausgang.
„Yep, muss nur kurz was checken.“
Der Typ ist weg.
Ich marschiere zu den Terminals, als mir Friedrich auch schon entgegenkommt.
„Cooles Video.“
„Ja, ja. Erkläre ich dir später. Nicht hier.“
Wir laufen in meinen Hangar. Mittlerweile hängen mir Pyros Stationen zum Halse raus. Der ewig gleiche Dreck und Unrat überall ist einfach nur noch eklig, widerlich und abstoßend.
„Was wollen wir unternehmen? Irgendwo hinfliegen?“
Ich zucke mit den Schultern, dann habe ich eine Idee.
„Die Citizens haben uns doch diese beiden Geos zur Verfügung gestellt. Sie haben sie nach Gaslight geliefert.
Lass uns doch die mal testen.“
„Gern.“
Friedrich probiert es als erstes. Mit den Schubdüsen des Geos springt er fast hoch bis zur Decke des Hangars. Als ich in meinen klettere, macht er gar nichts.
„Mist, meiner ist kaputt“, sage ich enttäuscht.
„Warte, wir tauschen“, sagt Friedrich, der sich bereits eingegroovt hat.
Wir wechseln. Dann klappt es auch bei mir. Ich hopse im Hangar umher wie ein wildgewordenes Kaninchen. Friedrich ist mittlerweile auf die Balustrade gesprungen, auf ein Gitter, auf das man mit reinem Klettern sonst nie gelangen würde.
„Komm hoch hier, John!“
Der ATLS Geo ist ein echtes Spaßgerät – und für Spaß wird man eben nie zu alt.
Wir vergessen für einen Moment all unsere Sorgen.
Ich springe zu Friedrich hinauf, dann wetten wir, wer nur mit Schweben näher an die mittige Hallenmarkierung kommt. Mal ist er besser, mal ich. Irgendwann haben wir uns ausgetobt und haben das Prinzip verstanden. Mit den angeschalteten Mininglasern an unseren Blecharmen fühlen wir uns wie aus einer anderen Welt.
„Damit werden wir draußen auf den Monden noch viel Spaß haben.“
Ich denke an Killer und lächle. So ein Ding schenke ich ihm, wenn wir uns wiedersehen.
Bei meinem letzten Sprung setze ich meinen Geo zwischen ein paar Streben und verklemme ihn. Schwitzend klettere ich heraus.
„…und jetzt?“
„Pause.“
Schnaufend stehe ich neben Friedrich.
„Das hat gut getan.“
Dann fallen ein paar Namen wegen denen Friedrich noch den Kopf voll hat – Baxter, Gosra und paar andere. Slaps, wie es scheint. Vor allem dieser Gosra scheint ein echter Kotzbrocken zu sein.
Ich hebe abwehrend die Hände.
„Mach dein Ding.“
Ganz klar, Friedrich muss aus der Sache raus, ohne offene Fragen zu hinterlassen – sonst steht irgendwann seine echte Identität auf dem Spiel. Wir sagen dem Hangarpersonal wegen des verklemmten Geos Bescheid, dann trennen sich unsere Wege wieder vorläufig.
Lange dürfen wir die Citizens for Prosperity jedoch nicht warten lassen.
Journal-Eintrag 19 / 05 / 2954
„Diyo Nikolas Expedition.“
Ich schlage im Spectrum nach, wer das ist…ah, er ist einer der Gründer von Bioticorp. Keine Ahnung, ob das ein gut gewählter Name ist – haben die die Regenerationskrise nicht überhaupt erst verbockt?
Friedrich hat die Initiative übernommen und den Namen vorgeschlagen. Offenbar kann er die ganzen Schwachköpfe aus dieser komischen Slaps-Bande schneller hinter sich lassen als gedacht. Gut, wir haben auch so genug zu tun.
Friedrichs Idee: Wir schlagen ein Basislager auf dem Mond Fairo auf und starten von dort zu Kurz-Expeditionen auf die anderen Monde. Ich schaue auf die beiden mitgeschickten Bilder. Es scheint ein schönes Fleckchen zu sein, wenn auch ein bisschen karg – wenig frequentiert, atembare Atmosphäre, moderates Klima. Die „Silver Arrow“ hat Friedrich schon voll ausgerüstet.
Auf den diversen News-Kanälen gibt es unterdessen aktuell nur ein Thema – die „Invictus Launch Week“ in Stanton. Ich bin froh, dass ich so weit weg davon in. Was habe ich darüber nicht schon berichtet – es ist ein längst erstarrtes Ritual der Selbstvergewisserung.
Dieses Jahr lassen sie es zudem besonders krachen: Hersteller Aegis hat wahr gemacht, was manche befürchteten und wovon andere träumten: Sie haben ein Schiff der Capital-Klasse für Privathände auf den Markt gebracht, nachdem man sich über Jahre darüber gestritten hatte, was das für die Sicherheit der Menschen bedeutet.
Um den Verkauf anzuheizen, hat eine Aegis Idris zu Werbezwecken sogar über ArcCorp angedockt, wie die News verschwommen zeigen. Offenbar schämt man sich für gar nichts mehr. Vielleicht hat die „Civilian Defense Force“ mit Aegis unter der Hand auch irgendeinen Deal gemacht. Kurzum: Mit genug Geld kann daher ab sofort jeder mit einer fliegenden Festung namens „Idris“ Angst und Schrecken verbreiten. Das Spectrum ist voll mit Videos stolzer Besitzer, die mit geschwellter Brust vor ihren Schiffen stehen. Ich schüttele fassungslos den Kopf.
Wie immer sehen die Menschen geblendet von der eigenen Herrlichkeit das Offensichtliche nicht: Die Regenerationskrise wird beim nächsten Angriff der Frontier Fighters dazu führen, dass die „Civilian Defense Force“ ohne Freiwillige dastehen wird – wer wird schließlich in sein kleines Schiffchen klettern, wenn er Gefahr läuft, nach Verletzung oder Tod für immer entstellt oder tot zu sein?
Die Idris in Privathänden soll nun die Alternative sein, der Abschreckung dienen und vielleicht stattdessen bald die Kräfteverhältnisse wahren. Ich wette, die meisten Käufer haben nicht die geringste Ahnung, dass sie bald die nützlichen Trottel spielen sollen. Im Gegenteil: Man wird ihnen das garantiert so verkaufen, dass sie sich auch noch gebauchpinselt fühlen werden. Beim Ego kann man die Menschen eben immer packen.
Ich stöbere ein wenig durchs Spectrum – oha, eine offizielle Verlautbarung von Nordlicht Aviation: Friedrich stellt bis auf Weiteres alle Transportdienste in Stanton ein. Ich lächle. Er hat eben auch ein untrügliches Gespür dafür, was die Stunde geschlagen hat.
Dann ploppt eine Nachricht auf. Sie hat einen unbekannten Absender – doch die Handschrift rieche ich 100 Meilen gegen Wind: Zero
Im Anhang ist ein Bild.
Es ist nicht zu fassen.
Wir müssen unbedingt die verdammten Mineralien finden, um die Krise in den Griff zu kriegen. Und sei es nur, um die Tiere davor zu bewahren, massenhaft abgeschlachtet zu werden, weil die Menschen offenbar völlig unfähig sind, die selbst eingebrockte Suppe auch selbst auszulöffeln.
Die Expedition
Menschen irren wie Labormäuse in einem Labyrinth umher. Sie rufen immer wieder um Hilfe. Doch niemand kommt. Sie sind gehetzt, auf der Flucht. Headhunter, Frontier Fighter, Xenothreat – jeder trachtet einem nach dem Leben. Doch einen Ausgang aus dem Labyrinth gibt es nicht. Die Menschen sind Gefangene ihrer Ängste…
Ich wache schweißgebadet auf.
Meine Brust fühlt sich eng an, zugeschnürt.
Die Wände des EzHubs scheinen mich erdrücken zu wollen.
Ich drücke den Rücken durch, um Luft zu bekommen.
Nur ein Albtraum, sicher, dennoch: Ich muss hier raus – sofort.
Ich ziehe mich an, laufe mit eingezogenem Kopf zu den Terminals. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, keine Ahnung, wohin ich will. Ich weiß nur eines: Gaslight, Orbituary, Ruin Station und wie sie alle heißen: Sie sind Ort der Verdammnis – und ihre Bewohner sind Verdammte.
Kaum habe ich die Station mit der „Shack One“ verlassen, geht es mir besser. Die Stille und Kälte des Weltraums bringt mich runter.
„Ruhig, John“, sage ich zu mir selbst. „Du bist nicht allein, du hast Freunde, sogar eine Familie.“
Ich lächle.
Die Expedition.
Es ist gut, wenn man aktiv werden und etwas gegen den Fatalismus tun kann. Ich blicke auf die Karte, die mir Friedrich geschickt hatte und beschließe spontan, dem Ort, an dem unsere Expedition starten soll, einen kleinen Besuch abzustatten. Das wird mich auf andere Gedanken bringen.
Fairo – wieder ein neuer Mond. Ich schlage in der Galactapedia nach.
Fairo ist der vierte Mond des Gasriesen Pyro V. Er ist eine Brutstätte seismischer Aktivität und wird häufig von Erdbeben heimgesucht, die seine tiefen Brackwasser-Ozeane erschüttern. Der Mond hat ein ungewöhnliches Ökosystem, das sowohl auf der Oberfläche als auch unter dem Meer gedeiht, unterstützt durch das Kohlendioxid und den Stickstoff in Fairos dichter Atmosphäre.
Klingt nicht sehr einladend.
Egal, alles ist besser als diese vermaledeiten Stationen.
Ich gehe in den Quantumjump über und kurz darauf schwebt der Mond vor mir, eine rötliche Kugel. Noch immer beschleicht mich die Angst, dass ich plötzlich ganz woanders rauskomme, aber der Virus scheint wirklich vom Schiff zu sein. Die „Shack One“ versieht wieder brav ihren Dienst.
Ich atme tief durch und gehe tiefer.
Ich fliege an einem riesigen Vulkan vorbei, der aussieht, als wäre er vor nicht allzu langer Zeit noch aktiv gewesen. Unter mir schimmert ein Meer, das sich bis zum Horizont zieht – dann entdecke ich ein Schiff auf einer Ebene, einsam und verlassen.
Ich drehe noch ein, zwei Runden. Plötzlich habe ich eine Stimme im Ohr.
„Hallo…hier ist die Silver Arrow, Friedrich Winters…“
„Friedrich…was machst du denn schon hier?“
Es tut gut, seine vertraute Stimme zu hören.
„Unsere Expedition vorbereiten. Es gibt viel zu tun.“
Plötzlich ist eine zweite Stimme im Funk.
„Ja, Bru, komm runter hier!“
Ich erkenne die Stimme sofort: Hermie Janson.
Mit dem habe ich nun überhaupt nicht gerechnet.
Ich lande die „Shack One“ in sicherem Abstand zur „Silver Arrow“ und marschiere rüber zu den beiden. Doch statt einer Begrüßung, werde ich von Hermie sofort runtergeputzt! Mein Kommentar über die „Aaron Halo Conference“ im vergangenen Jahr habe ihn quasi seine berufliche Zukunft gekostet, ihm wurden Aufträge gekündigt und was weiß ich noch – ich weiß überhaupt nicht, wie mir geschieht, offenbar hat er Monate darauf gewartet, endlich Dampf abzulassen.
Wir befinden uns in einer fernen Welt, in der das gesamte menschliche Leben und alle zivilisatorischen Errungenschaften auf der Kippe stehen – und Hermie macht mir die Hölle heiß wegen ein paar Zeilen vor Ewigkeiten über ein paar Firmen in Stanton und ihre Vertreter, die Credit-Zeichen in den Augen hatten.
„Hermie…“, versuche ich dazwischen zu grätschen.
Doch seine Tirade geht immer weiter, er empfiehlt mir sogar journalistischen Nachhilfeunterricht.
Irgendwann platzt mir der Kragen.
„Mann, ich bin nicht für dein Schicksal verantwortlich. Ich habe dich in dem Kommentar überhaupt nicht namentlich erwähnt. Keine Ahnung, was du von mir willst“, herrsche ich ihn an.
Friedrich versucht die Lage zu beruhigen. Irgendwann lässt Hermie von mir ab. Mir wird klar: Wir beide haben ein Problem miteinander – und das nicht erst seit gestern. Mir sind sofort wieder seine ewigen Sticheleien auf unserer Biker-Tour präsent. Sicher, Hermie hat was Selbstgerechtes und Selbstmitleidiges, aber für diesen Scheiß habe ich keine Energie – schon gar nicht angsichts der Situation und nach unserer Odyssee durch Pyro.
„Pass auf, wir machen ein Gentleman-Agreement. Wir vergessen das alles für den Moment, schauen nach vorn, im Dienst ein größeren Sache“, sage ich schließlich.
„Für mich ist die Sache damit auch erledigt“, erwidert er.
Dann berichtet Hermie noch, dass er nun für Tyr Security arbeitet, der Söldnertruppe von Kjeld Stormarnson – genau das Gegenteil von dem, was er sonst immer erzählt hatte. Offenbar weiß er nicht, wohin mit sich. Eine verlorene Seele. Auch traurig irgendwie.
Ich versuche die Geister der Vergangenheit zu verscheuchen.
Ich vertrete mir auf Fairo die Füße, blicke in die Ferne und ahne: Es wird alles andere als einfach, eine Truppe aufzustellen, die an einem Strang zieht, geschweige denn die entscheidenden Mineralien zu finden, die zur Beendigung der Regen-Katastrophe benötigt werden. Einmal mehr werden wir bei dieser interstellaren Krise alles aufbieten müssen, was wir in die Waagschale werfen können.
„Ich fliege zurück nach Gaslight, die beiden Geos holen“, sage ich irgendwann.
Immer noch aufgewühlt stapfe ich zurück zur „Shack One“.
Ich schreibe Friedrich eine Nachricht, aber mehr, um mich selbst zu beruhigen.
Jeder trägt sein eigenes Gefängnis, sein eigenes Labyrinth, mit sich herum.
*****
Ich lade die beiden Geos ein und mache mich erneut auf den Weg.
Ich denke an Hermie – wird er einen Gang runterschalten können? Ich nehme mir jedenfalls fest vor, mich nicht von ihm provozieren zu lassen. Man kann sich das Leben auch selber schwer machen. Mein Mobiglas piept.
Das ist ja eine schöne Überraschung.
Offenbar ist Zero mit an Bord. Wahrscheinlich haben sie das alles auf der Militärmesse abgesprochen. Ist komplett an mir vorbeigegangen. Mir soll es recht sein – je mehr wir sind, desto besser. Auf Fairo geht die Sonne an unserem Expeditionsstandort soeben unter. Ich gehe tiefer und lande. Zero ist schon da und kaum habe ich die Maschinen abgestellt, taucht noch eine zweite Zeus am Himmel auf.
„Keine Bange, der gehört zu mir. Das ist Xine“, höre ich Zero über Funk.
Ich erinnere mich: Das ist der Typ, der wegen der Killersatelliten-Geschichte irgendwas von mir will. Ich blicke aus der Cockpitscheibe und staune – unser Lager ist in der Zwischenzeit kräftig gewachsen. Hermie hat offenbar ein neues Schiff – die auf der „Invictus Launch Week“ neu vorgestellte Anvil Asgard, eine Art Transporter. Ich habe keine Ahnung, woher Hermie immer das Geld für solche Neuerwerbungen hat – hatte ich nicht unlängst irgendwo gelesen, dass er seinen Pentragon-Service-Dienst eingestellt hatte? Egal, ist ja sein Bier.
Ich klettere in einen GEO, lade ihn aus und freue mich schon darauf, damit auf Monden umher zu hüpfen und mich im Minern zu probieren.
Nach reichlich Handshakes geht es in die Starlancer der Citizens. Soweit ich das verstehe, ist Xine eine Art Infobroker. Jedenfalls kommt er recht schnell auf den Punkt und berichtet, dass ihm ein Video von möglichen neuen Killersatelliten zugespielt worden sei und ob ich mit dieser Information etwas anfangen könne. Auch habe er von einem gewissen Enos gehört.
Es ist wirklich nicht zu fassen, dass mich dieser Mist hier am Ende der Welt immer noch einholt.
„Ja, das ist alles schon lange her, zumindest das mit den Killersatelliten. Die Advocacy ist da jetzt dran“, druckse ich herum.
Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer da vor mir steht oder was Xines Motivationen sind. Ich winde mich, versuche ihn mit ein paar Allgemeinplätzen und Unverfänglichem abzuspeisen.
„Ich habe ewig gebraucht, Sie zu finden…“, sagt Xine nach einer Weile, sichtlich frustriert.
Ich blicke hinüber zu Zero – er kennt Xine, sofern das überhaupt sein richtiger Name ist, ja offenbar schon länger, hat ein paar Geschäfte mit ihm gemacht.
„Zero…?“
Zero fasst für Xine das Wichtigste zusammen, doch mir ist klar, dass ihn auch das nicht zufrieden stellen wird. Wie sollen wir aber auch in fünf Minuten erklären, woran wir Jahre selbst geknabbert haben?
„Und dieses Enos…“
„…ist, beziehungsweise war, eine Biobot-Waffe“, wirft Friedrich ein.
Ich stöhne innerlich – können wir uns wieder dem Hier und Jetzt zuwenden?
Es geht noch ein wenig hin und her, ein paar Namen fallen, dann hat Xine offenbar genug gehört, nachdem wir ihm die Gefährlichkeit dieser vollkommen außer Kontrolle geratenen Geschichte grob umrissen haben.
Ich verweise ihn an McMarshall.
„…macht Euch mal nicht in die Hose“, sagt er schließlich.
Mir fällt fast die Kinnlade runter.
So kann man nur reden, wenn man nicht den blassesten Schimmer hat.
Ich schlucke meinen Ärger runter, Friedrich fordert ihn auf, ein wenig mehr Respekt zu zeigen.
„So kann man nicht mit Menschen reden, die sich in der Sache engagiert, sich in Gefahr gebracht und den Skandal aufgedeckt haben“, sagt er.
Ich starre vor mich hin und hoffe, dass jemand die Initiative ergreift.
„…vielleicht sollten wir mal unsere Ausrüstung checken und uns darauf konzentrieren, warum wir hier sind“, sagt Zero schließlich.
Wir laufen in den Frachtraum der Starlancer. Xine verabschiedet sich, weil er entweder keine Lust oder keine Zeit hat, uns zu helfen – dann sind wir wieder unter uns. Die Lage entspannt sich. Wir gehen die Schiffslisten durch und stellen fest, dass wir gut am Start sind. Wir haben Ausrüstung, Verpflegung, Anzüge, zwei GEOs, ein ROC-Miningfahrzeug, einen Buggy, Messinstrumente und anderes mehr – damit sollten wir erstmal klarkommen.
„Übrigens hat uns jemand auf der Uhr.“
Friedrich zeigt uns eine Nachricht, die er aus dem Intercom gefischt hat:
„Trüffelschwein – wer soll das denn sein?“, frage ich.
„Keine Ahnung.“
Was wir aber rauslesen: Irgendjemand hat Interesse daran, was wir hier treiben und riecht offenbar schnellen Profit.
„Lasst uns doch mal die Insel hier abchecken“, schlägt Friedrich vor, „das lenkt uns ab.“
Nur Minuten später sitze ich neben Friedrich in seinem Tumbril, bereit zu einer kleinen Ausfahrt.
„Willst du fahren?“
„Vielleicht später.“
Ich denke an Huskys und meine nächtliche Rutschpartie auf Bloom.
Echt abgefahren, was ich mittlerweile alles in Pyro erlebt habe.
Wir cruisen einen Hügel hinauf, dann stoppen wir auch schon wieder.
Wir haben etwas gefunden, das wie ein Mineral aussieht. Wir sind uns zwar sicher, dass es weder Saldynium noch Jaclium ist, aber zum Üben kann es sicher nicht schaden, etwas davon abzubauen. Mit einer Art Scanner checken wir, worum es sich dabei handelt – Beradon, ein ziemlich wertloses Mineral. Es schimmert im Gestein wie bläuliche Adern.
Zero kommt mit dem ROC an die Fundstelle und mit dem Mininglaser sprengt er die Steine auf – schon nach kurzer Zeit halten wir Beradon in den Händen.
„Hübsch“, sage ich, „was für die Ablage im Schiff.“
Wir erkunden die Insel, auf der wir gelandet sind, weiter. Es geht bergauf, dann klettert langsam die Sonne am Horizont empor. Es ist pures himmlisches Ballett, das wir nun zu sehen bekommen. Erst schält sich der Gasriese Pyros aus dem morgendlichen Dunst, dann folgt ihm die Sonne, als wollte sie ihn einfangen.
Wir bleiben auf einer Anhöhe stehen und beobachten das Spektakel.
„Wow, das ist wunderschön“, sagt Friedrich.
Ich nicke – das ist es in der Tat.
Daran werde ich mich nie satt sehen können.
Hermie meldet sich über Funk – er hat einen weiteren Fund gemacht.
Während Friedrich und Zero ihm zu Hilfe kommen, steige ich aus, genieße die Aussicht und die Einsamkeit. Alle Probleme sind für ein paar Minuten weit entfernt. Ich höre, dass es wohl Obsidian ist, dass sie gefunden haben – ein Erz, von dem man auch nicht reich wird. Erneut machen sie sich an das Extrahieren von ein paar Proben.
Ich beschließe, einen kleinen Fußmarsch einzulegen.
Die Expedition hat eben erst begonnen – kein Grund, sich sofort zu überschlagen.
Wir werden Wochen hier draußen verbringen.
So langsam kehren wir zurück ins Lager.
Dort erfahre ich, dass Zero den ROC fürs Erste geschrottet hat – er war damit ins Wasser gefahren, um eine Abkürzung zu nehmen. Das war aber wohl tiefer als es aussah. Die Maschine hat Wasser gezogen und der ROC fällt bis auf Weiteres aus.
Friedrich und ich beschließen, dem nahe gelegenen Vulkan mit der Zeus noch einen Besuch abzustatten – sind sie doch Geburtsstätten zahlreicher Mineralien. Ich bringe die „Shack One“ im Kegel langsam hinunter. Doch die Schlacke ist längst erkaltet.
„Pech gehabt“, sage ich.
Wir schauen uns kurz um, dann bugsiere ich mein Schiff wieder aus dem Vulkan.
„Machen wir Schluss für heute.“
Jeder zieht sich auf sein Schiff zurück. Als nächstes wollen wir noch an anderer Stelle auf Fairo unser Glück probieren, ein paar Stunden Schlaf werden uns aber gut tun.
Die Expedition hat begonnen.
*****
Kaum liege ich in der Koje der „Shack One“, schnappe ich mir mein Handheld und rufe die Sternenkarte auf. Das bekannte Universum ist darauf schematisch dargestellt – und mir wird einmal mehr klar: Wir sind nur kleinste Lichter in der Unendlichkeit. Wie viele Leben braucht es, um all das zu entdecken?
Ich schiebe mir Pyro in den Mittepunkt der Karte, lasse meine Gedanken wandern, dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Pyro ist so viel mehr als nur ein geschundenes System. Letztens hatte ich schon den Gedanken, dass es ein Stachel im Fleisch ist – doch bei Betrachtung der Karte wird mir klar: Es ist viel mehr als das.
Es ist eine Wunde.
Eine tiefe, klaffende Wunde.
So lange sie blutet, bluten auch alle umliegenden Systeme.
Stanton, Castra, Terra, Hadrian, Oso und sogar Nyx – sie alle sind in diesem Blutkreislauf direkt an Pyro angedockt. Gibt es Krieg und Stress in Pyro, so strahlt dieser automatisch ab – wie ein Krebsgeschwür. Anders gesagt: Das Wohl und Wehe der umliegenden Systeme hängt immer auch davon ab, was in Pyro geschieht. Wer Pyro kontrolliert, beherrscht alle umliegenden Systeme quasi gleich mit – Leben, Kommunikation, Politik und Wirtschaft.
Ich erinnere mich an das, was der Explorer auf ArcCorp gesagt hatte: dass Terra vielleicht Stanton stutzen will, weil es im Lauf der Jahrhunderte zu stark geworden sei. Wer hat schon gern vier Megacorps mit unbeschränkter Macht in seiner Nachbarschaft? Hat Kordes, so hieß er, damit ins Schwarze getroffen, ohne es zu ahnen?
Die Karte zeigt es deutlich: Von Pyro lassen sich gezielt Attacken und Nadelstiche gegen beide Systeme und darüber hinaus setzen, der perfekte Ort, um Unruhe und Verwirrung zu stiften, mehr noch: Pyro ist die immerwährende perfekte Ausrede, um die eigenen Hände in Unschuld zu waschen. Es gab einen schrecklichen Angriff? Man picke sich eine geeignete Piratenbande aus Pyro heraus.
Pyro, das ist kein System, das irgendwo weit draußen liegt, vergessen und sich selbst überlassen. Nein, Pyro ist ein System in der Herzkammer der UEE. Ein System, dass ganz bewusst in diesem schrecklichen Zustand gehalten wird, geradeso an der Überlebensgrenze. Mir wird schlagartig klar, warum die Citizens for Prosperity so brutal angegriffen werden – man sieht in ihnen eine reale Gefahr, das System zu drehen und das Schwert dadurch stumpf werden zu lassen.
Jeder Versuch, Pyro auf die Beine zu helfen, wird deshalb niedergeschlagen. Die Piraten in Pyro – sie sind nützliche Idioten. Sie sind das Messer, das in der offenen Wunde immer und immer wieder rumgedreht wird, damit sie sich nicht schließt. Doch wer profitiert am meisten von dieser klaffenden Wunde? Wer hat echte Machtinteressen und wo denkt man in solch großen Zusammenhängen? Wo wird das Fell des Bären immer wieder neu verteilt? Wo kehrt niemals Ruhe ein?
Ich lege das Handheld zu Seite, drehe mich auf die Seite und schließe müde die Augen.
Im UEE-Senat.
Warum nur habe ich das dumpfe Gefühl, dass das alles auch etwas mit der Regen-Krise zu tun hat?
Cui Bono, wer profitiert?
Das ist die entscheidende Frage – wie immer.
*****
Ich kann nicht schlafen – zu viel geht mir im Kopf herum.
Meine Vergangenheit.
Meine wahre Identität.
Meine Zukunft.
Ich stehe auf und ziehe mich an.
Die anderen schlafen noch, aber die Sonne steht schon hoch am Himmel.
Ich starte die „Shack One“ und ziehe sie an den Himmel. Schnell lasse ich das Expeditionslager hinter mir. Meine Augen schweifen wie schon so oft zuvor über das unendliche Land. Es ist genug für alle da – mir ist unbegreiflich, warum sich die Menschen immer wieder aufhetzen lassen, sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Menschen sind so verdammt leicht zu manipulieren – daran hat sich in all den Jahrhunderten nichts geändert.
Ich blicke aus dem Cockpit – unter mir zieht ein Vulkan nach dem anderen vorbei. Bis zum Horizont ist das Land geradezu übersät mit ihnen. Es sieht aus, als hätte der Mond sein Innerstes nach außen kehren wollen. Vulkane – sie sind unberechenbar, wie der Mensch. Die Naturgewalten könnten uns viel lehren, wenn wir nur genau hinschauen würden. Ich stelle das Tempo auf Autopilot, richte die „Shack One“ genau am Horizont aus, sodass sich das Schiff in einem horizontalen Schwebeflug befindet und nehme die Hände vom Steuer. Dann verschränke ich die Arme hinter dem Kopf und ich lasse mich einfach treiben.
Irgendwann kommt die Küste in Sicht. Ich gehe tiefer, lande und vertrete mir die Beine.
Es tut gut, mal allein unterwegs zu sein, keinen Menschen zu sehen, einfach ganz bei mir zu sein – wann war ich das letzte Mal wirklich solo unterwegs? Es ist eine Ewigkeit her.
Ich laufe hinunter zum Wasser und blicke in mein Spiegelbild.
„Was siehst du, Bru?“
Ich flüstere die Frage – so, als könnte mich jemand hören.
Eine Welle schlägt ans Ufer.
„Was siehst du, Bru?“
Mein Spiegelbild verschwimmt.
Wenn es doch nur so einfach wäre.
Ich laufe zurück zur „Shack One“, die Sonne geht bald wieder unter und riesige Schatten wandern über das Land. Irgendwann gehe ich tiefer und lande mitten im Nirgendwo.
Ich klettere auf einen Felsen, über mir die Unendlichkeit.
*****
Nachricht von Friedrich.
Sein Geist kommt offenbar auch nicht zur Ruhe.
Ich blicke auf die beiden Bilder und frage mich, welchen Sinn unsere Expedition eigentlich macht – außer für ein gutes Gewissen und das Gefühl, aktiv zu sein. Die Monde sind riesig und wenn wir nicht das ganz große Glück haben und auf ein entscheidendes Erzvorkommen stoßen, fliegen wir mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann mit leeren Händen nach Hause.
Unser Lager kommt in Sicht, der charakteristische Vulkan auf der kleinen Insel schält sich aus dem Morgendunst. Ich lande und laufe hinüber zu Zeros Starlancer.
Noch ist alles ruhig.
Kaum in der Messe, kommt er mir auch schon schlaftrunken entgegen.
„Guten Morgen, gut geschlafen?“
„In der Wildnis.“
Mein Blick fällt auf sein Shirt.
„Future UEE-Navy Pilot..?“
Ich blicke ihn entgeistert an.
„…das ist jetzt nicht dein Ernst. Ausgerechnet du trägst so was…“
„Was denn…“ entgegnet Zero, „…zum Schlafen ist es total gemütlich. Hab‘ ich nach dem Training der Flugschule während der Messe bekommen.“
Mehr Verachtung geht nicht.
Hermie und Friedrich stoßen zu uns.
Wir studieren Friedrichs Karten, dann beschließen wir, unser Glück erst einmal in einer von Fairos Höhlen zu versuchen. Zero zieht sich anständige Klamotten an, dann starten wir. Ich blicke aus dem Sehschlitz des Starlancer-Cockpits hinaus auf den unwirtlichen Mond.
„Da könnte man den Rest auch gleich noch zunageln“, sage ich.
Zero nickt.
„Ja, die Starlancer wäre eigentlich voll mein Schiff. Sie hat alles was man braucht, um glücklich zu sein, aber die Sicht aus dem Cockpit kannst du echt vergessen….“
Unter uns zieht eine endlose Sand- und Steinwüste dahin.
Hermie sitzt an den Scannern und macht eine Signatur aus.
„Ich glaube, da ist unsere Höhle.“
Zero landet und ich ziehe mich im Heck des Schiffes um. Kurz darauf stecke ich in einem gelben Explorer-Anzug. Wir machen uns gemeinsam auf den Weg.
„Ich probiere mal den Geo aus.“
Ich klettere in den Mining-Exosuit. Doch damit in einer Höhle zu minern, erweist sich schnell als Schnapsidee – zwar springe ich mit dem Exosuit noch in das Erdloch, doch dann ist auch schon Schluss. Es ist schlicht zu eng, um damit gescheit etwas anzufangen.
Ich folge den anderen zu Fuß.
Es ist eine weit verzweigte Pilzhöhle – und offenbar sind die Pilze von der gleichen Sorte wie die, die bei mir die Visionen ausgelöst hatten. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich checke den Verschluss meines Explorer-Helms: er scheint dicht zu sein.
Zero minert mit einem Multitool ein paar vielversprechende Erze und ich genieße den Anblick. Diese Pilzhöhle ist wesentlich imposanter als die erste. Fast bin ich geneigt, den Helm abzunehmen, um mal das Echo zu testen.
Wir stolpern über zwei Tote, einer davon übel zugerichtet, doch uns fehlt das Equipment sie zu bergen. Wer weiß, was hier passiert ist. Vielleicht haben sie sich gegenseitig umgebracht. Ich wandere über einen Steg, links und rechts geht es tief hinunter, der Grund ist im Nebel verschluckt.
„Vorsicht…“, mahnt Friedrich, als es auch schon knallt.
Eine Druckwelle reißt uns alle vier von den Füßen. Mir wird schwarz vor Augen.
Für einen Moment weiß ich nicht, wo oben und unten ist.
Ein paar Meter entfernt nehme ich leises Stöhnen wahr.
„Friedrich“, flüstere ich.
Ich öffne leicht die Augen.
Mein Helm ist noch dicht, Gott sei Dank.
„John…“, kommt es zurück.
Ich blicke zu ihm hinüber, seine Beine ragen über den Steinsteg in die Tiefe – eine unglückliche Bewegung und er rutscht ab.
„Zero…“
Keine Antwort.
Verdammt.
„Ich…ich kann mich noch bewegen und versuche mal zu euch zu kommen“, flüstert Hermie.
Er ist gegen eine Felswand geschleudert worden.
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie ein Schatten heranrobbt.
„Ich versuche an meine Medipens heranzukommen.“
Schließlich spüre ich, wie meine Lebensgeister zurückkehren.
Offenbar hat mir Hermie das Medikament verabreicht.
Hermie – unser Lebensretter. Wir können uns glücklich schätzen, ihn immer wieder dabei zu haben. Mit einem Traktorstrahl bugsiert er Friedrich von der gefährlichen Stelle auf sicheres Terrain, dann verarztet er auch ihn. Zero geht es ebnfalls besser. Schließlich finden wir unsere Sprache wieder.
„Himmel, was war das denn eben?“
„Ich vermute, eine Art Knallgasexplosion“, sagt Hermie.
Ich blicke auf mein Mobiglas – in der Tat: Die Konzentration an Wasserstoff ist in der Höhle extrem hoch. Vielleicht dünsten ihn die Pilze aus. Wie es scheint, haben wir sogar noch Glück gehabt.
„Wir sollten hier raus, bevor noch Schlimmeres passiert und die Höhle einstürzt. Künftig sollte einer im Schiff bleiben, um im Notfall helfen zu können“, schlägt Hermie vor.
Wir machen uns auf den Weg zum Ausgang, Hermie bugsiert den GEO hinaus, dann sind wir wieder auf dem Schiff.
„…und jetzt?“
Wir sitzen etwas ratlos im Cockpit. Zero genehmigt sich ein Rust, um sich von dem Schrecken zu erholen. Wenn wir ehrlich sind, sind wir noch keinen Schritt weiter.
Ich blicke zu Boden und knete meine Hände – als plötzlich ein Alarm ertönt.
Ein Sonnensturm nähert sich.
Wir haben nur Momente, um Schutz zu suchen.
„Bru, fahr die Schiffssysteme runter. Und wir müssen in den Generator-Raum. Dort sind die Abschirmungen am dicksten“, ruft Hermie.
Wir nicken und rennen wie aufgescheuchte Hühner durch das Schiff. Gerade noch rechtzeitig schließt hinter uns das Schott. Direkt vor unseren Augen brennen Sicherungen durch.
„Verdammt, das ist ein regelrechter elektromagnetischer Puls“, sage ich.
Dann folgt die Entwarnung.
Zero gibt mir zur Sicherung eine Dosis Resurgera gegen die Strahlung.
„…zurück zum Basislager?“
„Diese Erdspalte könnten wir uns ja wenigstens noch ansehen“, sage ich und zeige auf das Bild.
„Der ganze Stress soll nicht umsonst gewesen sein.“
Also machen wir uns erneut auf den Weg – doch schnell zeigt sich: Das Schiff hat einen ordentlichen Schlag abbekommen. Mehrfach gehen die Maschinen aus. Mich beschleichen düstere Erinnerungen.
„Ich tausche noch mal die Sicherungen aus“, sagt Hermie.
Er macht sich auf ins Heck – und kurz darauf kriegt sich das Schiff ein. Wir springen um den Mond herum auf seine Nachtseite. Zero hat mittlerweile zwei Rust intus und fliegt entsprechend.
„Ey, das sind Bio-Signaturen“, meldet er plötzlich.
Zero landet das Schiff. Ich blicke aus dem Cockpit und traue meinen Augen nicht – zwei riesige seltsame Würmer ragen aus dem Boden.
„Krass! Was ist das denn?“
„Der Valakkar“, antwortet Zero voller Respekt, „der Herrscher der Wüste.“
„Erzähle keinen Quatsch.“
Nur Minuten später stehen wir vor den unheimlichen Kreaturen, die drei Meter groß sind.
„Nicht zu nah ran!“, sagt Zero, „Sonst…“
„Sonst was..?“
Ich mache ein paar Schritte – dann weiß ich es. Der Wurm bespuckt mich – mit irgendetwas Grünem.
„Hilfe, ich hoffe, das ätzt nicht.“
„Hab‘s dir doch gesagt.“
Zero greift zu seiner Waffe und erschießt das Tier.
Ich drehe mich um, blicke ihn fassungslos an.
„Sag mal, das ist doch kein Grund, einfach…“
„So ist das Ritual.“
„Zero, das ist doch gequirlte …“
Den Rest schlucke ich runter.
Ich gehe trotz Warnungen näher an das verbliebene Tier ran, und je näher ich komme, desto ruhiger wird es. Plötzlich stellt es seine Spuckattacken ein und windet sich vor mir nur noch wie eine hypnotisierte Schlange. Ich blicke ihm direkt in sein mit scharfen Zähnen bewaffnetes Maul. Hinter mir wird es mucksmäuschenstill.
„Bru hat den Valakkar beschworen“, sagt Zero leise ehrfürchtig.
Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum das Tier plötzlich so friedfertig ist – aber ich genieße still meinen Triumph. Wie ein Schlangenbeschwörer bewege ich mich im Gleichklang mit dem Valakkar. Wir blicken uns gegenseitig an. Ich nehme meinen Helm ab und rieche seinen fauligen Atem. Die anderen treten zu mir und gemeinsam stehen wir um das vermeintlich ach so gefährliche Tier.
Plötzlich hallt ein weiterer Schuss durch die Nacht.
Zero hat auch den zweiten Valakaar erschossen.
Zero kniet nieder, bricht dem Valakaar die Zähne raus, streut Sand auf seinen Kopf und sagt: „Die Wüste gibt und die Wüste nimmt. Der Valakaar kehrt zurück zur Wüste und wird Teil von ihr.“
Dann steht er auf und kommt auf mich zu.
„Gehen wir?“
Da kenne ich Zero nun seit Jahren, war beileibe nicht immer mit allem einverstanden, aber das…wutentbrannt und schweigend stapfe ich zurück ins Schiff. Es geht mit einem kurzen Zwischenstopp in irgendeinem verfallenen Nest zurück zur Basis. Ich laufe desinteressiert durch den Müllhaufen, den irgendwer sein Zuhause nennt – Xenothreat, Frontier Fighters oder Headhunter – mir egal.
Kaum sind wir gelandet, will sich Hermie auf den Weg nach Stanton machen – Geschäfte, wie er sagt. Er nimmt unsere bisher gesammelten Gesteinsproben mit und will sie bei Rayari analysieren lassen. Gemeinsam mit Zero lädt er Kisten um. Ich laufe unterdessen hinunter an den See.
Mein Freund Zero aus dem Nul-System
Was macht echte Freundschaft aus?
Toleranz. Verständnis. Empathie.
Er stammt aus der Wüste.
So ist seine Natur.
*****
Der nächste Tag.
Ich wache wie gerädert auf. Alles tut mir weh.
Das sind garantiert Nachwirkungen der Explosion in der Höhle.
Ein Medipen ist gut und schön – aber irgendwas bleibt eben immer zurück.
Ich quäle mich aus dem Bett.
Ich höre die anderen im Funk – sie sind schon wach.
„…wir müssen die Geos zur Sicherheit auf Brus Schiff umladen“, höre ich Zero im Funk.
Ich ziehe mich an und laufe hinüber zu seiner Starlancer.
Mehrfach werde ich gerufen, doch ich kann nicht antworten. Einen Schritt nach dem anderen auf den steinigen Boden Fairos zu setzen ohne lang hinzuknallen, erfordert meine volle Konzentration. Es ist, als hätte ich Bleigewichte an den Füßen.
„Mann…“, fluche ich leise vor mich hin.
Kraftlos erreiche ich Zeros Schiff.
„Morgen, alles klar?“
„Geht so. Hat jemand noch einen Medipen?“
„Moment…“
Zero verabreicht mir einen Schuss.
„Was ist denn?“
„Keine Ahnung…es geht mir nicht so gut…vielleicht irgendwas am Schiff.“
Ich lasse mich in der Messe auf die Bank fallen, der Pen entfaltet seine Wirkung. Zero will hoch nach Gaslight. Er will versuchen, einen neuen ROC zu besorgen und noch ein paar andere Kleinigkeiten. Damit keiner dumme Fragen wegen der GEOs stellt, die ihm ja offiziell nicht gehören, sollen sie zuvor auf die „Shack One“ gebracht werden.
„Klar, wie ihr denkt“, stimme ich müde zu.
Zero bereitet mir ein kleines Frühstück und nachdem ich mich gestärkt habe, bringen wir die beiden Exosuits rüber, danach macht sich Zero auf zur Station und auch wir machen uns startklar.
Fairo wollen wir heute hinter uns lassen.
Nächster Mond: Ignis.
Kaum sind die GEOs verladen, lasse ich mich in der „Shack One“ in den Pilotensitz fallen und lese in der Galactapedia nach:
Ignis ist der innerste Mond des Gasriesen Pyro V. Die Canyons und trockenen Flussbetten auf seiner Oberfläche lassen vermuten, dass es dort in ferner Vergangenheit einmal flüssiges Wasser gab. Seine eisige Durchschnittstemperatur und die tödliche Schwefeldioxidatmosphäre schaffen eine unfreundliche Umgebung für diejenigen, die keine angemessene Schutzausrüstung tragen.
Ich strecke mich im Sitz.
Klingt anstregend.
Ich starte die Turbinen und mache mich auf den Weg.
Ich cruise noch ein wenig über Fairo, genieße ein letztes Mal seine ungewöhnliche Farbgebung, die anderen gehen bereits in den Quantumsprung über. Jeder macht sich eben seinen eigenen Stress. Ich blicke aus dem Cockpit – hinter Fairo geht ein anderer Himmelskörper auf. Wie ein Kern aus einer überreifen Frucht schält er sich aus der Atmosphäre. Ich drossele das Tempo und schaue fasziniert zu – warum nur haben die wenigsten einen Blick für die Schönheiten und Wunder des Universums? Warum hetzen alle immer nur von einem Ort zum nächsten – kommen aber nie irgendwo an? So hat nun gerade wieder die Aaron Halo Conference stattgefunden, zu der auch Hermie dringend musste. Das waren seine Geschäftskontakte. Ich enthalte mich eines Kommentars. Gerade nach unseren ersten Monaten in Pyro bin ich echt nicht mehr bereit, allem hinterherzurennen.
„Bru, wo bist du?“
Hemie reißt mich aus meinen Gedanken.
„Ich komme gleich nach.“
Mein Mobglas piept – eine Sprachnachricht von Mr. Hutton der Citizens for Prosperity: Man habe die von Hermie gelieferten Proben bei Rayari untersucht und ein paar Einsprengsel der gesuchten Mineralien gefunden. Diese könnten aber auch durch Meteoriteneinschläge nach Fairo gelangt sein. Insofern sollen wir den nächsten Mond in Angriff nehmen. Im Übrigen stehe man bei den Citizens sehr unter Druck. Über einen baldigen Erfolg der Expedition würde man sich daher sehr freuen.
Ich nicke leicht – klar, wer nicht.
Ein paar Minuten gebe ich mir noch, dann beschleunige ich und kurz darauf bin ich ebenfalls im Quantumflug. Bald kommt der neue grünliche Mond auch schon in Sicht. Die anderen sind bereits gelandet – natürlich. Wie Glühwürmchen leuchten ihre Schiffe auf der dunklen Seite von Ignis. Während ich tiefer gehe, sehe ich, dass wir nicht allein sind – neben Friedrichs 600i und Hermies Asgard steht ein weiteres Schiff – wieder ein Besucher, der etwas von uns will? Oder haben uns die ominösen Trüffelschweine entdeckt?
Ich versuche mich zu beruhigen – es ist nur ein kleines Schiff. In jedem Fall hätte es keine Chance gegen Hermies fliegenden Kampfpanzer. Ich lande und mache mich auf den Weg zu den anderen, die bereits um das fremde Schiff herum stehen.
Es ist ein einsamer Miner, auf den wir treffen.
„…und Sie sind…“, fragt Friedrich soeben.
„Alaska Seadeleare.“
Ich stutze. Irgendwas klingelt bei mir. Dann weiß ich es – der Archäologe, der Zero und mir bei der Siedler-Geschichte geholfen hat. Nach unseren gemeinsamen Recherchen war der Kontakt wieder abgerissen.
„Hallo Mr. Seadeleare“, sage ich, „was machen Sie denn hier draußen in der Einsamkeit?“
Ich weiß nicht mehr, ob wir uns gedutzt oder gesiezt hatten.
„Mr. Brubacker…das ist ja eine Überraschung. Minern, mein Zweithobby.“
„Oh“, erwidere ich, „na, das passt ja….“
Ich laufe um sein Schiff herum, ein Miningschiff für eine einzelne Person von Hersteller Drake.
„…und das ist Ihr Schiff?“
„In der Tat.“
Ich schüttele den Kopf – das Ding sieht aus, als hätte man mitten während der Produktion aufgehört, daran zu bauen und einfach die Verkleidungen weggelassen. Man kann tief bis in die Eingeweide des Schiffes blicken.
„Schaut…gewöhnungsbedürft aus.“
„Ein wunderbares Schiff, aufs absolut Nötigste reduziert.“
„Das sieht man.“
Hermie wirft mir einen maßregelnden Blick zu.
„Man kommt an alles leicht ran und kann Dinge reparieren.“
„Aha.“
„Da oben etwa“ – Seadeleare zeigt auf ein Rohr – „geht immer mal der Flansch ab.“
Ich lächle still in mich hinein.
Golem heißt das Schiff. Ausgerechnet – ein Golem ist ein aus unbelebter Materie wie Staub oder Erde geformtes Wesen, das durch rituelle Beschwörung zum Leben erweckt wird. Genauso sieht das Ding aus. Drake eben – Lebensphilosophie für Menschen mit besonderem Geschmack.
Wir lästern noch ein wenig über das Schiff, schließlich hat sich das Thema aber erschöpft. Offenbar scheint es ja seinen Dienst zu tun. Auch wollen wir Seadeleare nicht gleich wieder vergraulen. Wir berichten ein wenig von unserer Expedition und unserer Hilfe für die Citizens for Prosperity. Wie sich herausstellt, ist Seadeleare hinter den gleichen Mineralien her wie wir, Jaclium und Saldynium, im Auftrag einer gewissen „Kyber Minerals Incorporated“.
Nie davon gehört.
„Nun denn…und jetzt?“
Seadeleare zuckt mit den Achseln.
„Schließen Sie sich uns doch an… Himmel, ich sage jetzt einfach Alaska. Wir sind hier in Pyro…weit von jeglicher Zivilisation.“
„Klar.“
„Schönes Schiff habt ihr da“, sagt Alaska an Friedrich gewandt. „Ich war noch nie auf so einem Cruiser.“
„Wir können ja mal rübergehen“, erwidere ich – in dem Moment hören wir ein weiteres Schiff: Zero ist im Landeanflug.
„…oder wir treffen uns alle auf der Starlancer.“
Kaum sind wir an Bord, traue ich meinen Augen nicht – Zero hat schon wieder jemand Neues angeschleppt. Zero freut sich ebenfalls, Seadeleare wiederzusehen, dann deutet er mit einem Kopfnicken auf die fremde Person: „Das Ist Pike.“
Ich stöhne. Friedrich scheint ebenfalls alles andere als begeistert zu sein.
Unsere geheime Expedition zieht immer größere Kreise.
„…und Pike kommt jetzt woher?“
„Gaslight“, ergreift dieser selbst das Wort.
Ich blicke Zero stumm an.
Es ist ja nicht so, als wären wir hier auf einem Sightseeing-Trip. Die Regen-Krise bedroht uns alle. Und irgendwer will darauf auch noch sein eigenes Süppchen kochen. Wir haben keine Muße für nette Get-together und Smalltalks.
„Ich habe ihn auf der Station in der Bar getroffen. Er hat einen eigenen ROC und wird uns weiterhelfen“, sagt Zero zu meiner Überraschung.
Das klingt schon anders.
„Ich bin ein halbes Jahr auf Gaslight gewesen. Die Crew von meinem vorigen Job hat mich von einem Moment zum nächsten im Stich gelassen.“
Ich mustere den Unbekannten.
Lange Haare, schmutziges Gesicht, durchdringender Blick.
Sicher, er war ein halbes Jahr auf Gaslight…wer sieht da aus wie aus dem Ei gepellt…andererseits: Gibt es nicht immer auch Gründe, wenn man jemanden einfach so zurücklässt?
Unsinn, das muss gar nichts bedeuten.
„Da oben haben plötzlich alle die Waffen gezogen. Und nachdem mir Pike gesagt hatte, dass er einen ROC hat, haben wir nicht lange gefackelt“, erklärt Zero.
Ich gebe meinen inneren Widerstand auf. Wir können ja jede helfende Hand brauchen – erst recht jemanden, der weiß wie man mit einem ROC umgeht.
„Ein eigenes Schiff hast du also nicht…“
„Nein, nur den ROC. Pleite bin ich auch. Nehme also jeden Job an“, sagt Pike und erzählt, dass er aus Hurston stammt und Flüchtling sei….ich denke an Killer.
Es sind immer wieder ähnliche Geschichten.
Friedrich blickt von seinem Handheld auf, er ist bereits in die nächsten Schritte vertieft.
„…ich habe auf der Karte einen Ort entdeckt, wo das Minern vielleicht lohnen könnte. Ist eine Art Senke, in der man Zugriff auf verschiedene Sedimentschichten hat.“
Es ist gut, dass Friedrich das Heft des Handelns in die Hand nimmt, sonst quatschen wir uns fest.
„Dann sollten wir dort vielleicht mal vorbeischauen“, sagt Hermie.
„Bau keinen Scheiß allein auf Zeros Schiff!“, raune ich unterdessen Pike zu.
Ich blicke ihm direkt in die Augen – sein Blick ist der eines Mannes, der nicht mehr viel zu verlieren hat. Kaum haben alle abgehoben, bin ich mit meinen Vorurteilen allein. Zwei neue Expeditions-Teilnehmer – sicher, das ist bestimmt von Vorteil, aber auch nicht ohne Risiken. Wann erreicht eine Gruppe ihre kritische Masse? Werden sich Fraktionen, Fronten bilden? Gruppendynamik ist immer ein heißes Thema – erst Recht, wenn sich nicht alle kennen. Ich denke an das Crew-Projekt, das uns so krass um die Ohren geflogen ist.
Nur, dass wir uns diesen Luxus diesmal nicht leisten können.
Ich cruise über den Mond, verscheuche alle Grübeleien – und gebe mich ganz der neuen, fremden Welt hin. Tiefe Täler wechseln mit hohen Bergen ab. Steile Abbruchkarten zeugen von heftiger Plattentektonik. Es ist ein Mond, der Millionen Jahre nicht zur Ruhe kam. Ich wette, hier werden wir Mineralien finden, wenn wir vielleicht auch nicht gleich sofort den ganz großen Durchbruch erzielen.
Ich steuere die Position der anderen an. Friedrich ist bereits auf einer Nox unterwegs.
„John, kannst du aus der Luft ein wenig die Gegend scannen? Vielleicht entdeckst du ja was….“, ruft er über Funk.
„Klar.“
Ich schalte den Scanner auf, schicke einen Ping nach dem anderen raus, kreise über unserer Landestelle und der weitläufigen Senke. Immer wieder zeigen die Ergebnisse, dass etwas im Boden steckt.
„Der Ort ist jedenfalls nicht schlecht.“
Schließlich lande ich und wir packen die GEOs aus – höchste Zeit, damit mal was Anständiges anzufangen. Pike ist mit seinem ROC bereits zu Gange. Ich schnappe mir den nächstbesten Stein, der aussieht, als würde etwas in ihm zu finden sein und schalte den Laser drauf.
Irgendwann glüht der Stein gelb.
Ich blicke auf die Anzeigen. Irgendwas blinkt hektisch, irgendwas ist im roten Bereich. Doch ich habe keine Ahnung, was es bedeutet – als es auch schon knallt! Vor mir explodiert der Himmel in tausend Farben. Ich erblinde kurzzeitig, dann werde ich regelrecht aus dem GEO gerissen. Meine Ohren klingeln, leise vernehme ich im Hintergrund Stimmen.
„Bru…Bru…“
„Zero…Zero…“
Irgendwann verpasst mir irgendwer einen Schuss mit der Medipistole…betäubt rappele ich mich hoch.
„…das…das…war wie eine Bombe.“
Zerspringen Steine unkontrolliert, wenn man zu lange Energie in sie hinein pumpt? Klar. Kann einem ein Bruchstück auch mal durch die Frontscheibe fliegen, wenn man nicht aufpasst? Natürlich.
Aber das…
Wir sind alle mehr oder weniger geschockt.
Ich untersuche meinen GEO – halb zerstört, nach seinem ersten Einsatz. Ich gehe ein paar Schritte, um im Kopf wieder klar zu werden.
„Einen Versuch machen wir noch“, sage ich schließlich trotzig.
Ich besteige den GEO wieder und versuche erneut mein Glück. Auch Pike klettert wieder in seinen ROC. Ich drehe den Energielevel diesmal nicht ganz so hoch – doch das Gleiche passiert nach kurzer Zeit noch einmal. Diesmal fliegt fast der halbe Mond in die Luft, so fühlt es sich zumindest an. Ich werde meterweit durch die Gegend geschleudert.
„Wir sind alle verflucht, das ist der Prophet von Pyro“, jammert Zero leise im Funk.
Offenbar hat es diesmal auch den ROC mit zerrissen.
„Das sind keine Prophezeiungen. Das ist Inkompetenz“, erwidert Hermie.
Benommen, frustriert und desillusioniert kehren wir alle auf die Starlancer zurück. Man kann es Friedrich am Gesicht ablesen: Er ist geneigt, die ganze Expedition sofort an Ort und Stelle abzubrechen. Hermie macht mir unverhohlene Vorhaltungen, mich mit dem Gerät nicht ausgekannt zu haben. Natürlich weiß er alles besser, kann alles besser. Wir diskutieren uns die Köpfe heiß.
Wir fallen in unsere alten Muster – „Gentleman Agreement“ hin oder her.
Allerdings: Er hat Recht.
Ich habe nicht die geringste Ahnung vom Minern – dass uns zweimal hintereinander eine derartig heftige Detonation halb umbringen würde, das konnte aber keiner ahnen. Dennoch: Die Naivität, mit der wir an die Sache rangehen, ist hanebüchen, auch wenn ich die zweite Explosion nicht verursacht habe, wie ich glaube. Vielleicht lag es auch an der Atmosphärenzusammensetzung. Wie auch immer: Unsere Unwissenheit müssen wir abstellen, wir brauchen dringend koordiniertes Vorgehen, mehr Expertise – und das alles sofort.
Irgendwann ist alles gesagt und wir blicken uns gegenseitig an.
„Vielleicht kann ich aus beiden Geos einen halbwegs funktionierenden zusammenbauen“, sagt Hermie.
Pike ist deutlich anzusehen, dass er sich ganz weit weg wünscht.
Alaska brütet still vor sich hin.
„So geht es jedenfalls nicht weiter“, sagt Friedrich halb sauber, halb fordernd.
So kenne ich Friedrich: Derartigen Dilettantismus ist er nicht bereit zu akzeptieren. Während sich jeder auf sein Schiff zurückzieht, um das Geschehene zu verarbeiten, laufe ich allein auf einen Hügel und blicke hinauf zu Pyros Gasriesen.
Kein Geräusch trübt die Stille.
Sie dröhnt daher umso lauter.
*****
Das Piepen des Mobiglas reißt mich aus dem Schlaf.
Müde lese ich die Nachricht.
Ich schüttle frustriert den Kopf – das hat uns gerade noch gefehlt.
Eine Anstandsdame – wie einst vermeintlich Aruhso.
Ich drücke die Nachricht weg und versuche wieder einzuschlafen.
Draußen schleift der Wind den feinen Sand des Mondes nervtötend über die Hülle der „Shack One“.
Ich rapple mich hoch, reibe mir die Augen. Irgendwann bin ich halbwegs klar.
Mir wird schmerzlich bewusst: Wir haben hier draußen nichts verloren.
Das Ganze ist zum Scheitern verurteilt.
Warum nur macht man sich die Probleme anderer immer wieder zu eigen? Warum quittiert man die ganzen Probleme des Universums nicht einfach mit einem Schulterzucken? Wie können wir schon den Unterschied machen?
Ich ziehe mich an und laufe ins Cockpit.
Ich blicke aus der Frontscheibe.
Die Starlancer ist verschwunden.
Hinter den Staubwolken erkenne ich die Schiffe der anderen.
Ich ziehe mich an und starte die Turbinen.
Ein kleiner morgendlicher Ausflug bringt mich bestimmt auf andere Gedanken.
Nach wenigen Minuten bin ich in der Luft.
Wohin? Der Nase nach.
Ich lese die Nachricht noch einmal.
Ich formuliere im Geiste eine Antwort an alle Expeditionsteilnehmer, tippe sie und drücke auf Senden. Vor allem auf Friedrichs Reaktion bin ich gespannt.
Unter mir ziehen Berge und Täler, Senken und steile Grate dahin. Überall zu sehen: ausgetrocknete Flusstäler. Einst muss Ignis ein Paradies gewesen sein. Vielleicht hat die Atmosphäre umgeschlagen oder ein Meteoriteneinschlag hat sämtliches Wasser verdunsten lassen.
Die Sonne steigt am Horizont auf, intensive Schattenspiele am Boden inklusive.
Dann piept mein Mobiglas – jetzt geht die Diskussion los.
Es folgt ein typischer Hermie.
Die anderen äußern sich erstmal nicht – gut, sind ja auch eben erst dazu gestoßen.
Ich fliege weiter und übe ein wenig das Scannen mit der „Shack One“. An einem langen Hang liegen jede Menge Deposits. Dann entdecke ich in der Ferne einen kleinen Außenposten. Ich checke die Karte: Kabir‘s Post oder so. Offenbar eine Ansiedelung der Citizens for Prosperity.
Ich gehe tiefer: Vielversprechende Mining-Sites, eine Siedlung mit Citizens: Vielleicht können wir uns hier nicht nur moralisch wieder ein bisschen stärken. Ich markiere mir die Mining-Sites und lande in dem Ort, der aus nicht viel mehr als einem Landepad, einem Gebäude und ein paar Windrädern besteht.
Ich klettere auf einen Hügel, beschaue mir alles von oben. Dann laufe ich durch den Außenposten – alles ist friedlich. Doch wer weiß, wie lange. Mittlerweile steht die Sonne schon recht hoch. Hitze und Schwüle greifen um sich. Ich laufe zum Hauptgebäude und finde im Innern die Bewohner des Ortes.
„Hallo zusammen.“
Ich ernte ein paar kurze Kopfnicken, ansonsten herrscht Desinteresse.
Immerhin besser, als gleich erschossen zu werden.
Ich versuche mit einem jungen Kerl ins Gespräch zu kommen, der gelangweilt an einer Wand lehnt.
„Hey, wir versuchen hier ein bisschen zu minern. Suchen ein paar Sachen…“
„Und…?“
„Na, ich habe nicht weit entfernt von hier ein paar kleinen Deposits gescannt – an der langen Bergkette östlich von hier…“
„Und was hab ich damit zu tun?“
„Wollte halt nur mal fragen, ob es lohnen könnte. Siehst doch auch aus, wie ein Miner.“
Der junge Mann grinst schief.
„Bin kein Miner, hab‘ den Anzug nur von…egal….hier kommen viele durch. Ist wahrscheinlich schon alles abgegrast.“
„Verstehe, danke.“
Mein Magen knurrt.
Soeben wird in der Kantine irgendeine Suppe ausgegeben.
Ich stelle mich an.
„Citizen?“, werde ich gefragt.
„Wär‘ ich sonst hier?“, gebe ich schnippisch zurück.
Der Koch knallt mir eine seltsam aussehende Brühe in den Teller.
Irgendwas Undefinierbares schwimmt darin.
Egal, besser als ein knurrender Magen – ich hoffe nur, dass es keine Ratte ist.
Ich halte die Luft an, während ich die Brühe runterschlucke und das zähe Fleisch zerkaue.
Mein Mobiglas piept – eine dringliche Nachricht. Zeitgleich piepen auch die Mobiglas‘ der anderen Gäste.
Eine Newsflash von SSN / CATV
Offenbar sind in Pyro irgendwelche geheimen Stationen entdeckt worden – und offenbar handelt es sich um einen Leak, also Material, das dem Sender illegal zugespielt wurde. Man sieht einen Wissenschaftler, die anscheinend eines der benötigten Mineralien in den Händen hält, dann ein Experiment, bei dem ein Tier wiederbelebt wird, schließlich einen brutalen Angriff bei dem Wissenschaftler getötet werden.
Mehrfach fällt der Begriff „Lazarus“.
Dann ist die Sondersendung wieder vorbei.
Um mich herum wird leise getuschelt.
Ich schlage in der Galactapedia nach: Lazarus, in der biblischen Geschichte auferstanden von den Toten. Ich bin mir sofort sicher: In den Stationen forscht man an einem Gegenmittel gegen die Regen-Krise, ist der Lösung offenbar recht nahe, aber irgendjemand will das unbedingt verhindern.
Lazarus – der, der von den Toten wieder auferstanden ist.
Das ist der Codename.
Ich denke an Stanton, an Killer – wie weit weg ist das alles von hier. Nicht nur rein von der Distanz, sondern auch vom Gefühl. Entscheidet sich hier das Schicksal der Menschheit für die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte? Die Brühe ist fast kalt und schmeckt noch ekelhafter. Ich zwinge mich dennoch, den Teller leer zu löffeln, dann laufe ich zurück zum Schiff. Ich hab‘s im Urin – bald brennt die Luft.
Kaum habe ich abgehoben, trudelt Friedrichs Konzept ein.
Ich schiebe die Breaking News beiseite, komme für ein paar Momente aus dem Grinsen nicht mehr raus – das passt zu ihm. Ich lese die Kommentare dazu: Pike gefällt es – klare Abläufe, Sicherheitsprotokolle, keine Alleingänge mehr. Hermies Zustimmung findet es ebenfalls. Er denkt, dass wir so das Risiko senken werden. Hoffen wir‘s. Nur Zero muss dagegen anstinken:
Irgendeiner bürstet eben immer gegen den Strich.
In meinem Bauch fängt es ganz furchtbar an zu grummeln.
*****
In meinem Darm herrscht Krieg.
Seit Stunden komme ich nicht mehr von der Bordklo runter.
Ich wette, es war doch Rattenfleisch – verkeimtes, gammeliges Rattenfleisch – was da in der Suppe schwamm. Während ich mich vor den nächsten Krämpfen fürchte, lese ich die neueste Ausgabe der „Terra Gazette“.
Offenbar hat ein gefeuerter Mitarbeiter im Rahmen der Regen-Krise den Waffenhersteller Associated Science & Development der illegalen Experimente beschuldigt, was wiederum von der Firma sofort dementiert wurde. Ich grübele – handelt es sich bei ASD nicht um den Hersteller, der auf den Leaks von SSNCatTV zu sehen war? In der Tat. So langsam setzt sich ein Bild zusammen. Wenn eine Firma sich bemüßigt sieht, Dinge dementieren zu müssen, die eigentlich total nebensächlich sind, ist immer ein Fünkchen Wahres an der eigentlichen Geschichte dran – alte journalistische Regel.
Plötzlich gellt ein Alarm durch das Schiff.
Ein neuer Sonnensturm ist im Anmarsch – offenbar einer der Stufe fünf, der schlimmsten Kategorie. Mist verdammter – und jetzt? Ich denke fieberhaft nach. Auf der „Shack One“ ist es nirgendwo wirklich sicher, also bleibe ich einfach auf der Toilette sitzen.
Ich checke mein Mobiglas.
„So eine Scheiße!“, schreibe ich und versuche damit, die anderen auch gleich für mein kleines Verdauungsproblem zu sensibilisieren. Doch niemanden kratzt es – dafür geht es im Chat hoch her:
Anscheinend wettert jeder den Sturm woanders ab.
Die Eruption des Sterns erreicht ihre höchste Intensität. Das ganze Schiff scheint sich aufzuladen, tief in der Elektronik brummt es. Waren wir nicht zuvor gewarnt worden, dass so etwas in Pyro ständig passieren kann? Das ist jetzt bereits das zweite Mal innerhalb weniger Wochen. Vielleicht hat der Stern gerade eine besonders aktive Phase. Wie auch immer – allzu oft sollten wir das nicht mitmachen. Die anderen sitzen wenigstens in viel besser gepanzerten Schiffen. Die „Shack One“ ist hingegen nur eine dünne, kleine Blechbüchse.
Irgendwann lässt das Brummen nach.
Ich verlasse die Toilette und schleppe mich ins Cockpit.
Am liebsten würde ich mich nur wieder ins Bett legen – aber wenn diese Expedition irgendwann einen Zweck erfüllen oder sogar von Erfolg gekrönt sein soll, müssen wir uns am Riemen reißen.
Ich ziehe mich an und laufe nach draußen.
Pyros Stern steht am Himmel, als könnte er kein Wässerchen trüben.
Ich blicke mich um und versuche die Krampfanfälle zu ignorieren. Das Gehen tut meinen Eingeweiden gut.
Vor mir steht die „Silver Arrow“ – ich laufe auf sie zu, als das Schiff plötzlich aus dem Nichts heraus in drei Teile zerrissen wird. Ich werde nach hinten geschleudert, donnere hart auf den Boden, Sandkörner beharken mich wie kleine Geschosse. Nachdem sich die hellen Flecken vor meinen Augen langsam aufgelöst haben, blicke ich mich hektisch um.
Mein Gott, Friedrich…
Alle schreien wild durcheinander und rennen zu der Stelle, an der eben noch seine Origin 600i gestanden hatte.
„Friedrich? Friedrich!“
Nichts.
Wir hetzen zu den großen Trümmerteilen, jenen, die eben noch Bug und Heck des Schiffes waren und nun zerborsten im Staub von Ignis liegen.
„Friedrich…“, brülle ich wieder.
„Hier…“, kommt es schließlich leise zurück.
Es ist das nackte Wunder: Friedrich hat die Explosion in einer Rettungskapsel überlebt.
Ich atme tief durch.
Wenige Minuten später krabbelt er aus den Überresten seines Schiffes heraus.
Tränen stehen ihm in den Augen.
Keiner von uns sagt für ein paar Augenblicke ein Wort.
„…ich…die Powerplants müssen explodiert sein“, stottert Friedrich sichtlich verstört.
Er hatte sie zwar für die Notfallsituation des Sonnensturms kalibriert, aber dann müssen sie dennoch überlastet worden sein.
„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.“
„Hauptsache, du bist am Leben!“
Die Vorstellung, meinen Retter, väterlichen Mentor und Freund wegen der Regen-Krise eben fast für immer verloren zu haben, entsetzt mich. Ich verscheuche den Gedanken. Es ist nur ein Schiff – und Schiffe lassen sich ersetzen. Auch wenn ich weiß, wie sehr Friedrich die „Sillver Arrow“ geliebt hat.
Wir besehen uns das Trümmerfeld.
Zero schüttelt den Kopf.
„Die Expedition ist verflucht – der Prophet will nicht, dass wir hier minern“, sagt er.
Ich blicke ihn frustriert an. Nach Legenden und Mythen steht mir in dem Moment nicht der Sinn.
„An jeder Legende ist etwas Wahres dran“, sagt Zero, als hätte er meine Gedanken erraten.
„Zero…“
„Und jetzt?“, grätscht Hermie rein, „wie soll es weitergehen?“
„Runter von Ignis“, antwortet Zero. „So schnell wie möglich.“
Ich wollte zwar noch an der Steilwand bei Kabir‘s Post die Deposits abchecken, aber niemandem steht nun der Sinn nach einer Lehrstunde im Minern.
„Wohin soll es gehen?“, frage ich in die Gruppe.
„Adir“, antwortet Hermie spontan.
Ich nicke – der Mond ist so gut wie jeder andere.
„Ich fliege vor, checke die Lage. Ich war dort schon kurz“, sage ich.
Die anderen nicken zustimmend.
Zero will noch irgendwelche Vorräte bei Kabir‘s Post besorgen. Friedrich fliegt bei Hermie mit und will sich erstmal sammeln. Ich starte die „Shack One“ und hebe ab.
Ich blicke stur geradeaus an den Himmel. Den Anblick von Friedrichs „Silver Arrow“ im Dreck würde ich nur schwer ertragen. Ich weiß, irgendwas von Friedrich wird heute mit auf Ignis bleiben. In mich gekehrt, steuere ich Adir an – jenen Mond, auf dem unsere wilde Reise durch Pyro vor einem halben Jahr begonnen hatte. Hier endete mit Aruhso ein Kapitel, hier begann ein Neues. Der Mond wirkt so düster wie beim ersten Mal. Es fühlt sich an, als würde man sein Schiff in einen Höllenschlund hinabfliegen. Vielleicht hat Zero ja wirklich Recht: Die Expedition ist verflucht.
In jedem Fall steht sie unter keinem guten Stern.
Ich blicke auf die Karte: Prophet‘s Peak heißt die Siedlung der Citizens, bei der wir uns treffen wollen – wie könnte es auch anders sein. Ich drehe eine Runde über die schroffen Bergspitzen, dann lande ich die „Shack One“.
Allein laufe ich durch den Ort.
Ich blicke hinaus auf die abweisende Bergwelt.
Was nur hat uns her verschlagen?
Wir müssen alle einen hohen Preis bezahlen – Pyro fordert seinen Tribut.
Ich sinniere stumpf vor mich hin und warte auf die anderen, als mich gleißendes Licht eines Scheinwerfers erfasst. Es ist eine Golem – anscheinend Alaskas Schiff. Offenbar hat er seine große C2 wieder im Orbit geparkt. Ich laufe zum Landeplatz, als das Schiff plötzlich aus heiterem Himmel das Feuer auf die „Shack One“ eröffnet. Ich hechte in eine dunkle Ecke – vielleicht ein Miner, der einen schlechten Tag hatte und der nun Frust schiebt.
Dann höre ich im Funk die anderen.
„Zeigt‘s dem Idioten da“, brülle ich in den Funk.
Hermie beharkt den Miner mit ein paar Salven, der macht daraufhin die Fliege.
„Schieß ihn ab!“
„Mach‘s selber, wenn das dein neues Hobby ist“, antwortet Hermie in seiner ganz besonderen Art.
Ausgerechnet jetzt holt Hermie die Moralkeule raus.
„Wie bitte, was?“
„Ich habe schon seit drei Jahren keinen mehr angegriffen“ sagt Hermie seelenruhig.
Hermie hat das perfekte Gespür dafür, genau das Gegenteil von dem zu sagen, was angesagt wäre…als wollte er einen bewusst reizen. Mein Freund und Mentor Friedrich Winters ist heute nur knapp mit dem Leben davongekommen und seine geliebte „Silver Arrow“ explodiert, unsere Expedition ist eigentlich schon gescheitert, wenn nicht noch ein Wunder geschieht und irgendein gelangweilter Schwachkopf ballert auf fremde Schiffe, einfach weil ihn der Finger juckt…
Ich zähle bis zehn.
Friedrich meldet sich über Funk.
„Ich habe hier was Interessantes gefunden. Einen riesigen Graben. Den sollten wir uns vielleicht mal näher anschauen.“
Er schickt ein Bild.
Ich laufe zur „Shack One“ und checke die Systeme. Die Schilde haben gehalten.
„Ich komme gleich nach.“
Offenbar verdrängt Friedrich den Verlust der „Silver Arrow“, indem er sich auf die nächsten Schritte konzentriert. Jeder hat eben andere Bewältigungsstrategien.
„Das sieht aus, als hätte auf dem Mond eine interstellare Axt eingeschlagen“, sagt er.
In der Tat: Vor uns liegt ein riesiger Canyon, der sich hunderte Kilometer über den Mond zieht.
Die anderen fliegen nur rund 300 Kilometer vor mir, sind aber nicht zu erkennen. Dichter Bodennebel hat sie verschluckt. Ich checke immer wieder Geschwindigkeit und Höhe, um nicht plötzlich in sie zu krachen. Das wäre das Allerletzte, das wir nun gebrauchen könnten.
„Lass uns da runtergehen“, sagt Friedrich zu Hermie.
Sie steuern das Ende der endlosen Erdspalte an – mir ist alles recht.
„Die Sonne müsste bald rauskommen“, sagt Alaska, der sich die ganze Zeit eher im Hintergrund gehalten hat. Auch Pike denkt sich anscheinend seinen Teil. Wahrscheinlich checkt er unsere Gruppe immer noch ab – ich würde es ihm nicht verübeln, wenn er sich bald was Anderes suchen würde. Offenbar hat er aber einen besonderen Draht zu Zero, die beiden verstehen sich auf Anhieb.
Ich lande die „Shack One“ und stelle die Turbinen ab. Dann folge ich den anderen, die bereits einen Hügel erklimmen und den Sonnenaufgang erwarten. Und plötzlich, fast ohne Vorwarnung, kommt die Sonne auch heraus und bescheint das ganze tiefe Canyon-Tal in allen Farben des Regenbogens. Es ist ein atemberaubend schönes Farbspiel. Wir stehen auf einer dicken Schicht Obsidian, in der sich die Welt zu allem Überfluss auch noch spiegelt. Kurzum: Die Sonne flutet das Tal mit glitzerndem Licht, als wollte sie nicht nur den Mond, sondern auch uns erleuchten.
Dann ist das Naturschauspiel vorbei.
„Lasst uns auf der Starlancer wenigstens noch ein paar Dinge klären, wie wir nun weitermachen wollen“, sagt Friedrich, nachdem sich der neue Tag endgültig breit gemacht hat. Er will nach vorn blicken.
Gemeinsam laufen wir zurück zu unseren Schiffen. Kaum habe ich die Messe des Schiffes der Citizens erreicht, werde ich fast ohnmächtig. Mir wird bewusst: Ich habe wegen der ganzen Aufregung über Stunden viel zu wenig getrunken. Erst wird mir schwummerig, dann knalle ich der Länge nach hin. Ich nehme den Helm ab, Zero gibt mir etwas zu trinken. Sofort melden sich meine Magenkrämpfe wieder und ich renne auf das Klo der Starlancer. Als ich in den Spiegel blicke, traue ich meinen Augen nicht – mein ganzer Körper ist krebsrot. Wahrscheinlich habe ich eine Mörder-Strahlendosis während des Sonnensturms abbekommen. Und der Virus gibt mir nun den Rest.
Ich brauche ein Medibett – sofort.
„Ich bringe dich auf mein Schiff, dort habe ich eine kleine Rettungspisces“, sagt Alaska.
Ich pelle mich unter Schmerzen wieder in meinen Undersuit und folge ihm schwankend. Ich lege mich auf das Medibett und schließe kurz die Augen. Als ich sie wieder öffne, krabbeln auf der gegenüberliegenden Wand kleine Käfer oder Spinnen – oder irgendetwas stimmt ganz gewaltig nicht mit mir. Ich sage Alaska, was da durch sein Schiff kreucht.
„Du hast Halluzinationen“, sagt er beruhigend, „da ist nichts.“
Dann verabreicht er mir irgendein Mittel.
Erneut schließe ich die Augen.
Ich weiß: Ich habe mir das nicht eingebildet.
Ich träume wild.
Von Käfern, die unter der Haut krabbeln, von Spinnen, die Metall fressen.
Dann fliegt alles in die Luft.
Wir sind verflucht.
*****
Piep.
Ich klicke die Nachricht weg.
Piep.
Das kann echt nicht wahr sein!
Es ist 3 Uhr früh – sind die alle nachtaktiv, oder was?
Das ist ja fast wie in einem Ferienlager für Jugendliche.
Ich richte mich stocksauer in dem engen EZ-Hub auf. Schlimm genug, dass ich wieder in einem übernachte. Dann hacke ich regelrecht auf mein Mobiglas:
Ich drehe mich auf die Seite und versuche wieder einzuschlafen.
Auf der anderen Seite des Ganges der Gaslight-Station schreit sich jemand die Seele aus dem Leib.
*****
Wenige Stunden zuvor.
Meine Augen wandern durch den kleinen Innenraum der Pisces.
Es ist hell und ich bin wach.
Zumindest geistig.
Der Rest von mir scheint jedoch tiefgefroren zu sein.
Ich versuche mich zu bewegen – nichts. Bin ich körperlich sediert, festgeschnallt – oder habe ich gar das „Locked-In“-Syndrom? Klar ist: Ich liege immer noch auf der Liege in Alaskas kleinem Rettungsschiff. An der gegenüberliegenden Wand krabbeln fröhlich Viecher umher.
Ich höre die anderen im Funk.
„…was machen wir jetzt mit ihm? Ab ins nächste Krankenhaus? Seine Atmung war sehr flach und er hatte Herzrasen.“
Es geht augenscheinlich um mich.
„..vielleicht sollten wir ihm einen Aderlass verpassen.“
Ich glaube, mich verhört zu haben. Sind wir wieder im Mittelalter, oder wie? Wie es scheint, hält mich irgendwas gefangen, bei gleichzeitig wachem Geist. Ich versuche zu rufen, doch meiner Kehle entringt sich kein Laut.
Friedrich und Alaska stehen neben mir.
„Aderlass, ihr spinnt wohl“, will ich brüllen.
Tatsache scheint jedoch zu sein, dass das Medibett nicht weiterhilft.
„Da ist eine alte Firmware drauf“, erklärt Alaska nüchtern und ruhig.
Ich stöhne.
„Jedenfalls müssen wir ihn irgendwie entgiften.“
Erneut fällt das Wort Aderlass.
Meine Gedanken rasen.
Es würde mich nicht wundern, wenn ich einen Raumkoller hätte. Der ist schon lange überfällig.
„Ich habe eine Idee“, sagt Friedrich schließlich.
Er blickt mir direkt in die Augen, dann eilt er aus der Pisces und kehrt kurz darauf mit einer Medipistole zurück. Ohne weitere Diskussionen injiziert er mir ein Mittel. Erst spüre ich nichts, dann merke ich, wie die Taubheit nachlässt. Erst kann ich meine Füße, dann die Hände und schließlich wieder den ganzen Körper bewegen. Ich huste mir die Lunge aus dem Leib.
„Langsam, Bru.“
Friedrich hilft mir hoch.
„Wir haben dich unter Drogen gesetzt und zwar mit einer ordentlichen Dosis. Das muss dein Körper erst abbauen.“
Ich nicke schwach.
„…das war jetzt die schnellste Möglichkeit, Dich zurückzuholen.“
Ich richte mich auf, versuche ein paar Schritte. Es fühlt sich an, als würde ich auf dem Deck eines Segelschiffes stehen, das durch schwere See stampft. Dennoch: So langsam komme ich wieder zu mir. Die Todeskombi aus Rattenfleisch, einer hohen Strahlenbelastung und totaler Erschöpfung hat mich ausgeknockt.
Ich stolpere aus der Pisces ins Helle.
Mein Schädel fühlt sich an, als wollte er explodieren.
Ein weiteres Mal richtet Friedrich die Medipistole auf mich. Ich lasse alles über mich ergehen – er wird wissen, was er tut.
„Erstmal zurück auf dein Schiff?“
Ich grunze zustimmend.
„Ich brauche was zu trinken. Meine Kehle brennt wie Feuer.“
„Haben wir gleich“, sagt Alaska, der mich ebenfalls begleitet.
„Wo sind die anderen?“
„Minern. Sie haben vielleicht etwas Interessantes entdeckt.“
Offenbar hat Hermie es geschafft, aus den beiden kaputten GEOs einen halbwegs brauchbaren zusammenzubauen. Wir erreichen die „Shack One“. Meine Körperkräfte kehren zurück. Im Schiff schlucke ich eine Flasche Wasser auf Ex, dann geht es mir besser. Mein Blick wird wieder klar.
Ich blicke mich um.
Es sind keine Käfer oder sonstigen Krabbeltiere auf der „Shack One“ zu entdecken.
Friedrich hat meine Gedanken erraten.
„Ich habe sie auch gesehen“, sagt er.
Gut, dann bin ich wenigstens nicht verrückt – wer weiß, wo die Pisces schon überall war.
„Was machen wir jetzt?“
„…vielleicht eine kleine Runde drehen. Bringt dich auf andere Gedanken. Wir können nebenbei gleich das Gebiet scannen“, antwortet Friedrich.
„Okay, aber du fliegst.“
Ich lasse mich in den Copilotenstuhl fallen. Alaska kehrt zu den anderen zurück, er will mit seiner Golem beim Minern unterstützen. Friedrich zieht das Schiff an den Himmel – der ganze Planet glänzt unter uns im Sonnenlicht als wäre er aus Silber. Immer wieder schickt Friedrich Pings raus, doch wie es aussieht, sind Deposits nur im Tal der riesigen Schattenwelt zu finden. Dafür ist der Anblick einmal mehr faszinierend.
Die umliegenden Berge sind regelrecht aufgefaltet worden. Die Kraft, die den Canyon geschaffen hat, muss unerhört gewesen sein. Sogar innerhalb des Massivs hat es Verschiebungen gegeben – davon zeugen wellenartige Muster der verschiedenen Gesteinsschichten.
„Großartig, oder?“
Ich nicke geistesabwesend und bin nur froh, dass ich meine Augen in der Ferne entspannen kann.
Wir fliegen diverse Runden, doch es bleibt dabei: Wir finden nichts.
„Wollen wir zu den anderen?“
„Sicher.“
Zero, Pike und Hermie sind schwer zu Gange und wie aussieht, ist bisher noch nichts explodiert.
„Achtung, Bru kommt. In Deckung“, scherzt Zero.
Ich ignoriere ihn. Mir ist nicht nach dummen Sprüchen zumute.
„Wie geht’s dir eigentlich?“
Zero zuckt mit den Schultern.
„Hatte ein flaues Gefühl im Magen. Ging aber recht schnell vorbei.“
„…und den anderen?“, frage ich in die Runde.
Offenbar hatte ich sonst keinen angesteckt. Pike sagt, dass er auf Gaslight so viele Ratten gegessen habe, dass er immun sein dürfte. Vielleicht war es nicht das Rattenfleisch, dass mich so umgehauen hat, vielleicht war es „nur“ die brutale Gammastrahlung von Pyros Sonne.
„Was habt ihr gefunden?“
„Glacosite“, antwortet Hermie.
Ich beschaue mir das orange Mineral, das an Bernstein erinnert.
„Aha…und was ist das?“
„Ein Überbleibsel eines Gletschers, der hier mal durchkam…wird wohl beim Bau von Isolatoren verwendet.“
Kurzum: Nett, aber hilft uns nicht weiter. Was wir immer noch brauchen ist Saldynium oder Jaclium.
Im Hintergrund sprengt Alaska mit seiner Golem einen weiteren Felsen auf.
„…und es gibt noch ein anderes Problem. Man kann die Steine zwar knacken, aber das Zeug lässt sich nicht einsammeln. Haftet irgendwie fest am Boden…“
Zero spricht den Satz nicht zu Ende – in diesem Moment fliegt ein Brocken Glacosite wie von Geisterhand an ihm vorbei und bleibt an der Starlancer kleben. Das Gleiche passiert noch fünf-, sechsmal. Auch am GEO haften die Brocken und wackeln unnatürlich hin und her.
„Himmel, was ist das nun wieder?“
Und das nächste Phänomen folgt sofort: Der Strahl des Miningtools bleibt in der Luft stehen – obwohl das Gerät ausgeschaltet ist. Ich starre auf die zitternde Flamme. So langsam bin ich echt geneigt, an übersinnliche Dinge zu glauben. Und sei es der Prophet.
Irgendwas stimmt mit dem Mond nicht – und zwar ganz gewaltig.
Nein, irgendwas stimmt mit ganz Pyro nicht.
„Könnte irgendwas mit Magnetismus sein“, sagt Alaska schließlich.
Klar, da spricht der Wissenschaftler. Mir kommen Feldlinien in den Sinn, die sich hier in dem tiefen Tal vielleicht ganz besonders kreuzen, verdichten oder was auch immer. Ich schnappe mir Hermies Multitool und schieße ein paar Miningstrahlen ab – doch lösen sie sich sofort auf, wie es sich gehört.
„Lasst uns Schluss machen und zurück in Basislager“, sagt Friedrich.
Niemandem muss man das zweimal sagen.
Unsere Schiffe glänzen in der Ferne in der untergehenden Sonne Pyros. Ich freue mich auf eine erholsame Nacht – ich will nur noch eins: mal richtig durchschlafen. Friedrich und ich kehren mit der „Shack One“ zurück – als es plötzlich kurzzeitig hinter einem Hügel aufblitzt. Dann folgt ein Donner, der uns durch Leib und Magen geht. Nur ein paar Sekunden später wissen wir: Alaskas Golem ist explodiert. Sofort eilen alle herbei – sein kleines Miningschiff hat es regelrecht zerfetzt.
Alaska hat es aus dem Cockpit herausgeschleudert – ist aber nirgends zu sehen. Fieberhaft suchen wir mit den Scheinwerfern der Starlancer und der „Shack One“ die Gegend ab, klettern zu Fuß über Stein und Geröll. Bei der Heftigkeit der Explosion kann Alaska sonstwo liegen. Schließlich entdecken wir ihn – er lebt noch, hat aber schwerste Prellungen erlitten. Er steht kurz davor, sich in seinen Helm zu übergeben. Mit vereinten Kräften bringen wir ihn zu seiner Pisces.
Brüche und Quetschungen sind Verletzungen, mit denen das Medibett klarkommt und nach ein paar Minuten steht Alaska wieder vor uns – benommen zwar und geschockt, aber körperlich immerhin wieder halbwegs intakt. Verdammt noch eins. Wir haben nicht nur kein Glück, sondern ein Unglück jagt das nächste.
„Das Schiff ist aus heiterem Himmel explodiert“, schildert er, „einfach so.“
Frustriert kehren wir allesamt auf die Starlancer zurück.
Im Hangar steht der ROC, an dem das Glacosite fröhlich ein Eigenleben führt, geradeso, als wäre es lebendig, als würde sich hier ein Homunuclus zusammensetzen. Alles in mir sagt: Diese Expedition wird noch manche Überraschung für uns bereithalten – und zwar ganz anders, als wir denken.
Wir laufen in die Messe. Friedrich ergreift das Wort.
„Wäre ich paranoid würde ich sagen, wir werden sabotiert“, sagt er.
Die Worte hängen für einen Moment unheilschwanger in der Luft und es herrscht Totenstille.
Ein Saboteur – hier unter uns?
Ich weiß: Ist das Misstrauen erst einmal in der Welt, fällt alles auseinander…ich durchbreche die Stille damit der Satz seine Wirkung nicht voll entfalten kann.
„Wir sollten uns mal bei dieser Lyrana zurückmelden. Sonst stehen die Citizens demnächst persönlich vor der Tür.“
Ich scrolle durch mein Mobiglas.
„…hattet Ihr eigentlich den Einsatzbrief gelesen? Ausbildung im Bereich Sicherheitsdienst, Patrouillenführung im orbitalen Raum um Pyro III, Missionsplanung und Luftraumüberwachung, Umgang mit militärnahen Systemen…“
Ich atme durch.
„…das ist kein Leichtgewicht. Die wissen, wen sie uns da schicken.“
Es entspinnt sich eine Diskussion, womit wir nun eventuell zu rechnen haben. Dann kommt die Sprache noch auf Lazarus. Auch die anderen hatten das geleakte Videomaterial gesehen. Friedrich philosophiert darüber, dass wir hier erleben würden, wie sich die Gesellschaft in zwei Teile spaltet – in Sterbliche und Unsterbliche. Ich kann ihm nicht ganz folgen. Schließlich erwähnt er die Terra Gazette.
Ich rufe mir die Ausgabe noch einmal auf – tatsächlich, da steht es: Eine Studie vermutet, dass ein seltenes Gen, das nur zehn Prozent der Bevölkerung besitzen, einen erfolgreichen Imprint garantiert. Die Meldung ist klein versteckt, so, als wollte man der Chronistenpflicht genügen, es aber nicht an die allzu große Glocke hängen. Klar, wenn das stimmt, wäre das der Oberhammer.
Schließlich sind der Worte genug gewechselt. Wir alle gehen auf dem Zahnfleisch. Friedrich und ich beschließen, die Expedition für den Moment zu verlassen und fliegen nach Gaslight. Wir wollen ein paar Vorräte besorgen, die anderen wollen später auf Adir noch einmal in eine Pilzhöhle und Friedrich muss zu einem Admin-Büro – Meldung machen über den Verlust seiner „Silver Arrow“.
Schweigend steigen wir über Adir auf, lassen die anderen zurück.
Manchmal gibt es unendlich viel zu besprechen – und doch herrscht nur Sprachlosigkeit.
*****
In der Nacht.
Piep.
Ich streife das Mobiglas von meiner Hand und stecke es unter das Kissen. Dann ziehe ich mir die Decke über den Kopf.
Das Schreien auf der anderen Seite des Flures ist in ein leises Wimmern übergegangen.
Zwei Stunden noch, dann geht der Wahnsinn weiter.
*****
Ein paar Stunden später.
Man merkt Friedrich an, dass ihm die ganze Situation zu schaffen macht.
Eine Expedition, die alles andere als rund läuft, die „Silver Arrow“ explodiert, Nordlicht Aviation in schwierigen Fahrwassern, das Verhältnis zu seinem Enkel gelinde gesagt angespannt…
Ich steuere die „Shack One“ zu unserem Treffpunkt mit Lyrana Sorell. Ich rufe mir nochmal ins Gedächtnis, was sie uns zuvor geschrieben hatte: Sie steht nicht über uns, sondern hinter uns. Ihr Job sei es sicherzustellen, dass wir unseren erledigen können – was immer das auch heißen soll.
Friedrich atmet tief durch.
„Sinnlos, was wir hier versuchen“, sagt er schließlich.
Er sammelt seine Gedanken.
„…seit Jahrhunderten ist es in Pyro nicht besser geworden. Warum sollte es also plötzlich jetzt?“
Er sitzt auf dem Copilotensitz neben mir, ich blicke ihn an.
Friedrich sieht müde aus, geschafft.
Ich kann es ihm nachfühlen, ich bin ebenfalls total erledigt.
Ich weiß aber auch: Manchmal muss man sich gegenseitig wieder aus dem Sumpf ziehen.
„Die Citizens for Prosperity sind für das System eine echte Chance“, antworte ich, „sie sind bestimmt auch keine Unschuldslämmer, aber…“
Friedrich unterbricht.
„…weiß ich, John. Ich meine nur – mit der Regeneration schien es ja auch besser zu werden. Jetzt aber, da sie versagt, fallen wir zurück in Zeiten…“
„…ein Grund mehr, alles dafür zu tun, dass sie wieder funktioniert. Was bleibt sonst? Tod und Untergang.“
Friedrich nickt.
„Stimmt ja, was du sagst.“
Prophets Peak kommt in Sicht – der Ort, an dem wir Lyrana Sorell treffen sollen.
Über der kleinen Siedlung schwebt ein einsames Schiff.
Es knackt im Funk.
„Sorell hier. Ich folge euch.“
Keine Landung also, kein gegenseitiges Beschnuppern, kein klassischer Erstkontakt – einfach in die Vollen.
„Okay“, sagt Friedrich.
Ich halte meine Klappe – Friedrich ist der Expeditionsleiter.
Über Funk entwickelt sich ein Gespräch zwischen beiden. Friedrich bringt die anscheinend junge Dame auf den aktuellen Stand unserer Expedition. Meinem Gefühl nach ist Friedrich viel zu offen – was wissen wir über Sorell? Nichts. Genauso wenig wie über Pike, der zwar mittlerweile einen soliden Job bei uns erledigt, ansonsten aber auch immer noch ein verschlossenes Buch ist.
Wir landen in unserem Basislager und ich sehe schon aus der Luft, dass Zeros Starlancer fort ist. Kurz darauf werde ich erfahren, dass er zurück nach Stanton ist, irgendwas wegen Enos.
Frustriert schüttle ich den Kopf.
Sorell landet ihre Gladius ein wenig abseits. Neue Homebase ist ab sofort Alaskas Riesenschiff.
Wir treffen uns in dem kleinen Aufenthaltsraum des riesigen Transporters und nehmen unsere Helme ab. Sorell ist jung und hübsch. Eingehend mustert sie uns – und wir sie.
Tough, denke ich, vielleicht ein wenig verkrampft.
Klar, wenn man irgendwo in eine Gruppe reinkommt, ist es nie einfach.
Wir machen Smalltalk, es fallen viele nichtssagende Worte. Wie es scheint, ist sie aber auch nicht völlig freiwillig hier, irgendwas scheint im Hintergrund zu laufen. Mehrfach betont sie, dass sie zu unserem Schutz hier sei.
Ich höre mehr zu als ich sage.
Dann jedoch fällt ein Satz, der bei mir sofort alle Alarmglocken läuten lässt.
„..wenn es mal hart auf hart gehen sollte, möchte ich die Befehlsgewalt übernehmen.“
So läuft der Hase also.
Erst viele blumige, wolkige Worte – dann nebenbei die Katze aus dem Sack lassen.
Ich gebe sofort Kontra, um erst gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.
„Soweit kommt es noch – und schon gar nicht nach fünf Minuten.“
Zumindest Pike ist meiner Meinung.
Schweigen legt sich über die Gruppe.
Irgendwann ergreift Sorell wieder das Wort.
„Ich verstehe. Ganz wie Sie wollen – war in letzter Zeit eigentlich mal jemand im Cockpit und hat die Gegend gescannt?“
Wir blicken uns gegenseitig an.
„Ähem…“
Hermie macht sich auf den Weg.
Manchmal braucht es nur eine einfache Frage, um Dinge ins recht Licht zu rücken – denn Sorell hat einen wunden Punkt getroffen: Die riesige C2 leuchtet hier im Tal wie ein Weihnachtsbaum – ein gefundenes Fressen für jemanden, der sich aus der Luft wie ein Geier auf sie stürzen möchte.
Hermie kehrt zurück.
„Alles okay. Niemand zu sehen.“
Mir geht Zeros überstürzter Aufbruch im Kopf herum.
Enos…was will er allein ausrichten? Mit wem trifft er sich? Mit diesem Typen, der schon mal was dazu wissen wollte – Xine? Fragen über Fragen. Friedrich hat sich indes wieder gefangen und schickt noch einmal seine Geländekarte von Adir in den Chat.
„Hier gibt es einen weiteren interessanten, geologischen Punkt, den wir uns mal anschauen sollten – bevor wir zum nächsten Mond aufbrechen.“
Ich fliege diesmal auf Hermies riesigem Panzer Asgard mit – auch von innen ist es schlicht ein monströses Schiff, nüchtern und funktional. Wir springen um den Mond herum und landen auf einer Fläche, die komplett aus weißem Gestein besteht. Friedrich berichtet Sorell im Detail vom Verlauf unserer bisherigen Expedition – und darüber hinaus. Alaska und Pike machen sich unterdessen ans Werk. Sorell sichert die Gegend aus der Luft ab.
Ich höre zu, was im Funk besprochen wird. Wahr ist: Mein Misstrauen anderen Menschen gegenüber ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Kein Wunder aber auch, bei all den Dingen, die wir erlebt haben. Wenn Sorell uns ausschalten wollen würde – hier draußen im Nirgendwo wäre jetzt die perfekte Gelegenheit. Aruhso kommt mir in den Sinn – wobei: Verstellt hatte er sich von Anfang nicht. Wir hatten nur nicht genau genug hingesehen und hingehört.
Ich laufe durch die weißen Hügel, die so gar nicht zu Adir passen wollen.
Immer und überall ist die Natur für Überraschungen gut.
Kleine Büsche krallen sich in den sonst kargen Fels.
„Ich schlage vor, wir verlegen unser Hauptlager hierher, müssen dafür nur die C2 holen“, sagt Friedrich schließlich. Während Sorell, Pike und Alaska vor Ort bleiben, kehren wir zurück. Friedrich hat von Alaska den Zugangscode zu seinem Schiff erhalten – es dürfte kein Problem sein, sie zu starten.
Schließlich kann ich nicht mehr an mich halten.
„Du schüttest dieser fremden Person dein ganzes Herz aus“, sage ich vielleicht eine Spur zu heftig.
Friedrich schweigt.
„…ich meine, wir kennen sie doch überhaupt nicht.“
Es macht auf mich den Eindruck, als müsste Friedrich etwas kompensieren – vielleicht den Stress mit Husky oder er hat generell das Bedürfnis einen handfesten Grund zu finden, warum er das alles auf sich nimmt.
Irgendwann sagt er: „Du hast ja recht.“
Wir landen in unserem geliebten Tal, das soeben von der Sonne geflutet wird. Friedrich wechselt auf die C2, dann machen wir uns auf den Rückflug. Ich blicke aus dem Cockpit – es ist ein Ort, an den ich noch oft zurückdenken werde. Kaum sind wir wieder in Funkreichweite der anderen, habe ich erneut Sorell im Ohr. Sie will irgendwas zu Zero wissen, wieso er aufbrechen musste und anderes mehr.
Ich wimmle sie rüde ab.
Die Dame ist ganz schön neugierig – und ich werde sicher eine Zeit brauchen, bis ich mit ihr warm werde. Ich sage, sie solle sich auf ihren Auftrag der Citizens und auf ihren Job konzentrieren und schalte ab. Überhaupt – der Ton: irgendwie fordernd, so als hätte sie ein Anrecht darauf, alles über uns zu wissen. Wahr ist: Wir müssen uns nach all den Ereignissen der vergangenen Wochen überhaupt erstmal selbst wieder berappeln. Da brauchen wir nicht auch noch eine anmaßend-dreiste Aufpasserin.
Während des Anflugs brüte ich vor mich in. Wer weiß – vielleicht steckt ja ganz was anderes dahinter. Vielleicht haben die Citizens einfach nur Angst, dass wir hier einen Reibach mit ihrem Equipment machen und uns dann auf und davon machen. Den Finger legt Sorell natürlich dennoch in die Wunde. Wir sind an das Ganze vollkommen planlos rangegangen. Und Planlosigkeit rächt sich eben.
Wenigstens hat, während wir fort waren, beim Minern alles geklappt. Es ist nichts in die Luft geflogen oder explodiert. Das ist zumindest schon mal ein kleiner Fortschritt. Irgendwann packen wir unseren Kram zusammen und jeder kehrt auf sein Schiff zurück – ich fliege Friedrich wieder nach Gaslight. Er hat eine dringende Nachricht zur „Silver Arrow“ erhalten. Nachdem ich ihn abgesetzt habe, kehre ich zurück – wir sollen uns allein schon mal überlegen, wohin wir weiter ziehen. Und natürlich sollen wir vorsichtig bleiben.
Das muss er uns nicht zweimal sagen.
Lyrana Sorell hin oder her.
*****
Zwei Tage später.
Das Piepen meines Mobiglas weckt mich. Ich habe tief und fest geschlafen – irgendwann kommt eben immer der Zusammenbruch, der Moment, an dem der Geist einfach abschaltet.
Husky…oh Mann!
Aber: Nie und nimmer machen die wegen ein paar kleinen Kratzern eines Hoverbikes an einer Idris so einen Aufriss. Mir kommt Yao Kirov in den Sinn, der von Hurston Dynamics gejagte erste Gründer der Free Riders. Jede Wette, dass das nur ein Vorwand ist. Irgendwas tut sich hier – und es ist nichts Gutes.
Vielleicht sehe ich mittlerweile aber auch überall Gespenster.
Ich richte mich auf – soll ich Friedrich informieren?
Vielleicht ist er noch am Gateway, wahrscheinlich hat er die Fahndung schon selbst gesehen.
Keine Panik – auf ein paar Stunden kommt es nicht an, auch wenn ich weiß, dass Husky schnell überdreht. Ich muss an das psychotische Video denken, dass Friedrich mir über Husky gezeigt hatte. Ich stehe auf und ziehe mich an. Draußen treffe ich Hermie und Alaska. Sie laden Kisten von Hermies Asgard auf die große Hercules um, da Hermie sein Schiff irgendeinem Typen zur Ausleihe zugesagt hat.
„Wo ist Pike?“, frage ich.
„Auf meinem Schiff. Schläft seinen Rausch aus. Hat sich mit Rust wohl gestern die Kante gegeben“, antwortet Alaska.
Unsere Expedition schrumpft in Windeseile.
„Was wollen wir tun? Weiterziehen oder hier noch mal unser Glück versuchen?“
Irgendjemand muss für den Moment die Führung übernehmen.
„…während ihr noch nachdenkt – da kommt ein Schiff.“
Richtig, da war ja was – Lyrana Sorell.
Sie schwebt direkt über uns.
Offenbar nimmt sie ihren Job wirklich sehr ernst – oder sie ist passionierte Frühaufsteherin. Wahrscheinlich beides: Immer Gefahr vermutend, immer wachsam. Wahrscheinlich hat sie eine militärische Vergangenheit. Und irgendwelche unverarbeiteten Traumata. Deshalb muss sie immer alles abchecken, daher auch ihre fast verhörartigen Nachfragen, ihr Rumstochern…
„Das ist mein Kumpel Zwiebus. Er hat für uns eine alte Golem aufgetrieben“, erwidert Alaska.
„Alles klar“, sage ich.
Zwiebus – wer war noch mal?
Friedrich würde stocksauer werden, wenn er wüsste, dass unser Standort an alle möglichen Leute ständig durch den Äther bekannt gegeben wird – irgendwann geht das garantiert schief. Das ist keine geheime Expedition, das ist ein Bienenstock, in den jeder ein- und ausfliegt, wie er will. Wir warten einen Moment, dann hören wir das tiefe Brummen von schweren Triebwerken in der Luft. Ich blicke nach oben und sehe, wie eine Asgard zu uns herabschwebt – da drin soll eine Golem stecken?
Ich kann den Gedanken nicht zu Ende denken – denn plötzlich explodiert das Schiff aus heiterem Himmel, als wäre im Innern eine Bombe explodiert und es fällt wie ein Stein zu Boden. Im letzten Moment springen wir in Sicherheit, dann kracht das Schiff auch schon direkt in unsere Mitte.
Alaska steht da wie vom Donner gerührt.
„Zwiebus…“, krächzt er.
Ich habe keine Ahnung, in welcher Beziehung die beiden zueinander stehen, aber offenbar ist die Verbindung recht eng. Wir rennen zu dem verkohlten Wrack. Im Innern ist niemand zu sehen – weder Leichen noch eine Golem.
Alaska bringt immer noch kein Wort raus.
Wir untersuchen die abgestürzte Asgard sowie die Absturzstelle in einem weiteren Umkreis, aber es bleibt dabei: keine Leichen, keine Golem.
„Vielleicht konnte er sich mit der Golem rechtzeitig retten“, sagt Hermie, „ansonsten könnten wir ihn aus den Ritzen kratzen.“
Alaska wird noch ein Stück bleicher. Man kann es ihm im Gesicht ablesen: In Schock und Fassungslosigkeit mischt sich Wut.
„Hermie…“, sage ich.
Wir stehen unschlüssig in unserem provisorischen Basislager – als es ein weiteres Mal knallt. Instinktiv blicken wir nach oben als zwischen uns auch schon der Teil eines Flügels von Sorells Gladius einschlägt. Mit ein paar haarsträubenden Manövern landet Lyrana ihr Schiff.
„Was war das denn?“
„Nichts…ich habe nichts gemacht…“, antwortet sie.
Friedrichs „Silver Arrow“ auf Ignis, Alaskas Golem, Zwiebus Asgard, Lyranas Gladius – die Monde Pyros lassen Schiffe in die Luft fliegen wie Knallfrösche. Ohne äußere Einwirkung. Zumindest scheint es so – wenn nicht doch der Prophet von Pyro seine Finger im Spiel hat.
„Was zum Henker ist denn da bei euch draußen los?“
Pike meldet sich mit verkaterter Stimme.
„Nichts. Leg dich wieder hin“, antworte ich.
Nichts – genau.
Es herrscht pures Chaos.
Alaska wiederholt immer wieder leise Zwiebus Namen.
Denk nach, Bru – Zwiebus hat wahrscheinlich irgendwo ein Imprint zu liegen. Hoffen wir, dass er funktioniert. Wir können nur abwarten, bis er sich meldet. Wir untersuchen Lyranas Schiff – der Flügel ist genau an einer Sollbruchstelle abgerissen.
„Das lässt sich leicht reparieren“, sagte Lyrana, „das ist militärisches Design. Die Schiffe sind darauf ausgelegt.“
Klar – nur eben nicht hier, ohne entsprechendes Werkzeug.
„Wir müssen damit hoch nach Gaslight“, sagt Hermie.
Gemeinsam machen sie sich auf den Weg.
Zurück bleiben Pike und ich als Rumpfmannschaft.
Pike stöhnt im Halbschlaf.
„…hat jemand mal was zu trinken…ich verdurste gleich…“
Ich schaue mich noch einmal um, ob nicht doch irgendwo Alaskas Kumpel im Sand liegt, dann verschluckt mich sein Riesenvogel. Ich durchstöbere sämtliche Kisten im Hangar, die allerlei verschiedenes Expeditions-Equipment beinhalten, doch Fehlanzeige: Es ist nichts zu trinken an Bord, nicht eine einzige Flasche Wasser.
„Wo bist du?“, frage ich Pike.
„Oben in den Kojen.“
Ich laufe durch das menschenleere Schiff, das mir ungefähr fünf Nummern zu groß ist und nehme den Fahrstuhl nach oben.
„Alaska…Bru hier…haben wir noch irgendwas zu trinken an Bord?“
Ich morse Alaska auf unserer Expeditions-Notfallfrequenz an.
Die Antwort folgt sofort: „In den Schränken der Kojen müsste noch was sein.“
Ich reiße alle Schränke auf – nichts. Pike jammert. Was auch immer in dem Gebräu namens Rust drin ist, es verursacht jetzt, während seines Katers, einen Höllendurst.
„Ich hab‘s gleich…“
Doch die Schränke sind und bleiben leer. Ich fordere Pike auf, ein wenig von sich zu erzählen, vielleicht lenkt ihn das ab. Offenbar war er Bauernopfer einer Verschwörung, als ihn sein Captain sitzen ließ und ihm ein paar Sachen in die Schuhe schob, für die er nichts konnte. Irgendwas mit den Typen von Rough & Ready.
Ja, so kann‘s gehen – falscher Ort, falscher Zeitpunkt, falsche Leute.
Ich nicke, während ich weiter was zu trinken zu suche. Allein: Es bleibt dabei.
Erneut funke ich die anderen an. Es rauscht und knackt auf der Notfallfrequenz, offenbar sind sie fast schon außer Reichweite.
„…und bringt was zu trinken mit. Dringend!“
Irgendjemand antwortet was, doch ich verstehe es kaum.
Friedrich würde mich umbringen.
Pike redet immer weiter, doch schließlich ist alles gesagt und wir warten.
Irgendwann habe ich Lyrana und Hermie wieder im Nahbereichsfunk.
„Mit welchem Schiff kommst du?“, frage ich Hermie.
„Wirst du gleich sehen.“
Nicht zu fassen: Wir liegen hier unten nackt auf dem Präsentierteller, nachdem wir unsere Position durch halb Pyro gebrüllt haben und sie mit ein bisschen Knowhow leicht trianguliert werden kann, Hermie macht unterdessen irgendwelche privaten Tauschgeschäfte, ist aber nicht in der Lage zu einer vernünftigen Antwort.
„Komme mit einem Bengal Carrier.“
Ich kann mich nur schwer im Zaum halten.
Schließlich entdecke ich Lyranas Gladius über uns, Hermie landet mit einer Terrapin.
„Hatte ich doch vorher gesagt, womit ich komme.“
„Klar.“
Ich mache einen Haken dran.
Hat er vielleicht sogar, keine Ahnung, ist mir auch egal.
Ich beschließe, Lyrana stattdessen einen Vertrauensvorschuss zu geben und sage ihr, dass ich das ständige Misstrauen leid bin. Ich habe darüber in „Off the Record“ bereits geschrieben, doch was hat es gebracht? Nichts. Alles ist nur noch schlimmer geworden. Kurz hatte im Raum gestanden, dass Lyrana Sorell auf Zwiebus‘ Schiff geschossen haben könnte. Sie sagte, dass wir gern ihre Schiffslogs überprüfen dürften.
Wir werden langsam schon paranoid.
Kaum sind Hermie und Lyrana gelandet, besprechen wir uns und wir beschließen, Adir zu verlassen, bevor das nächste Schiff aus dem Nichts heraus in die Luft fliegt. Alaska vermutet, dass es vielleicht hochenergetisch geladene Feldlinien des Mondes sind, die Schiffskomponenten überlasten. Ich nehme es so hin, ich bin kein Techniker.
„Fuego“, sage ich schließlich. „lasst uns als Nächstes dorthin.“
Mir kommt sofort meine lange gemeinsame Wanderung mit Husky in den Sinn, Auftakt zu unserer gemeinsamen Erkenntnis, dass wir Stiefbrüder sind. Auf Fuego haben wir uns beide zum ersten Mal komplett geöffnet. Nun kehre ich dorthin zurück – nur unter komplett anderen Vorzeichen.
Wir klettern in unsere Schiffe und lassen Adir hinter uns – einen Mond, der uns wunderschöne Naturspektakel beschert, aber auch unsere Schiffe genommen hat. Wie immer fliegen die anderen vor, ich nehme in Ruhe Abschied. Wer weiß, wann und ob ich jemals wiederkehre. Dann aber zünde auch ich den Quantumdrive und bald ist Fuego in Sicht, der vierte Mond unserer Expedition.
Irgendwie sieht er anders aus, als ich ihn in Erinnerung hatte – grünlich. Doch als ich näher komme, sehe ich, dass es keine Pflanzen sind, die auf ihm wachsen, auch wenn es zunächst so scheint. Es wirkt eher so, als sei Fuego mit Grünspan überzogen, vielleicht sind es auch Algen oder Moose. Wir landen und schauen uns um. Ich verdränge den Ärger mit Hermie, er macht sich wieder auf die Suche nach ein paar Mineralien – dafür sind wir schließlich hier.
„Ich habe was gefunden“, meldet er schließlich.
Ich folge mit der „Shack One“.
Heute will ich mich mal im Hand-Mining ausprobieren. In einen der saugefährlichen GEOs steige ich jedenfalls nicht mehr. Alles muss man auch nicht können. Ich lande knapp hinter dem Mineralienfeld – und kriege sofort wieder einen Rüffel vom Hermie. Er kann es einfach nicht lassen, als ob er es auf einen richtig großen Krach anlegt. Jedenfalls hat er Null Gespür dafür, dass unsere Nerven derzeit alle zum Zerreißen angespannt sind.
Dann vertiefen wir uns ins Mining und schnell zeigt sich: Lyrana hat ein Händchen dafür, sie knackt flott Stein um Stein. Diesmal vor unserer Flinte: ein Erz namens Feynmaline, das im Sonnenlicht Pyros blau schimmert. Die paramorphe Kristallstruktur dieses Minerals ist extrem instabil. Wenn zusätzliche Energie zugeführt wird, wie es beim modernen Bergbau üblich ist, zerfällt das Erz oft explosionsartig in das stabiler strukturierte Janalit. Diese Instabilität macht Feynamline sehr gefährlich, aber auch extrem wertvoll als industrieller Vorläufer für Antimaterie, wenn es richtig gewonnen werden kann. Alaska und ich beackern mit Handmininglasern ebenfalls Steine – aber offenbar sind sie für großen Brocken doch zu schwach.
Wir haben uns gerade eingefuchst, als es wieder knallt. Für einen Moment hatte ich mich gerade ein wenig entspannt. Dieses Mal erwischt es Lyrana – und uns wieder gleich mit. Hermie, der sich in sicherer Entfernung befindet, bringt uns mit einer Medigun zurück auf die Beine. Ja, das kann eben jedem passieren, sogar einer super-selbst-kontrollierten Söldnerin.
Wir sammeln die Proben ein und kehren zurück ins Basislager.
Dort sehen wir: Irgendwas setzt sich an Alaskas Schiff ab, vielleicht eine Alge oder das Schiff rostet uns unter dem Hintern weg. Vielleicht können wir nicht allzu viel Zeit auf Fuego verbringen.
Kaum sind wir an Bord, knallt Alaska Hermie eine.
„Das war dafür, dass du gesagt hast, ich könnte Zwiebus aus den Ritzen kratzen“, wütet er.
Hermie ist völlig verdattert.
Ich grinse mir eins, das hat gesessen.
„…und jetzt brauche ich ein Friedensbier.“
Alaska holt aus einer Kiste vier Rust und gemeinsam stoßen wir an.
Damit scheint die Sache erledigt.
Schließlich schreibe ich Friedrich an, fasse die letzten Stunden zusammen, lasse Husky aber erstmal außen vor.
Die Expedition steht Spitz auf Knopf.
*****
Einen Tag später.
Irgendetwas oder irgendjemand hämmert draußen gegen die „Shack One“. Der Krach pflanzt sich quer durch das Schiff fort. Übermüdet quäle ich mich aus der Koje.
„Hallo?“
„Bru…mach auf! Pike hier. Ich brauche eine Koje zum Pennen.“
Himmel…
Ich lasse die Heckklappe der „Shack One“ runter. Pike steht vor mir.
„Was is‘n los?“
„Alaska musste los…“
„Wohin?“
„Pyro-Gateway. Wollte aber nicht mit.“
„Aha, komm rein. Aber pass auf – das Bett oben rechts ist meins. Leg dich nicht in meinen Mief.“
Es ist kurz vor Sonnenaufgang, wir krabbeln zurück in unsere Betten – doch schlafen kann ich nicht mehr. Ich checke meine Nachrichten. Wie ich lese, ist Hermie ebenfalls aufgebrochen. Er hat wohl noch stundenlang an Reparaturen gesessen, aber offenbar hat dies das gesamte verfügbare Material verschlungen. Nun ist er auf Besorgungstour.
Ich will mich schon umdrehen, als es erneut piept.
Im Posteingang ist die neueste Ausgabe der „New United“.
Was ich lese, macht mich sprachlos: Die Megacorps Stantons steigen in das Rennen um die Beendigung der Regen-Krise mit ein. Laut Bericht schnellen die Forschungsausgaben im Zuge der so genannten „Second Life Initiative“ der UEE-Regierung im gesamten Empire aktuell extrem in die Höhe. Daher wird es für Labore und Wissenschaftler immer schwieriger, an Materialien zu gelangen.
Da dieser Mangel die Bemühungen zur Lösung der Regen-Krise gefährdet, hat die UEE eine so genannte „Ressourceninitiative” ins Leben gerufen und ruft zu Spenden dringend benötigter Güter auf. Im Rahmen dieser Initiative bietet die Regierung Systemen, die bestimmte Spendenquoten erreichen, verschiedene Belohnungen an, darunter Steuererleichterungen und Sponsoring an Gateway-Stationen.
Ich atme tief durch.
Steuergeschenke, Sponsoring – davon hängt unser Überleben jetzt also maßgeblich ab.
Kapitalismus pur.
Gleichwohl: Für mich klingt das eher nach Beschäftigungstherapie – nichts macht Menschen schließlich verrückter als das Gefühl, ohnmächtig einer Bedrohung ausgesetzt zu sein. Vielleicht ist es auch nur ein Ablenkungsmanöver, um die Bevölkerung in Sicherheit zu wiegen. Vielleicht drückt sich die UEE-Regierung aber auch nur einmal mehr vor der Verantwortung. Die Bürger sollen mit ihrem Engagement die heißen Kastanien aus dem Feuer holen – während die Mega-Corps anschließend von Wissenschaftsaufträgen profitieren und die eigentlichen Nutznießer sind.
Tatsache scheint jedoch zu sein: Die Regen-Krise ist noch viel schlimmer als gedacht, wenn sich jetzt sogar Imperatorin Addison selbst einschaltet. Ich tippe meine Gedanken in den Chat – die Antworten lassen nicht lange auf sich warten.
Ich stehe auf.
Hermie hat recht.
Wir machen im Grunde nichts anderes – wir stellen uns in den Dienst einer Sache, von der wir eigentlich kaum die wahren Motive kennen. Oberflächlich klingt das immer alles gut, aber meist steckt was anderes dahinter.
Ich blicke zur Cockpitscheibe hinaus.
Wir sind mutterseelenallein.
Alle ausgeflogen.
Wahrscheinlich kreist nur Lyrana wieder bereits über uns wie eine Glucke über ihren Kindern.
„Pike, zieh dich an! Wir müssen hier die Stellung halten.“
„Ja, Sekunde“, kommt es aus dem hinteren Teil des Schiffes zurück.
Ich funke Lyrana an – nichts.
Ich blicke an den Himmel – sie ist weg.
„Weiß jemand, wohin Lyrana ist?“, frage ich auf unserer Frequenz.
Keine Antwort.
Eben noch sage ich, dass ich ihr ein wenig Vertrauen entgegenbringen will – schon enttäuscht sie es. Ich grübele: Ist Sorell vielleicht von den Citizens for Prosperity zurückgepfiffen worden? Hatte sie nur den Auftrag, uns kurz auszuspionieren? War sie überhaupt wirklich von denen geschickt worden oder war alles nur Fake?
Wir tappen im Dunkeln.
Ich fahre das Schiff hoch und ziehe die „Shack One“ an den Himmel – es ist müßig, darüber nachzudenken.
„Himmel, wo seid ihr denn alle?“
Hermie – offenbar verschluckt in einem Funkloch.
Friedrich – unterwegs wegen der „Silver Arrow“.
Lyrana – wie vom Erdboden verschluckt.
Zero – in Stanton abgetaucht.
Wenigstens Alaska meldet sich.
„Ich bin gleich wieder da. Habe nur eben Zwiebus auf der Krankenstation am Gateway Pyros abgegeben.“
Zwiebus?!
Erleichterung ist aus Alaskas Stimme herauszuhören. Wie ich erfahre, hatten Hermie, Pike und er sich noch mal auf den Weg gemacht und die mögliche Absturzgegend genauer abgesucht – mit Erfolg. Ein paar Kilometer entfernt fanden sie Alaskas Freund neben einer völlig zerstörten Golem. Nun, wenigstens das wäre geklärt.
„Freut mich“, sage ich halb in Gedanken, nichts ist schließlich nagender als Ungewissheit.
Ich grübele, welche Schritte wir als Nächstes unternehmen wollen – als ich plötzlich Friedrich im Funk habe.
„Ich bin auf dem Weg zu euch…von der Versicherung haben sie mir ein kleines Schiff gestellt…“
„Friedrich…“, antworte ich froh.
Jetzt kommt hoffentlich wieder Ordnung in das ganze Chaos.
Dann knackt es plötzlich im Funk.
„Was…was ist das denn? Nein, sie holen mich aus dem Quantum….Hilfe, ich…“
„Friedrich…?“
Mir bricht Schweiß auf der Stirn aus. Piraten…ich wette, sie haben ihn aus dem Quantumflug gezogen….
„Pike…Alaska…“
„Wir haben es gehört…“, sagt Pike.
„Wir lassen sofort alles stehen und liegen….jetzt zählt jede Sekunde…Alaska, wo bist du?“
„Gerade auf dem Weg nach Fuego…“
„…bleib, wo du bist…vielleicht können wir Friedrichs letzte Position triangulieren…“
Ich jage die letzten Ortungssignale durch den Computer und blicke gebannt auf die Systemkarte. Dann ploppt seine letzte Position auf. Offenbar haben sie ihn in der Nähe eines Asteroiden abgefangen. Dort gibt es lauter aufgegebene Stationen von Pyrotechnic Amalgamated – Unterschlüpfe für Outlaws. Wir treffen auf Alaska im tiefen Raum und sind ratlos – nach Friedrich zwischen den Asteroiden und aufgegebenen Abbaustationen zu suchen, gleicht der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen.
Plötzlich knackt es wieder im Funk.
„Hört ihr mich?“
Friedrich.
„Wo bist du?“
„Auf irgendeiner Station. Sie haben mich in einen Käfig gesperrt und haben mir mein Mobiglas abgenommen.“
Verdammt.
„Ich wette, sie wollen Lösegeld. Wir wissen aber nicht, wo wir nach dir suchen sollen“, sage ich.
Mir fällt nicht auf, dass er ohne Mobiglas gar nicht mit uns sprechen können dürfte.
„Moment…“
Es knackt erneut.
„Hier ist das Mobiglas eines Toten. Sie haben wohl vergessen, es ihm abzunehmen…wartet….“
Es dauert ein paar Minuten, dann ploppt auf unseren Mobiglas sein genauer Standort auf.
„Rab-Helio.“
Wir stürzen mit der C2 und der „Shack One“ unüberlegt drauf los, nur um nach der Ankunft sofort beschossen zu werden – als hätte man uns schon erwartet. Feuersalven prasseln auf unsere beiden Schiffe ein. Wenn die Beute freiwillig in die Höhle kommt – wer würde da nicht zuschnappen? Ich fliege Manöver um Manöver – Pike hat das Turret besetzt. Wir schießen zurück und sind doch hoffnungslos unterlegen. Die Schutzschilde der „Shack One“ sind im freien Fall.
„Rückzug“, fordert Pike schließlich, „sonst haben sie uns gleich.“
Im letzten Moment aktivieren wir den Quantumsprung. Wir brauchen einen Schlachtplan. Wir wälzen ein paar Ideen hin und her, dann greifen wir ein zweites Mal an – wir lassen die „Shack One“ an Ort und Stelle, schweben hinüber zur Alaskas Hercules und machen uns im Heck kampfbereit. Mit vollem Karacho springen wir so nahe es geht an den Asteroiden heran und sofort erwachen wieder die Abwehrtürme der alten Station. Die Jäger umschwirren uns gleichzeitig wie die Fliegen. Alaska dreht mit dem riesigen Schiff eine Pirouette nach der anderen, dann ist es soweit…
„Raus! Näher komme ich nicht ran.“
Während die Hercules an dem Asteroiden vorbei rast, springen wir aus der Heckklappe. Mir wird kurz schwindelig, dann konzentriere ich mich auf das Kommende. Die Piratenjäger beharken ohne Unterlass die Hercules, wir schweben unterdessen unbemerkt zur Station.
„Friedrich…“
„…bin hier“, kommt es zurück.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass auch Alaska aus dem Heck springt. Sofort lassen die Piraten vom Schiff ab. Wahrscheinlich haben sie einen Scanner, der Lebenssignaturen an Bord erkennt und wahrscheinlich denken sie, sie haben den Piloten getötet – und das Schiff ist nun ihre Prise. So schnell es geht, suchen wir im Schatten des riesigen Asteroiden Schutz.
„Und jetzt?“, frage ich.
„…müssen wir hinein“, sagt Pike.
Ich hasse es, was nun gleich folgen wird – Mord und Totschlag. Aber wir haben nicht damit angefangen. Ich erinnere mich an meinen Besuch bei einer ähnlichen Station mit Husky, als wir von den Headhuntern erpresst wurden – wenn mich nicht alles täuscht, lag der Eingang auf der Rückseite der Plattform. So dicht es nur geht, schweben wir entlang des gigantischen Asteroiden. Irgendwann dämmert mir: Wir sind falsch.
„Wir müssen zurück.“
Die anderen schlucken ihren Ärger runter, dann knackt es ein weiteres Mal im Funk.
„Ich kann euch lokalisieren“, sagt Friedrich, „Cargo 01 – da muss der Eingang sein.“
Wir schweben zwischen den riesigen Metallstreben umher, schließlich entdeckt Pike den Zugang. Wir nehmen die Waffen in Anschlag, dann entern wir die fremde Station.
„Seid vorsichtig“, sagt Friedrich.
Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch. Kaum haben wir das Schott hinter uns, werden wir auch schon beschossen. Wir erwidern das Feuer. Pike erweist sich als gekonnter Schütze, der mehr oder weniger den Weg freiräumt, auch Alaska und ich erledigen ein paar der Piraten. Ich schieße und steige über die getöteten Outlaws hinweg. Nur nicht zu viele Gedanken machen. Ich blicke mich um – die Station sieht noch heruntergekommener aus als die, auf denen ich schon war. Ekel befällt mich. Alaska kann nicht fassen, dass Menschen so leben wollen und können. Mehrfach werden wir getroffen, aber Medipens und Medipistole retten uns ein ums andere Mal.
„…hier hinten“, ruft Friedrich, dann sehe ich ihn.
Sie haben ihn tatsächlich in eine Art Käfig gesperrt, gesichert durch Laser. Wir zerschießen die Emitter und befreien ihn.
„Raus hier, so schnell es geht“, sagt er.
Doch die Station wimmelt plötzlich nur so vor Piraten. Durch die Kampfhandlungen aufgeweckt, kommen sie nun aus allen Löchern gekrochen. Fast jeden Meter müssen wir uns freischießen. Was eine geheime Befreiungsaktion werden sollte, wird zu einem Massaker – doch nun gibt es kein Zurück mehr. Schließlich ist irgendwann wieder die Luftschleuse in Sicht.
„Fast geschafft.“
Sogar sein Mobiglas hat Friedrich wieder, das unbeachtet auf einem Tisch lag.
„Zurück zur Hercules“, sagt Alaska.
Noch haben die Piraten das Kommando nicht übernommen. Stoisch liegt das Schiff im Raum. So schnell es unsere Anzugdüsen hergeben, schweben wir hinüber – nur um festzustellen, dass das Schiff mehr abbekommen hat, als von außen ersichtlich. Kleinere Feuer lodern im Innern. Alaska versucht dennoch, die Turbinen zu starten – vielleicht schaffen wir es wenigstens bis zur „Shack One“.
Doch die Turbinen sind tot.
Dafür nehmen die Piraten sofort wieder die Witterung auf und stürzen sich erneut wie Geier auf uns.
„Himmel, das sind Vanduul!“, ruft Pike.
Ich blicke zur Heckklappe hinaus – in der Tat. Vor uns schweben Vanduul-Jäger. Doch dann besinne ich mich – in so einer Situation war ich schon einmal: Piraten nutzen gern die Umbauten von Vanduul-Jägern, um damit Angst, Schrecken und Verwirrung zu verbreiten – wie Mimikry im Tierreich. Wenn die Vanduul in Pyro Fuß gefasst hätten, wäre die UEE-Navy längst hier. Und auch auf der Station waren keine Vanduul. Ich beruhige Pike. Dennoch: Wie es aussieht, sind wir gestrandet – wo kriegen wir jetzt ein Schiff her, das uns wieder in Sicherheit bringt? Alaska versucht noch einmal die Hercules zu starten – erfolglos. Die Scientific Union, der das Schiff offiziell gehört, wird über den Verlust alles andere als glücklich sein.
„..haltet noch eine Sekunde durch. Bin gleich da.“
Ich traue meinen Ohren nicht.
Hermie.
Keine Ahnung, wie er uns gefunden hat, aber uns allen fällt ein tonnenschweres Gewicht von den Schultern. Wir beobachten, wie sich ein paar Kilometer von uns entfernt ein heißes Weltraumgefecht entspinnt, Explosion folgt auf Explosion. Es ist echt der Wahnsinn, was Hermie selbst mit einem trägen Schiff wie einer Terrapin anstellt. Irgendwann hat er alle Feinde aus dem Weg geräumt, einschließlich einer Vanguard, die uns zuvor das Leben schwer gemacht hatte.
Im Eilflug rast er zu uns.
„Einsteigen, schnell!“, befiehlt er.
Keine Minute später sind wir an Bord – keine Sekunde zu früh, denn die nächsten Piraten stürmen schon heran. Kurz darauf sind wir im Quantumflug. Es dauert noch einen Moment, bis wir wieder klar denken können. Hermie steuert den Standort der „Shack One“ an.
„Woher wusstest du, wo wir waren?“
„Ich habe auf euren Mobiglas einen Vitalscanner installiert, der anzeigt, wenn euer Adrenalin hochschnellt und ihr offenbar in Gefahr seid. Dann werdet ihr automatisch angepeilt.“
Eben war ich noch heilfroh, ihn zu sehen – nun bin ich wieder stocksauer.
„Du…hast was? Ich glaube echt, es hackt…“, schimpfe ich.
„Nur so konnte ich euch finden.“
„Ja, schon aber…“
„…ich finde das auch übergriffig“, wirft Friedrich ein.
„Verdammt, Hermie. Ich will, dass du das wieder von meinem Gerät runtermachst.“
Hermie zuckt mit den Schultern.
„Okay, wir ihr meint.“
Wenn es etwas Privates gibt, dann doch wohl die eigenen Körperfunktionen.
Es ist echt nicht zu glauben.
Ich steige auf die „Shack One“ über und gemeinsam fliegen wir nach Fuego – allgemeine Lagebesprechung. Ich nutze die Zeit hinter dem Steuer, um mich runterzukühlen. Wir landen fast wieder an unserem Ausgangspunkt, die Stimmung ist gedrückt. Das wäre fast schief gegangen. Und immer noch fehlen wichtige Mitglieder der Expedition.
„Übrigens, ich habe da was…“, sagt Friedrich. „…unser neues Glücks-Maskottchen.“
Wir trauen unseren Augen nicht, als er eine Art Wurm oder Schnecke aus dem Anzug zieht.
„Was ist das denn?“
„Die habe ich auf der Station gefunden.“
Das Ding, das sich im Kreis bewegt, sieht aus wie eine übergroße Made. Vielleicht ist es das sogar, gemästet durch den Abfall auf der Station – mit Tentakeln vorne dran. Jeder von uns nimmt es mal in die Hand – es fühlt sich glitschig und warm an.
„Und wie wollen wir es nennen?“
„Günther“, sagt Hermie.
„Mit Günther an unserer Seite kann nichts mehr schief gehen“, sagt Friedrich feierlich, lächelt kurz und erklärt, dass er die Expedition für die beiden letzten Monde Vuur und Vatra neu organisieren will.
„Ich möchte, dass wir alle gemeinsam auf einem Schiff unterwegs sind. Das fokussiert uns mehr auf unsere Aufgabe.“
Ich denke an Lyrana, der das garantiert nicht passen würde, beschließe aber, Friedrich nicht sofort damit zu nerven, dass sie vielleicht schon wieder auf und davon ist.
„Okay, und auf welchem Schiff?“, fragt Alaska.
Die Hercules ist verloren, die Zeus zu klein, die Starlancer mit Zero unterwegs…
„Die Versicherung stellt mir übergangsweise eine neue Origin 600i, bis der Sachverhalt der Explosion der Silver-Arrow geklärt ist.“
„Viel zu auffällig für Pyro“, wirf Hermie ein.
Ich nicke – erst recht nach der Erfahrung mit den Piraten.
„Aber ich habe vielleicht was anderes…bei meinem Versorgungsflug bin ich auf eine im All treibende Starfarer gestoßen. Sie scheint unregistriert zu sein und wirkt ein wenig runtergekommen, aber immer noch voll funktionsfähig. Platz hat sie auch genug. Allerdings müssen wir sie noch voll ausrüsten“, sagt Hermie.
Sicher, das hat was – aber mich gruselt es auch bei dem Schiff: Im Innern ist es ein reiner Irrgarten. Wir beschließen nach Gaslight zu fliegen um alles Notwendige zu besorgen. Nach kurzem Sprung sind wir wieder auf der alten Station, Pike begrüßt manchen Bewohner mit Handschlag, andere beschimpft er. Ein halbes Jahr ist er auf Gaslight gewesen – unvorstellbar. Alaska ist unterdessen entsetzt – er war noch nie auf einer offiziellen Pyro-Station.
Ich laufe schnurstracks ins Krankenhaus und lasse mich behandeln. Irgendwas tut fürchterlich weh in meinem rechten Bein. Vielleicht hatte ich mir unbemerkt einen Querschläger eingefangen. Danach treffen wir uns in der Bar – und ich erwarte eigentlich ein Donnerwetter von Friedrich, wie unterirdisch schlecht die Expedition nach wie vor läuft. Stattdessen ist er nur froh, dass er hier ist – halbwegs in Sicherheit.
Nach ein paar Bier und nachdem wir Günther auf einem Teller noch ein paar Runden drehen ließen, nehmen wir uns alle ein EzHub und ziehen uns zurück. Mal eine Runde durchzuschnaufen wird uns gut tun, auch wenn ich weiß, dass das auf Gaslight nicht wirklich möglich ist.
Da hilft selbst Glücks-Maskottchen Günther nichts.
*****
Der nächste Tag.
Die anderen sitzen bereits in der Bar und quatschen.
Auch Lyrana ist wieder da. Sie musste an ihrem Schiff offenbar mehr reparieren als zunächst gedacht. Und das ging anscheinend nur auf Obituary, ihrer Heimatstation. Nun sei sie aber wieder voll einsatzfähig. Hermie hat sich auch noch einmal schriftlich dafür entschuldigt, dass er eine Spionagesoftware auf unsere Mobiglas‘ installiert hatte. Dafür hat er zwei neue GEOs besorgt. Kurzum: Schwamm drüber. Menschen funktionieren eben nicht wie Maschinen. Menschen machen Fehler, durchdenken nicht immer alles bis ins letzte Detail.
Noch ein wenig schlaftrunken stolpere ich in die versiffte Bar, in der rund um die Uhr Betrieb herrscht. Auf einem Teller kreist „Günther.“
„Morgen.“
„Morgen, Bru.“
Ich setze mich, starre auf die Monstermade.
Warum nur gibt es auf keiner der verfluchten Stationen irgendwo etwas Anständiges zu essen, geschweige denn ein schönes Frühstück? Wie kann man nur so überleben?
Überleben – das ist das richtige Wort. Richtiges Leben sieht anders aus.
Es geht um dieses und jenes. Alaska macht sich Sorgen um den Verlust seiner Hercules, Hermie, der Unermüdliche, hat die Starfarer, die wir heute mehr oder weniger illegal übernehmen wollen, noch einmal aus sicherer Entfernung gescannt. Zumindest oberflächlich scheint sie unbeschädigt zu sein. Aber eben komplett verlassen.
Ich recke mich und drücke den Rücken durch. Es wird schon werden. Dann machen wir uns auf den Weg in den Hangar – dort hat Hermie eine weitere Überraschung für uns parat. Vor uns steht ein seltsames Ungetüm von Schiff, eine so genannte Argo Raft, ein Containertransporter. Wie Fledermäuse hängen kopfüber an seiner Unterseite die zwei von Hermie besorgten GEOs.
„Wo hast du dieses Schiff nun wieder her?“, frage ich ihn.
„Von einem Fan“, erwidert Hermie.
„Du hast einen Fan?“
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Wie sich herausstellt, hat ihm ein Freund das Schiff für einen Gefallen zeitweise überlassen. Offenbar arbeitet der „Fan“ für ArcCorp, denn das Schiff hat die typisch rote Lackierung der Megacorp. Erst jetzt fällt mir auf: Hermie trägt dazu auch noch den passenden Raumanzug. Alles schön Ton in Ton sowie farblich und Corporate-Identity-mäßig aufeinander abgestimmt. Dann begreife ich: Das sind Belohnungen der Großkonzerne, wenn man sich so richtig für sie reinhängt. Erst darf man Kisten für sie schleppen, anschließend noch Werbung für sie laufen.
„Sieht super aus“, sage ich zu Hermie nur und lass es dabei bewenden.
Wir treffen uns in unter dem Schiff, machen eine kurze Lagebesprechung – schließlich wird entschieden, mit so wenig Schiffen wie möglich zu fliegen, ganz so, wie es sich Friedrich vorstellt. Also fliegen wir alle mit der Raft, Friedrich steuert indes Lyranas Schiff – Vertrauen entsteht schließlich nur gegenseitig. Ziel: die aufgegebene Starfarer. Das Innere der Raft ist – wie üblich bei Schiffen für diesen Einsatzweck – nüchtern und funktional. Hier drin wird gearbeitet.
Ich war jetzt schon auf so vielen unterschiedlichen Schiffen – ich habe längst den Überblick verloren. Sicher, es gibt Schiffe, die herausstechen – etwa die Anvil Carrack, die ein echtes Heim zwischen den Sternen ist und Charakter besitzt – aber die meisten wirken unpersönlich und kalt. Entworfen von Technokraten, profitmaximiert und designt für ein bestimmtes Marktsegment. Dass man auf den Blechbüchsen unter Umständen Jahre seines Lebens verbringt, scheint ihnen egal.
Ich quetsche mich mit meiner fetten Rüstung durch die engen Gänge der Raft und nehme schwerfällig auf einer kleinen Bank Platz. Auf dem Tisch liegt eine ungewöhnlich aussehende Waffe. Irgendein Ding, das Blitze auswirft. Sie gehört ebenfalls Hermie. Hatte nicht in der aktuellen Ausgabe der „New United“ etwas von Elektrokanonen gestanden, mit denen Eier von Valakaaren bei Associated Sciences & Development gequält wurden? Eine Tierrechtsgruppe hatte auf die Missstände aufmerksam gemacht. Wenn es ums Töten geht, sind der Phantasie des Menschen keine Grenzen gesetzt.
Hermie sagt uns, dass wir die Helme auflassen sollen, etwas stimme mit der Lüftung nicht. Ich sitze stumm da und blicke aus dem kleinen Fenster. Das Schiff startet, dann sind wir unterwegs zur Starfarer. Ich laufe ins Cockpit – Hermie sitzt an den Konsolen. Die Aussicht aus dem Cockpit ist grandios. Klar, wer mit Containern hantiert, sollte etwas sehen können.
Wir springen zu dem Rendezvous-Punkt, dann nähert sich Hermie mit der Raft vorsichtig dem aufgegebenen Schiff. Wir laufen in die Luftschleuse – Hermie und Lyrana bilden die Vorhut; ich entscheide spontan, sie zu begleiten, obwohl ich dabei eigentlich nichts verloren habe. Wir schweben zu dritt zu dem Geisterschiff, das inmitten riesiger Asteroiden liegt. Wir landen zwischen den gigantischen Tanks des Tankschiffs, mit gezückten Waffen arbeiten wir uns vor. Mehrfach werde ich von Hermie nach hinten gepfiffen. Lyrana ist voll in ihrem Element, das merkt man sofort. Ich halte mich im Hintergrund, will keinen Streit provozieren, lasse beide ihr Ding machen, doch Hermie kann enfach nicht von mir ablassen: Bru mach dies nicht, mach das nicht…am liebsten soll ich mich wohl in Luft auflösen.
Die beiden checken Deck für Deck ab, wie immer verlaufe ich mich sofort auf dem riesigen Schiff. Links lang, rechts lang, treppauf, treppab – ich fühle mich wie gefangen in einem Bild von M. C. Escher. Es würde mich nicht wundern, wenn der Innendesigner der Starfarer im Irrenhaus gelandet wäre. Irgendwann geben die beiden Entwarnung, die anderen folgen nach.
„Scheint wirklich komplett verlassen und auch schon älter zu sein“, sagt Hermie.
„Die Crew?“, frage ich.
„Keine Ahnung“, erwidert Hermie, „ich checke noch mal die Logs.“
Mir läuft ein Schauer über den Rücken.
Ein echtes Geisterschiff!
Funktionstüchtig zwar, aber aus unerfindlichen Gründen aufgegeben.
Irgendwas Schreckliches muss passiert sein, so viel steht fest.
Hermie fährt das Schiff hoch, es erwacht zum Leben.
„Last uns abhauen, bevor noch jemand auftaucht, der ebenfalls Interesse daran hat.“
Gemeinsam geht es zurück nach Fuego, dort laden wir alles von der Raft auf unser neues Hauptquartier um. Gegen die Starfarer wirkt die Raft fast wie ein Spielzeug. Während die anderen schwer ackern, vertrete ich mir die Beine. Fuego – besonders viel haben wir noch nicht über den Mond herausgefunden, schon gar nicht, ob es hier Spurenelemente unserer gesuchten Mineralien Jaclium oder Saldynium gibt.
„Lasst uns Fuego noch nicht abschreiben“, sage ich. „Auf den Karten sind jede Menge Höhlen verzeichnet. Vielleicht werden wir darin fündig.“
„Nichts dagegen“, erwidert Friedrich und checkt die Karten, wohin wir könnten.
„Ich habe hier was gefunden, gar nicht weit entfernt“, sagt er schließlich.
Nachdem alles erledigt ist, springen wir um den Mond herum und landen direkt vor einer Erdspalte, die erst gut zu erkennen ist, als wir fast direkt über ihr schweben.
„Ich wette, da drin war noch keiner“, sage ich. „Vielleicht haben wir Glück.“
Voll ausgerüstet machen wir uns auf den Weg, und wie immer, wenn es in das Innere eines Mondes oder Planeten geht, schlägt mein Herz ein wenig schneller – Urängste, die noch aus meiner Kindheit stammen. Doch die Höhle gibt keinen Anlass zu Angst – anders als die Tropfstein- oder Pilzhöhlen ist sie hell durchflutet – überall lassen Lichtschächte das Sonnenlicht Pyros durch.
„Wunderschön“, denke ich und spüre, wie mein Unbehagen nachlässt.
Hinter mir wird irgendwo geminert. Ich höre, wie die Laser an- und abgeschaltet werden. Pike hat auf Arbeit offenbar auch keine Lust und steigt so schnell ab wie ich. Plötzlich ruft er mich.
„Bru, komm mal hier rüber…was ist denn das Krasses?“
Ich laufe zu ihm – und gemeinsam knien wir eine Sekunde später vor einer Art Steinkäfer mit riesigem Panzer und vielen kleinen Spinnenbeinen. Pike nimmt das seltsame Tier in die Hand und betrachtet seine Unterseite. Seine Beine wackeln in der Luft wild umher als wollten sie nach mir greifen.
„…runter mit dem Ding“, kreische ich fast.
Pike setzt es wieder ab und es setzt ungerührt seinen Weg fort. Interessiert beobachten wir es. Offenbar ernährt es sich von Sand, zumindest wühlt es immer wieder kleine Staubwolken auf und rudert mit seinem kleinen Beinchen darin wild umher.
Wie heißt es? Das Leben findet immer einen Weg.
„Lass uns zurückkehren.“
Irgendwo über mir vermeldet Hermie, dass er Dolovine gefunden hat.
Licht bricht sich durch die Lichtschächte.
Es ist, als würde die eigene Seele beschienen.
Seit die Menschen die erste Höhle verlassen haben, sind sie Zwitterwesen – streben nach Eigenständigkeit und Selbstverwirklichung, nach Freiheit und Unabhängigkeit. Nur um in der nächsten Höhle doch wieder die Gemeinschaft zu suchen, Schutz und Bestätigung. Es ist ein Tanz, den wir seit Jahrtausenden aufführen.
Ich denke an Zero.
Killersatelliten, Enos und die Bedrohung Stantons haben wir gemeinsam durchgestanden. Aber wenn ich ehrlich bin, hat sich Zero nie verbogen. Er kommt und geht, wie es ihm passt. Er tut, was ihm gefällt. Und jetzt? Jetzt müssen wir zeigen, aus welchem Holz wir wirklich geschnitzt sind.
Was also bedeutet uns echte Gemeinschaft, wahre Freundschaft?
Wofür sind wir wirklich bereit einzustehen?
„Bru?“
Pike reißt mich aus meinem Sinnieren.
„Hier unten.“
Ich kehre um, versuche Pike zu folgen, finde den Aufstieg aber nicht wieder. Irgendwie sieht plötzlich alles gleich aus.
„Verdammt, ich glaube, ich habe mich verlaufen.“
„Warte, ich komme“, antwortet Hermie.
Bald höre ich näherkommende Schritte.
„Hier lang, Bru.“
Ich folge meinem Kameraden, klettere Absatz um Absatz wieder aufwärts. Irgendwann werden die Wege wieder weiter, dann sehe ich das Schiff und wir kehren auf die Starfarer zurück.
Fuego ist, was unsere Expedition angeht, wieder eine Pleite.
So langsam wird es ermüdend und man kann es unseren Gesichtern ablesen: Macht es eigentlich überhaupt noch Sinn, was wir hier treiben, angesichts der sich zuspitzenden Situation in Stanton? Angesichts eines Wirtschaftskrieges zwischen Großkonzernen, der sich um die Regen-Krise entwickelt und bei dem lukrative Aufträge winken? Andererseits: Noch haben wir von den Citizens for Prosperity keine Nachricht erhalten, dass wir unser Unterfangen abbrechen oder irgendwie die Richtung ändern sollen. Noch steht der Auftrag – und Friedrich scheint fest entschlossen, ihn zu erfüllen und sauber abzuschließen.
Nächster Mond: Vuur, der Mond, auf dem Husky und mir bewusst wurde, dass wir Stiefbrüder sind. Auch dort waren wir in einer Höhle. Ein wenig werden wir immer Höhlenmenschen sein, instinktgetriebene Wesen. Es ist in unseren Genen. Daran hat auch der Aufbruch zu den Sternen nichts geändert.
„Willst du fliegen, Bru?“
„Klar, warum nicht.“
Ich ziehe mir was Bequemeres an und laufe ins Cockpit, dann bringe ich die geheimnisvolle Starfarer auf den Weg. Ich habe den „Pickelmond“ noch gut in Erinnerung. So lange ist ja noch nicht her, dass wir dort waren – und vielleicht ist er bei Tag ja einladender.
„Wie wollen wir das Schiff eigentlich nennen?“, fragt Hermie.
Diverse Namen machen die Runde – schließlich macht die „Lütte“ das Rennen. Lütte – ein nett gemeintes Synonym für ein kleines Mädchen. Und die dicke Starfarer ist davon ja nun mal genau das Gegenteil. Sehr passend also.
Nach kurzem Quantumflug kommt Vuur in Sicht.
Wir steuern die Tagseite an – auf den Karten sind keine besonderen Merkmale verzeichnet, jeder Ort ist daher genauso gut, wie jeder andere. Nach der Landung macht sich Enttäuschung breit: Der Mond zählt nicht zu den schönsten um nicht zu sagen: Er ist hässlich. Hässlich und staubig. Unser erster Eindruck hatte nicht getäuscht.
Wie ziehen uns an und drehen eine kleine Runde.
Mein Mobiglas piept – eine Nachricht von Husky.
Darunter ist noch ein Bild.
*****
Der nächste Tag.
Ich stehe auf und schleiche durch das Schiff.
Seit ich Hermies Nachricht gelesen habe, habe ich ein ungutes Gefühl auf der „Lütten“. Hermie hat noch einmal die Logs des Schiffs gecheckt und schließlich mehr über das Schiff herausgefunden. So hieß die Starfarer ursprünglich „Lament“. Offenbar hatte das Schiff Überlebende eines anderen angegriffenen Schiffes mit Namen „Haloran“ an Bord genommen und wollte mit ihnen nach Stanton. Dann aber geschahen an Bord seltsame Dinge – wie es sich liest, sind die Geretteten offenbar geistig verwirrt über Bord gegangen, vielleicht waren sie von irgendwas befallen…oder haben irgendwas an Bord gebracht…schließlich wurden auch die Retter selbst wahnsinnig…
Zum Schluss lebte niemand mehr. Wie es scheint, trieb das Schiff ein Jahr lang im Asteroidengürtel, wo wir es dann gefunden haben.
Im Laderaum diskutieren die anderen. Die Stimmung ist gelöst. Während ich geschlafen habe, haben sie ein Schießtraining unter Lyranas Anleitung absolviert. Wie es scheint, recht erfolgreich. Das wird uns sicher noch nützen. Offenbar machen sie sich nicht so tiefschürfende Gedanken, sind weniger anfällig für komische Schwingungen – oder haben Hermies Nachricht einfach noch nicht gelesen.
„Gut geschlafen, Bru?“
„Unruhig“, antworte ich, „krasse Geschichte der Lütten.“
Hermie nickt.
„Ich mache mich mal frisch.“
Ich laufe allein die Treppen zu den Duschräumen hoch – und habe das Gefühl, dabei beobachtet zu werden. Das ganze Schiff ist in seltsames Licht getaucht – oder scheint das nur so? So langsam werde ich wohl verrückt. Plötzlich höre ich plötzlich Stimmen im Funk, die eindeutig nicht den anderen gehören. Sie klingen dumpf, verzerrt, fast wie Schreie. Dann werden sie durch echte Stimmen überlagert – die anderen sind nachgekommen. Das Mannschaftsquartier liegt direkt nebenan. Ich höre Zero.
Ich lächle – Zero ist zurück.
Ich verdränge den Gedanken, dass an Bord der „Lütten“ etwas nicht stimmen könnte und konzentriere mich auf das Hier und Jetzt. Wahrscheinlich bin ich einfach nur komplett überdreht. Auf Zeros Rapport bin ich gespannt.
Ich mache eine Katzenwäsche, ziehe mich an, dann sitzen wir auch schon alle in der Messe. Zeros Bericht ist ernüchternd: Bei Addisons „Second Life Initiative“ liegt ausgerechnet Hurston Dynamics vorn. Nicht zu glauben – die anderen Megacorps sind sicher auch keine Waisenknaben – aber wieso gewinnen im echten Leben immer die größten Idioten? Abermillionen Kisten Kupfer, Tungsten und Corundum wurden bereits geliefert – nur: Wofür braucht man diese Massen an Material?
Ich schüttele den Kopf. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn, zumindest nicht auf den ersten Blick. Wahrscheinlich steckt wieder irgendwas ganz anderes dahinter. Vielleicht Rüstung für das Militär, vielleicht macht jemand auch gerade den Schnitt seines Lebens. Außerdem: Warum ist die Regierung einmal mehr nicht in der Lage, die Probleme selbst zu lösen, sondern wälzt sie wie selbstverständlich auf die Bürger ab? Was macht eigentlich das Militär mit seinen Großkampfschiffen und Transportern? Warum werden keine großen Hauler-Companies zur Bewältigung der Krise engagiert? Und: Ist es anschließend tatsächlich Lohn genug, eine Rüstung mit Billig-Aufdruck zu tragen, während sich die hohen Damen und Herren gegenseitig beglückwünschen, die Krise tatkräftig in den Griff bekommen zu haben, ihre Buddies gleichzeitig fette Gewinne einstreichen und man selbst in irgendeiner Spelunke nach dem tausendsten Cargorun total kaputt kaum noch sein Bier heben kann? Wohl kaum.
Als Nächstes tischt uns Zero eine wilde Theorie auf – sein Verdacht: Enos und Regen-Krise hängen zusammen. Mit den Bio-Bots sollen Menschen auf genetischer Ebene markiert werden, um so festzulegen, wer regenerieren kann. Ziel: Eine neue Gesellschaft zu gründen, was gleichzeitig die freien Völker bedroht. Ich blicke ihn spöttisch an. Pyro hat meinen Freund ganz schön verändert – äußerlich wie innerlich. Lange Haare, wilder Bart, Balance hier, Balance da – und böse Jungs überall.
„Ich muss mir mal die Beine vertreten“, sage ich schließlich und stehe auf. Nicht jeder Morgen verträgt eine neue Verschwörungstheorie. Ich laufe in den großen Korridor des Schiffes, von dem viele Gänge abzweigen. Plötzlich gehen mehrere Türen gleichzeitig auf und wieder zu. Ein eiskalter Hauch umweht mich und ich habe eine Gänsehaut.
Ich rufe die anderen, die direkt nebenan sind.
„Leute, hier passieren komische Dinge.“
Hermie kommt zu mir.
„Bru, das ist ein altes Schiff. Da reagieren die Türsensoren schon mal sensibler…“
„Nee, das war etwas anderes…“, erwidere ich trotzig, ernte aber von Hermie nur einen höhnischen Blick. Klar, wer glaubt schon an Geister?
„Lasst uns in den Tag starten“, versucht Friedrich Frieden zu stiften.
Gemeinsam laufen wir hinab auf das Ladedeck, als ich plötzlich einen starken Stoß in die Rippen bekomme, der mich brutal über die Brüstung stößt. Ich lande unsanft ein Stockwerk tiefer und blicke nach oben. Dort steht Alaska.
„Sag mal…!“
Alaska hebt abwehrend die Hände.
„Ich habe nichts gemacht. Du bist plötzlich gesprungen…“
„Ich bin was?!“
Hermie meldet unterdessen, dass er auf seiner Karte ein Totenkopf-Zeichen habe. Mir läuft ein Schauer über den Rücken: Türen die sich von allein öffnen und schließen, Tritte aus dem Nichts, undefinierbare Stimmen im Funk – ich wette, hier geht nicht alles mit rechten Dingen zu. Und doch scheine ich der Einzige zu sein, der den Gedanken daran wirklich zulässt. Ich blicke zu Friedrich. Man merkt ihm deutlich an, dass er auf diesen ganzen Quatsch keine Lust mehr hat, sein Pflichtgefühl ihn aber antreibt. Vielleicht will er die Expedition auch nur noch hinter sich bringen.
„Letzter Mining-Versuch auf Vuur“, sagt er.
„Ich fliege auf Zeros Starlancer mit“, antworte ich.
Zu dritt machen wir uns auf den Weg zum Schiff der Citizens for Prosperity. Ich steuere das Schiff, während Zero versucht, mit Bordmitteln eine Datei, eine so genannte „Dragon AI“, zu öffnen, die Friedrich in Stanton von Kjeld Stormarnson zugespielt worden war. Stormarnson, Chef der Tyr Security, hatte uns bei der Aufklärung des Enos-Skandals tatkräftig unterstützt und ebenfalls Beweise gesammelt. Offenbar gibt es nun neue Erkenntnisse. Irgendwann hat es Zero geschafft, den Crypto-Key zu knacken.
Ich höre nur mit halbem Ohr zu, während sich Friedrich und Zero intensiv darüber austauschen. Offenbar ist es ein Sammelsurium aus Daten und Informationen. Was ich aber mitschneide, ist, dass die Verbrecher hinter Enos offenbar auf Associated Science & Development zugegangen sind, um sich in ihre Dienste zu stellen.
Also doch.
Wenn man auf einem Weg sein Ziel nicht erreicht, dann probiert man eben einen anderen.
Ich nehme die Information in mich auf und speichere sie ab, im ersten Moment unfähig, sie zu verarbeiten. Doch wie es scheint, laufen hier manche, wenn nicht alle Fäden zusammen.
„Soll ich hier runter? Das sieht doch ganz gut aus.“
Ich habe eine Senke gefunden, die ein guter Miningspot sein könnte.
Wir landen Starfarer und Starlancer, Lyrana kreist wie immer über uns. Mit einem Cyclone, den offenbar Lyrana für die Schießübungen besorgt hatte, machen wir uns auf den Weg. Dann erreichen wir ein kleines Abbaugebiet. Doch es ist nur das uns bereits vertraute Glacosite, auf das wir stoßen. Lyrana meldet indes, dass sich unserer Position ein ausgewachsener Sandsturm nähert – und zwar mit rasender Geschwindigkeit.
„Alle an Bord, und zwar schnell! Wenn uns dieser Sturm erwischt, setzt der Sand alle Düsen zu.“
Leichter gesagt, als getan – während Pike und Alaska minern, bin ich zu ein paar interessanten Felsformationen marschiert, Zero kämpft auf einem Berghang unterdessen mit Valakaaren. Wie ich im Funk höre, sind es zwei auf einmal, die sich diesmal aber nicht so leicht besiegen lassen. Offenbar haben sie ihn sogar eingekreist.
Ich grinse mir eins, geschieht ihm ganz recht.
„Leute…“, mahnt Lyrana nachdrücklich.
Erst im letzten Moment erreichen wir alle die „Lütten“ und Hermie zieht das Schiff aus den immer dichter werdenden Staubwolken.
„Schilde sind runter, Kühler ausgefallen“, brüllt Hermie aus dem Cockpit.
Die schwerfällige Starfarer kämpft sich wie ein taumelnder Schwergewichtsboxer an den Himmel, dann ist sie wieder in ihrem angestammten Revier, dem Weltall.
„Wohin jetzt?“
„Vatra“ sagt Friedrich knapp.
Ich blicke zu den anderen: Bei allen ist die Luft raus. Der Rest wird einfach nur noch abgespult. Hermie geht in den Quantumjump, Starlancer und Lyrana folgen. Dann kommt Vatra auch schon in Sicht – ein Mond, den wir auf unserer bisherigen langen Reise durch Pyro noch gar nicht betreten hatten. Vielleicht gibt uns das ja noch mal einen Schub. Ich checke die Galactapedia:
Vatra ist der zweite Mond des Gasriesen Pyro V im Pyro-System. Seine dichte Hochdruckatmosphäre aus Stickstoff und Methan unterstützt ein Ökosystem aus Pflanzen, die sich von Kohlenwasserstoffen statt von Kohlendioxid ernähren. Etwas Wasser ist auf Vatra in Form von Eis vorhanden, aber auf der Oberfläche ist es zu kalt, um in flüssigem Zustand zu existieren. Reisende, die dieses Eis in Notsituationen geerntet haben, berichten, dass es, wenn es geschmolzen ist, extrem bitter ist.
Einmal mehr tauchen wir in eine dunkle Umlaufbahn eines unbekannten Himmelskörpers ein – und schon bald zeigt sich: Vatra ist unfassbar zerklüftet. Wir landen mit der Starfarer auf einem Berg und ich springe hinaus – um anschließend zu erleben, wie Pyro IV, der Planet, um den alle Monde kreisen, so langsam von den Bergzacken Vatras am Horizont regelrecht aufgefressen wird – ein Schauspiel, das man nicht alle Tage hat.
Zero ist unterdessen in der Nähe eines Außenpostens notgelandet und kann sein Schiff nicht mehr starten. Wahrscheinlich hat sein Schiff während des Sturms mehr Sand geschluckt, als gut für es war. Die anderen wollen sofort wieder los, ich kann mich am Anblick des untergehenden Planeten indes kaum sattsehen.
„Ich bleibe hier, holt mich wieder ab“, sage ich.
Ich bin ein paar Minuten allein auf dem Bergmassiv und beobachte fasziniert, wie der Planet nach und nach verschwindet, dann ist die „Lütten“ plötzlich wieder über mir.
„…geht nicht. Schau mal auf deine Temperaturanzeige.“
In der Tat: Auf Vatra ist es saukalt. Ich wäre erfroren.
Ich klettere zurück an Bord und gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Zero und Lyrana sind in der Nähe eines verlassenen Außenpostens runtergekommen. Als wir landen, sind sie schon dabei, ihn zu untersuchen. Ich lasse mir Zeit, streife mehr oder weniger ziellos durch den Trümmerhaufen, der offenbar vor nicht allzu langer Zeit stark unter Beschuss gestanden hat.
Zero und Alaska philosophieren über die ersten Siedler Stantons, die aus Pyro gestammt haben könnten. Tatsächlich finden wir auch hier wieder die üblichen Zeichen – drei verbundene Kreise. Menschen vertreiben, andere ansiedeln und sie mit den Insignien der Unbesiegbarkeit versehen – wann ist das jemals anders gewesen? Es ist ein Zusammenhang, der sich geradezu aufdrängt. Höchste Zeit, das alles gedanklich mal ordentlich zu sortieren.
Irgendwann haben wir genug gesehen und wir kehren auf die Starfarer zurück. Ich fürchte mich vor weiteren seltsamen Erscheinungen, doch offenbar haben auch Geister ihre Ruhezeiten. Wir kehren in die Messe zurück. Dort nimmt mich Zero zur Seite.
„Ich muss dir noch was zu Lyrana sagen…“
„Ja…?“
Zero hat bei den Citizens for Prosperity offenbar noch ein wenig zu ihr recherchiert und ist dabei auf ein geheimes Protokoll gestoßen. Ihre Gladius hat sie anscheinend gestohlen, schlimmer noch: In ihrem Schiff war eine Platine verbaut, die den Headhuntern ständig ihre Position übermittelt.
Ich stöhne innerlich. Vielleicht ist sie ein Maulwurf.
„Wir müssen sie damit konfrontieren. Jetzt. Bevor es zu spät ist“, sage ich schließlich.
Wir laufen zu den anderen und ich knalle Lyrana an den Kopf, was Zero rausgefunden hat. Manchmal ist Angriff die beste Verteidigung. Die nächsten Sekunden entscheiden über ihr Schicksal bei uns und ich beobachte sie genau – doch statt herumzudrucksen, wirkt sie entwaffnend ehrlich. Das Schiff – ja, Bergungsgut. Sie wusste lange nichts von der Platine, hat sie sofort deaktiviert.
Ich blicke sie intensiv an.
Sie hätte mittlerweile viele Gelegenheiten gehabt, uns auszuschalten.
Dann bricht die Fassade.
Lyrana Sorell, eine einsame junge Frau, die ihren Weg sucht – nicht mehr, nicht weniger.
Jeder trägt einen Panzer.
Ich blicke aus einem schmalen Fenster.
Vatra – letzter Versuch.
Danach sind wir mit unserem Latein am Ende.
*****
Ich komme nicht zur Ruhe – meine Gedanken kreisen.
Bald ist die Diyo-Expedition zu Ende.
Wie geht es dann weiter?
Was hat sie wirklich gebracht?
Nicht wirklich viel, wenn wir ehrlich sind.
Was hat es mit ASD und Enos auf sich? Holt uns der ganze Mist wirklich noch einmal ein? Gibt es wirklich einen Zusammenhang mit der Regen-Krise? Ich denke an die Mannschaft: Werden die neuen Bekanntschaften – Alaska, Pike, Lyrana – länger halten als sonst? Werden daraus vielleicht sogar neue Freundschaften entstehen? Wie oft stand ich nun schon an diesem Punkt?
Ich weiß: Nichts ist wirklich beständig in einem sich stets ändernden Universum – und doch: Vielleicht ist es diesmal anders. Die Zeit wird es zeigen. Ich bin zurückhaltender geworden, lasse niemanden mehr so schnell an mich heran. Gleichwohl: Sich in sich selbst zurückzuziehen, war noch nie eine gute Idee – erst recht nicht als Reporter: Offen bleiben – das ist für einen Journalisten oberstes Gebot.
Mein Mobiglas piept und reißt mich aus meinen Grübeleien.
Lyrana.
Sie lädt spontan zu einem weiteren informellen Treffen abseits der Expedition ein. Sie will mit uns nach Orbituary, kein Gepäck nötig, nur unser Kopf – und ein bisschen Vertrauen, schreibt sie. Ich raffe mich auf. Raus aus der Schmollecke, Bru! Nur, wer sich selbst bewegt, bewegt auch andere.
Ich sage spontan zu, auch wenn ich keine Ahnung habe, was sie mit uns vorhat.
Rund 20 Minuten später sitzen wir in der Cutless, die Lyrana offenbar von den Citizens for Prosperity gestellt bekommen hat. Pike, Alaska und ich tragen alle die gleichen Anzüge – irgendjemand muss an Bord der Starfarer in den vergangenen Stunden die Kisten umsortiert haben. Meine ganzen Klamotten sind jedenfalls nicht mehr auffindbar. Ich nehme auf dem Co-Pilotensitz Platz. Es geht zu Lyranas Heimatstation. Sorell ist auf Bloom geboren, auf Orbituary aufgewachsen, wie sie uns erzählt – ein echtes Kind Pyros.
Erst jetzt fällt mir auf: Auf den linken Unterarm des Undersuits ist der Name des Schiffes aufgestickt: „Lament“. Mir läuft ein Schauer über den Rücken: Es sind Anzüge der verstorbenen Mannschaft. Ich atme tief durch. Es ist nicht mehr zu ändern. Schließlich kommt Orbituary in Sicht: Alaska ist einmal mehr geschockt von dem katastrophalen Zustand der Station und wundert sich, dass sie sich überhaupt in der Luft hält. Ich grinse: Genau das gleiche hatte ich auch gedacht, als ich zum ersten Mal Rod‘s Fuel gesehen hatte – vor über einem halben Jahr mit Husky nach unserer Ankunft in Pyro.
Wir landen – der gleiche Müll und Unrat wie überall. Ich versuche es so gut es geht auszublenden. Die Menschen haben sich längst daran gewöhnt und sich ihrem Schicksal ergeben. Es muss riesige Anstrengung kosten, dem zu entfliehen. Lyrana hat es geschafft – und ist nicht im Drogensumpf versackt.
„Folgt mir“, sagt sie.
Wir laufen ihr hinterher, haben keine Ahnung, wohin es geht. Schließlich biegt sie neben einer Bar in eine kleine Nische ab und wir sitzen an einem ranzigen Tisch in einem kleinen Séparée. Direkt daneben piepen lauter Computer in großen Racks. Drogen stehen auf einem Tisch. Alaska ist fassungslos und auch ich frage mich, was wir hier wollen. Pike nimmt es mit ziemlichem Gleichmut hin.
„Wartet! Ich muss kurz mit den Kollegen sprechen, ob alles vorbereitet ist.“
Nach wenigen Minuten kehrt sie zurück.
„Alles klar, der Neuralink steht, wie können uns einstöpseln.“
Jetzt wird klar: Wir nehmen an einer Simulation teil – virtuelles Schießtraining, wie ich es auch mit Husky vor unserer Abreise geübt hatte. Nur diesmal unter professioneller Anleitung.
„Wir haben hier Zugang zu den Datenbanken der UEE. Wir können alles laden, was wir wollen.“
Ich wette, dass Piraten damit auch Angriffe trainieren, behalte den Gedanken aber lieber für mich. Wir stöpseln uns ein, dann sind wir auch schon online. Wir sind auf einer Simulation der Station Kareah im Stanton-System – alles sieht sauber und frisch gewischt aus. Das bin ich schon gar nicht mehr gewohnt.
Ich höre Lyrana über das Headset.
„…wir sind hier drin ganz allein. Niemand wird uns stören.“
Wie immer ist die Illusion perfekt, als würde man sich durch die echte Welt bewegen. Wir tragen alle die gleichen Klamotten und Waffen und entscheiden eine Runde „Jeder gegen jeden.“
„Geht es langsam an, der Spaß soll im Vordergrund stehen“, sagt Lyrana.
Jeder startet an einer anderen Ecke, doch wie könnte es anders sein: Schlagartig gewinnt der Ehrgeiz die Oberhand. Lyrana ist uns allen über, das zeigt sich bereits nach wenigen Minuten – für sie sind wir nicht viel mehr als Kanonenfutter. Doch auch Pike hat ein Händchen für das Tötungshandwerk, auch wenn er schwört, alles andere als geübt zu sein: Im Lauf der folgenden Runden gerät er in einen regelrechten Blutrausch. Alaska, der so eine Simulation zuvor nie gemacht hatte, und ich sind mehr oder weniger Tontauben.
Einmal mehr wird mir klar: Angriff wird nie meine beste Option sein. Aber ich bin ja auch Journalist, kein Söldner. Lyrana erweist sich indes als gute Lehrerin – ruhig, konzentriert, fokussiert. Gut eine Stunde jagen wir uns wie Katz und Maus um die Ecken. Ich renne, krauche, verstecke mich. Irgendwann haben wir genug.
Gemeinsam geht es zurück nach Vatra.
Ich schreibe Lyrana noch, dass es ein gutes Gefühl ist, sie dabei zu haben, dann versuche ich, noch eine Mütze Schlaf zu bekommen.
Vertrauen entsteht eben nur, wenn sich alle bewegen – und sei es virtuell.
*****
Der nächste Tag.
Ich wache halbwegs ausgeruht auf. Ich habe fest geschlafen – selbst ein virtuelles Training kann einen ganz schön auspowern. Ich checke meine Nachrichten – erst jetzt sehe ich, was Friedrich passiert ist. Während wir unser virtuelles Training auf Orbituary absolvierten, hatte er mit Hermie einen Ausflug mit dem Cyclone auf Vatra unternommen. Dann aber war der Funk ausgefallen und sie konnten die „Lütte“ nicht mehr anpeilen. Offenbar haben sie sich dann auch noch im Gebirge verirrt und es nur mit Glück wieder zurück geschafft. Anscheinend steckt Friedrich aber immer noch irgendwo da draußen. Es folgt eine Nachricht von Hermie – ich solle gefälligst meine Spielchen bleiben lassen. Ich würde auf der „Lütten“ wohl gern Katz und Maus mit ihm spielen. Er habe mich im Laderaum gesehen, wie ich meine Kiste von Bord geholt hätte…
Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht.
Ich stehe auf und laufe hinunter auf das Ladedeck der Starfarer.
So schön und praktisch ein Mobiglas auch ist, manchmal kann es einem echt den Morgen versauen.
Die anderen sind dort bereits zu Gange.
„Hermie, was soll der Scheiß?! Warum machst du mich so an?“, stelle ich ihn zur Rede.
„Komm mit“, blafft er knapp angebunden zurück. „Ich zeige dir das Überwachungsvideo.“
Pike und Alaska machen sich unterdessen auf den Weg zu Friedrich.
Ich blicke mich um. Wie es scheint, hat Zero wieder mal die Kurve gekratzt. Ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. Freiheit und Unabhängigkeit ja, aber irgendwie fühle ich mich von ihm zunehmend im Stich gelassen. Es wird höchste Zeit, dass wir die Diyo-Expedition zu Ende bringen und jeder wieder seiner Wege gehen kann – sonst knallt es noch ganz gewaltig.
Wortlos stapfe ich Hermie hinterher. Im Cockpit zeigt er mir dann ein Überwachungsvideo – und ich traue meinen Augen nicht. Tatsächlich: Das scheine ich zu sein. Ich trage eine Kiste von Bord. In meinem Lament-Anzug. Schlafwandle ich jetzt schon? Tue ich Dinge, an die ich mich anschließend nicht mehr erinnern kann?
„…ich habe keine Ahnung, wer das ist“, sage ich zu Hermie.
Dass Geister der „Lament“ vielleicht unsere Gestalt annehmen können, verkneife ich mir lieber. Hermie will protestieren, doch ich lasse ihn einfach stehen, will auf das Ladedeck zurückkehren, um nach Friedrich zu sehen, nehme in dem verfluchten Irrgarten jedoch eine falsche Abzweigung und verlaufe mich einmal mehr auf der Starfarer.
„Verdammt! Hört mich jemand?“
„Wir hören dich“, kommt es sofort zurück. Offenbar bin ich in der Nähe des Generators gelandet, tief in den Eingeweiden des Schiffes. Als ich durch ein kleines Fenster in den Nachbarraum sehe, verschwimmt dahinter die Luft und sie bildet Schlieren – wie bei einer Fata Morgana, nur deutlicher. Dann ist die Erscheinung wieder verschwunden. Erneut habe ich das Gefühl, als würde durch mich ein eiskalter Hauch wehen.
Auf diesem Schiff gehen echt unheimliche Dinge vor sich. Hermie holt mich mürrisch ab – offenbar kann er sich die vielen Gänge und Abzweigungen besser einprägen und zusammen sind wir nach wenigen Minuten wieder im Hangar. Friedrich ist zurück. Gemeinsam mit Pike und Alaska steht er gebannt vor einem Rucksack, der offenbar aus dem Nichts aufgetaucht ist.
„Was ist denn da drin?“s
„Schau rein!“
Ich knie mich hin, untersuche ihn und traue meinen Augen nicht – in dem Rucksack finden sich Jaclium und Saldynium, diejenigen Materialien, hinter denen wir seit Wochen her sind. Sicher, nicht in der von den Citizens geforderten Menge – aber besser als nichts. Ich wende den Rucksack in den Händen hin und her und sinniere – befand er sich schon die ganze Zeit hier und sind wir ständig daran vorbeigestolpert? Oder lag er vorher in einer dunklen Ecke und war nicht zu sehen? Nein, irgendwas Komisches geht an Bord der „Lütten“ vor: Kisten und Sachen verschwinden, andere tauchen plötzlich auf. Wenn hier einer Katz und Maus mit uns spielt, so sind es doch wohl die Geister der „Lament“.
„…vielleicht hilft uns das hier weiter.“
Friedrich hält einen Stick in den Händen.
Er klickt den Stick in das Bord-Audiosystem des Schiffes, sodass wir die Nachricht alle gleichzeitig hören können – eine tiefe, kratzige Stimme dröhnt durch das Schiff, offenbar ist es eine Nachricht des Kapitäns der „Haloran“, der die „Lament“ zu Hilfe geeilt war. Anscheinend hat Michael Debokra, so sein Name, zuvor mit ASD zusammenarbeitet, sollte denen etwas liefern, während diese gleichzeitig mit einer Protoypen-Waffe die „Lament“ angriffen. Dann ging wohl alles schief, ein Zusammentreffen extrem unglücklicher Umstände, die dann eskaliert sind.
Ich ziehe mir das Audiolog auf mein Mobiglas und höre es mir noch zwei, drei Mal intensiv an, um zu verstehen, was passiert ist – doch bleibt vieles im Unklaren. Dafür wird mir schlagartig klar, was unsere „Lütte“, die frühere „Lament“ ist: ein Grab, ein Ort an dem Seelen gefangen sind, weil sie von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen wurden, ohne zu wissen, wie ihnen geschah.
„Entsetzlich“, denke ich. Jedem schlägt zwar irgendwann die Stunde, aber so…
„Auf dem Stick ist noch eine Karte…Hermie…“
„…bin schon unterwegs…“
Während ich noch versuche, mir auf all dies einen Reim zu machen, ist Hermie wieder auf ins Cockpit. Kurz darauf meldet er, dass er die Gebirgsformation gefunden hat – allerdings nicht auf Vatra, sondern auf Pyro IV.
„Lasst uns rausfinden, wie das alles zusammenhängt“, sagt Friedrich.
Niemand hat Einwände, auf Mining hat eh keiner Lust mehr und wir haben unsere Pflicht auch hinlänglich erfüllt – und so verlassen wir den Mond Vatra wieder, ohne ihn kaum gesehen geschweige denn untersucht zu haben. Wir wollen uns noch kurz besprechen, doch auf dem Weg in die Mannschaftsmesse findet Pike eine Leiche – der erste handfeste Beweis, dass auf der „Lament“ irgendetwas Furchtbares vorgefallen sein muss. Hemdsärmelig und ohne großes Federlesen wird die Leiche auf Vatra entsorgt, dann lassen wir den staubigen Himmelskörper hinter uns.
Während Hermie den grün-bläulichen Planeten ansteuert, durchstöbere ich die Kiste nach etwas Besserem zum Anziehen. Jetzt, da wir wissen, dass die Besatzungsmitglieder der „Lament“ kaltblütigem Mord zum Opfer gefallen sind, fühle ich mich noch unwohler in ihren Klamotten. Allerlei wirre Gedanken schießen mir durch den Kopf: Will uns die Mannschaft dadurch vielleicht etwas sagen – dass wir für sie einen Auftrag zu Ende führen sollen? Dass sie vielleicht erst dann Ruhe finden, wenn etwas Wichtiges erledigt ist? Vielleicht die Lieferung der Mineralien? Doch meine Suche bleibt erfolglos – was wir jedoch nun massenhaft an Bord haben, sind Waffen – Pistolen, Scharfschützengewehre und anderes mehr. Was wollen die Geister uns damit nahelegen? Dass wir in einen Krieg ziehen? Gegen wen?
Ich schneide mir selbst die Gedanken ab – alles Unsinn!
So etwas wie Geister gibt es nicht. Alles zwischen Himmel und Erde lässt sich erklären – oder doch nicht? Wahrscheinlich war uns die Waffenkiste bisher einfach entgangen.
„Der Quantum ist ausgefallen“, meldet Hermie.
Durch das Schiff geht ein Ruck.
„Bitte nicht…“
Dann springt er wieder an.
„Pyro IV in Sicht. Wir haben es gleich geschafft.“
Ich atme tief durch.
„Haben wir eigentlich eine Nachricht von den Citizens?“
Ich blicke Friedrich an.
„Moment…“
Er schaut auf sein Mobiglas.
„…tatsächlich, da ist was.“
Murmelnd liest er vor, dass die Citizens Proben der Monde noch einmal intensiv untersucht hätten, aber keine Spurenelemente von Jaclium oder Saldynium extrahiert werden konnten, kurzum: Die Mineralien kommen in Pyro auf natürliche Weise nicht vor. Ich denke an den Rucksack und grinse – kommt darauf an, wo man sucht…
Die Citizens überweisen uns für unsere Bemühungen 600.000 Credits, die Friedrich sofort aufteilt, eine symbolische Bezahlung und ein Tropfen auf den heißen Stein gemessen an unserem Aufwand, aber besser als nichts. Die Nachricht ist kurz und geschäftsmäßig. Kein Wunder angesichts der sich überschlagenden Ereignisse der letzten Wochen.
Hermie steuert unterdessen eine Landzunge an, die der Formation auf der Karte ähnlich sieht – als wir auch schon beschossen werden. Sofort geht er tiefer, um den Schüssen auszuweichen und ich bin beeindruckt, wie er mit den Fingerspitzen den riesigen Koloss leichtgängig durch Canyons steuert, als würde er nicht ein klobiges Tankschiff, sondern einen leichten Fighter steuern. Irgendwann sehen wir in der Ferne Lichter.
„Wir landen hier, den Rest legen wir zu Fuß zurück.“
Hermie landet und Minuten später bin ich wieder auf Pyro IV, dem Planeten auf dem unser ganzes Abenteuer in Pyro begann. Es kommt mir vor, als würde es schon ewig zurückliegen, dabei ist es erst ein halbes Jahr her, doch ist in dieser Zeit eben unendlich viel passiert. Ich denke an Husky.
Über uns peitschen die Schüsse der Automatik-Kanone durch die Nacht, die weiter ihren Gegner sucht, geduckt nähern wir uns heimlich im Schatten dem Außenposten, Hermie, Pike und Lyrana vorneweg. Augenscheinlich handelt es sich um einen Posten der ominösen Associated Science & Development, kurz: ASD. Immer wieder blickt Lyrana durch ihr Scharfschützengewehr – doch außerhalb der Gebäude ist niemand zu erkennen. Behutsam nähern wir uns der geheimen Basis, dann komme ich mit dem Finger an den Abzug meiner Waffe. Sofort richtet sich die Automatik-Kanone neu aus.
„Bru, verdammt!“, schimpft Hermie.
Wir halten kurz inne, dann schleichen wir weiter zu der Station, die auf keinen Karten verzeichnet ist, bis wir schließlich alle mit gezogenen Waffen, aber unschlüssig direkt vor der Tür eines Shelters stehen.
„Was sollen wir tun? Rein und fragen, was sie hier machen?“
Direkt hinter einer Scheibe sehe ich Wissenschaftler, die anscheinend bewacht werden. Offenbar können sie uns hier draußen in der Dunkelheit nicht erkennen. Friedrich blickt in die Runde und erwartet eine Antwort, die ihm die Entscheidung leichter macht, aber: einmal Chef immer Chef. Nur, dass die Expedition nun vorbei ist. Ab sofort sind wir wieder nur eine lose Truppe Menschen mit vielleicht ähnlich gelagerten Motivationen. Alles in mir schreit umzudrehen, den anderen scheint es ähnlich zu gehen – und schließlich kehren wir zum Schiff zurück. Mir wird klar: Wir werden uns besser vorbereiten müssen – und wir müssen uns vor allem darüber klar werden, was wir hier überhaupt wollen.
„Ich bringe euch nach Gaslight, dort verlässt du bitte mein Schiff, Bru“, sagt Hermie.
Das ist das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass er mich von seinem Schiff wirft.
„Natürlich“, gebe ich knapp zurück.
Brütend sitze ich während des Flugs in einer Ecke und sehne mich danach, von der „Lütten“ runterzukommen. Ich denke an Zeros Mutmaßungen, dass ASD hinter den gefährlichen Experimenten steckt. Was werden wir finden, wenn wir tiefer graben? Warum nur habe ich das Gefühl, dass auch Stanton bis zur Halskrause in all das verwickelt ist? Verdammt, Zero hätte wenigstens mal eine Nachricht hinterlassen können. Schweigend verlasse ich nach der Landung das Schiff, wünsche den Seelen der „Lament“ im Geiste Frieden und Ruhe, nehme mir das nächstbeste EzHub und will erstmal keinen mehr sehen.
Die Expedition ist vorbei.
Pokerglück
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, um auszublenden, dass unsere Expedition dort endet, wo sie vor drei Monaten begonnen hat – auf einer grauenhaften Station Pyros. Ich weiß noch, wie ich mit Friedrich im Hangar zum ersten Mal die Geos ausprobiert habe. Und jetzt? Es war alles nur viel Aufwand und Wind um Nichts, oder? Was haben wir schon erreicht? Wenn die Reise über die Monde Pyros vor allem eines gezeigt hat, dann, dass sich fest geglaubte Bande lösen.
Zeros ständiges Kommen und Gehen etwa, meist ohne Absprache, sein Töten von Tieren aus „Tradition“, sein stets sarkastischer Blick auf die Welt und meine Unfähigkeit, damit richtig umgehen zu können. Hermie – ein hilfsbereiter Kerl wie immer, aber auch eine Nervensäge und unendlich von sich selbst überzeugt….die anderen sind eigentlich immer noch unbeschriebene Blätter. Pike – eine Blackbox, Alaska – nett aber auch ein wenig blass. Und dann Lyrana. Sie wirkt getrieben, als ob etwas unter ihrer Oberfläche gärt und nur darauf wartet durchzubrechen…
Allein Friedrich ist ein Ruhepol, wie immer. Aber auch er scheint am Ende seiner Kräfte zu sein. Die Explosion seiner „Silver Arrow“ hat ihn erschüttert. Das ist ihm nach wie vor deutlich anzumerken. Und letztlich die Citizens for Prosperity: nur eine weitere Fraktion in einem sterbenden Sternensystem mit eigener Agenda – und nicht die weißen Ritter, als die sie sich gern geben.
Drei Monate haben wir die Monde Pyros untersucht, haben Material und Nerven verschlissen, unser Leben riskiert, haben großartige Sonnenaufgänge und Naturschauspiele erlebt, Strahlungseruptionen überlebt, Höhlen untersucht, Friedrich aus einer Entführung befreit, seltsame Phänomene gesehen und unerklärliche Begegnungen auf einem Geisterschiff gehabt…doch was haben wir eigentlich geglaubt? Dass wir auf diesem Trip den entscheidenden Unterschied machen? Dass das Universum nur auf uns gewartet hat?
Ich hake die Diyo-Expedition im Geiste ab und drehe mich auf die Seite.
Mein Mobiglas piept – im Postfach ist die neueste Ausgabe der „Terra Gazette“. Wie es aussieht, ist die „Second Life Initiative“ ein voller Erfolg und hat alle Erwartungen übertroffen. Jedenfalls lobt sich die Regierung selbst über den grünen Klee und verlängert die Aktion sogar noch. Genau so geht das: Man schmiert dem Volk mit ein paar dürren Zeilen ein wenig Honig ums Maul, schon verdingt es sich freiwillig weiterhin als Kistenschlepper.
Interessanter ist da schon der Aufmacher: Die Vorkommnisse rund um Associated Science & Development sollen nun auch im UEE-Senat untersucht werden. Derzeit packt ein Whistleblower aus, was da wirklich läuft. Ich wusste es: Die Sache wird riesengroß. Offenbar war ASD auch in Stanton aktiv und wie es scheint, wurden in mittlerweile aufgegebenen Stationen schreckliche Experimente gemacht. Genauer wird der Artikel nicht. Natürlich weist ASD jede Schuld von sich – und doch handelt es sich um ein systemübergreifendes Komplott. Für uns gilt es nun im ersten Schritt herauszufinden, was ASD in Pyro treibt, im zweiten Schritt Verknüpfungen nach Stanton herzustellen und das große Bild hoffentlich zusammenzusetzen. Ich fürchte mich davor, was wir dann sehen werden.
Ich schreibe spontan Lyrana an, denn in jedem Fall werden wir dabei Hilfe brauchen.
Sie meldet sich umgehend zurück.
Offenbar kommt sie ebenfalls nicht zur Ruhe. Ich teile ihr die Bar als unseren Treffpunkt mit und mache mich auf den Weg. Es ist gut, sie mal zu treffen, ohne den Rest der Gruppe im Schlepptau zu haben – die meisten Menschen lernt man erst richtig kennen, wenn man sich mit ihnen mal in Ruhe unterhält.
Lyrana wirkt entspannt, aber auch aufmerksam – ihre Grundhaltung, die ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wir machen ein wenig Smalltalk, dann frage ich sie, ob sie sich vorstellen könne, mir für ein paar Wochen Waffenhilfe zu geben und dafür mit mir nach Stanton zu reisen.
Lyrana zögert kurz, dann erzählt sie von ihren Eltern, die auf Orbituary leben und dass sie einen Bruder hat, der im Alter von 16 Jahren zu Hause abgehauen ist und den sie sucht. Wir sitzen auf einer fleckigen Couch direkt nebeneinander und ich blicke sie verstohlen von der Seite an – eigentlich hat sie ein zartes Gesicht, jung noch und voller Ideale. Andererseits hat sie auch schon einiges gesehen, wie ihre Augen verraten. Offenbar ist sie ein ziemlicher Familienmensch und ganz anders, als ihr Job vermuten lässt.
„Vielleicht kann ich Dir eines Tags helfen, Deinen Bruder zu finden. Aber erst müssen wir herausfinden, was es mit ASD und den Schweinereien, die dort laufen, auf sich hat“, erwidere ich.
Ich berichte ein wenig von den anderen, dass man Friedrich nie unterschätzen sollte, von Zeros Freiheitsdrang und unseren Beziehungen untereinander. Lyrana nickt mehrfach, dann erzählt sie noch, dass die Citizens for Prosperity sie erpresst hätten – wegen ihres Schiffes, der „Anubis“, das sie ja einfach an sich genommen habe.
Ich denke an Aruhso und wie er mir zugesetzt hatte.
„…irgendwer hat immer irgendwas gegen einen in der Hand“, sage ich. „Die Kunst ist, sich daraus zu befreien. Was ist nun mit Stanton?“
„Lass mich eine Nacht drüber schlafen, dann gebe ich dir Bescheid.“
Ich habe das Gefühl, dass wir noch ein ganzes Stück des Weges gemeinsam gehen werden.
Unser Start war schwierig, zugegeben, aber ich glaube, auf sie kann ich mich wirklich verlassen, wenn es hart auf hart kommt. Ich laufe über die Station zur „Shack One“. Höchste Zeit mit ihr mal wieder eine kleine Runde zu drehen und das Geisterschiff aus dem Kopf zu bekommen. Je weniger Zeit ich auf Pyros Stationen verbringe, umso besser ist es für mein Seelenheil.
„Hi, wie läuft‘s?“
Zwei Typen quatschen mich an und reißen mich aus meinen Gedanken.
„Alles okay soweit…“
Ich will mich an ihnen vorbeiquetschen.
„Lust auf ein Spielchen?“
Ich winke dankend ab.
„…unser Kumpel hier, der ist so abgebrannt, der muss sogar seinen Flitzer setzen.“
„Ach ja?“
Ein nichtssagender Typ in der Mitte von zwei grobschlächtigen Idioten macht ein todtrauriges Gesicht.
„…hat sein Glück etwas überstrapaziert.“
„Wenn du einsteigst, kannst du ihm den Arsch retten.“
Ich tue so, als würde ich mitspielen.
„Und zwar wie?“
„Poker. Mit 100.000 Credits bist du dabei. Verlierst du, gehört uns dein Einsatz. Gewinnst du, kriegst du das Schiff.“
„Was ist das denn für ein bescheuerter Deal?“
Ich habe das Gefühl, ich soll ganz übel über den Tisch gezogen werden.
„Der Typ kann nur noch sein Schiff setzen, weil er keine Kohle mehr hat. Wir brauchen aber kein weiteres Schiff. Schon gar keins, das in Pyro glänzt wie eine Weihnachtskugel. Du setzt quasi für unseren Kumpel hier.“
Der ringt sich ein gequältes Lächeln ab.
„,…würdest mir einen Gefallen tun. So schmeißen sie mich wenigstens nicht aus der nächsten Luftschleuse. Das Schiff ist brandneu. Ich hab‘s eben erst auf der Messe in Sherman gekauft.“
Ich grübele kurz. Leichenfledderei ist zwar nicht die feine Art, aber wenn sie ihn ansonsten aus der Schleuse werfen…
„Okay, ich mach‘s. Was ist das denn für ein Schiff?“
„…ne Kruger Wolf.“
Nie gehört.
Ich folge den Dreien zu einem schmutzigen Pokertisch.
Die Karten sind schnell gegeben. Ich setze die 100.000 Credits der Citizens. Der arme Schlucker sitzt hinter uns auf einer Couch und schaut frustriert zu. Es geht ein paar Mal hin und her, ich blicke auf meine Hand, ob sie zu liegenden Karten passt und traue meinen Augen nicht: Ich habe aus dem Nichts heraus einen „Royal Flush“.
Pures Anfängerglück.
Als ich meine beiden Karten präsentiere, ernte ich ungläubiges Kopfschütteln. Die beiden Typen blicken mich stocksauer an, damit haben sie natürlich nicht gerechnet. Offenbar sind selbst extrem knapp bei Kasse, sodass sie jeden Credit gebrauchen könnten – nun, Pech gehabt.
„Okay, Jungs. Her mit dem Schiff.“
Der eine dreht sich zu dem Besitzer des Schiffes um.
„Überschreib‘s ihm…“, sagt er drohend.
Mein Mobiglas piept mehrfach – es werden Besitzurkunde und Regtag-Nummer übertragen.
„Hau ab“, blafft der eine Spieler den unglücklichen Ex-Schiffsbesitzer an.
Ich stehe wortlos auf und laufe in den Hangar, wo die „Wolf“ auf mich warten soll. Als ich vor ihr stehe, kann ich es kaum glauben: Es ist ein extrem schnittiger Flitzer mit einem Stromlinien-Design, etwas Retro vielleicht. Noch traue ich dem Braten nicht – und erwarte, dass aus dunklen Ecken ein paar Meuchelmörder hervorspringen – und dass das Ganze doch ein abgekartetes Spiel war. Ich klettere in das Cockpit, das Schiff springt ohne zu Zicken sofort an und ich bin nach wenigen Minuten im All.
Ich grinse über beide Ohren.
Pyro – du bist immer wieder für Überraschungen gut.
Ich steuere Bloom an. Die Sicht aus dem Cockpit ist fantastisch. So weitläufig konnte ich aus einem Schiff noch nie sehen. Ich kann mich kaum sattsehen. Ich cruise über die Berge des Planeten, fliege manche Steilkurve und teste die Manövrierbarkeit des Schlittens aus. Es flitzt um Ecken als würde man ihm einen Tritt geben. Nachdem ich genug habe, kehre ich zurück auf die Station.
Die anderen werden platzen vor Neid.
Lazarus
Die Kommunikation, die ich im Funk höre, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
ECHO 3: Frage: Ist das der Infiltrator? Er ist bewusstlos, was soll ich mit ihm tun?
HQ: Echo 3, sichere den Bereich. Wir holen ihn zum Verhör ab. Team kommt in 30 min und extrahiert.
HQ: Erbitte Position.
ECHO3: Sind an dem externen Datencenter.
HQ: Echo 3, wir haben bewaffnete Sondereinheiten zu euch verschoben.
Wir schleichen langsam voran, Lyrana, Pike und Hermie an der Spitze. Alaska und ich bilden die Nachhut. Die Zeit rast und zieht sich gleichzeitig. Es ist, als würde ich mich in Trance befinden. Ich setze meine Schritte so leise wie möglich in den Staub von Pyro IV, sofern es das Monstrum von Anzug, in dem ich stecke, irgendwie zulässt.
ECHO 3: Ich sehe die Jungs, nette Waffen. Stehen direkt bei dem Zielobjekt.
HQ: ETA …Extraktion in 20 min…
20 Minuten, dann haben sie Friedrich weggeschafft. Und machen weiß Gott was mit ihm. Ich fluche und bin stocksauer – was nur ist in Friedrich gefahren? Was hat ihn geritten, uns in so eine Situation zu bringen?
„Alles klar hinten bei euch?“, fragt Lyrana.
Ich zucke zusammen.
„Alles klar“, antworte ich leise, dann stolpere ich geduckt zum nächsten Felsen.
Vor mir höre ich Schüsse, der Tanz geht los…
*****
Gut 30 Minuten zuvor.
Wir treffen uns in einer verstohlenen Ecke auf Gaslight. Nach und nach trudeln alle ein. Es ist das erste informelle Treffen unserer kleinen Gruppe nach der Expedition. Ich brenne drauf, von meinem Poker-Gewinn zu erzählen. Als fast alle da sind, lege ich los. Ich ernte ungläubige Blicke, Glückwünsche. Dann ergreift Hermie das Wort.
„Ironie des Schicksals. Ich habe hunderttausende Credits in die Expedition investiert. Und wer geht mit einem Gewinn daraus hervor? Bru.“
Himmel, warum kann man nicht einfach gratulieren, sich eine Sekunde für den anderen freuen und gut ist?
„…aber, Bru, ich gönne es Dir.“
Endlich tauchen Friedrich und Alaska auf.
Wir machen ein wenig Smalltalk, drücken uns ein paar Minuten um die Frage, die über allen bleischwer in der Luft hängt – wollen wir gemeinsam rausfinden, was es mit ASD und den Hintermännern auf sich hat? Uns einmal mehr mit übermächtigen, unsichtbaren Gegnern anlegen? Mit Lyrana hatte ich schon gesprochen. Schließlich mache ich den Anfang – denn ich weiß genau, warum. Nur wenige Stunden zuvor hatte sich Zero gemeldet mit einer Nachricht, die er per Datacrypt übermittelt hatte.
Seitdem weiß ich, was die Stunde geschlagen hat.
Alaska ergreift das Wort – ihn interessiere schon allein aus Neugier, was hier vor sich geht. Auch aus wissenschaftlicher Sicht sei für ihn relevant, mehr zu erfahren. Er möchte sogar seine Organisation SCIUN anschreiben. Kurz: Er bleibt an Bord. Ich nicke ihm zu. Pike weiß nicht, wohin sonst mit sich, sagt, dass wir ihn in einer dunklen Stunde freundlich aufgenommen hätten und er sich dafür revanchieren wolle – auch gut. Friedrich schickt uns unterdessen eine Karte des so genannten ASD-Farro-Centers auf Pyro IV ohne weitere Erklärung, dann ist er verschwunden. Ich stutze kurz, denke, dass er gleich wiederkommt. Unterdessen wollen die anderen wissen, womit wir es hier zu tun haben. Ich druckse herum. Wie soll ich in ein paar Minuten den ganzen Irrsinn um Enos zusammenfassen?
Dann ploppt plötzlich eine Nachricht auf.
Ich starre fassungslos auf mein Mobiglas. Wofür dann die kurze Stippvisite? Irgendetwas setzt Friedrich offenbar ungeheuer unter Druck oder macht ihm eine Höllenangst. Jede Wette, dass er Zeros Nachricht auch gelesen hat. Kurzum: Manchmal wird einem eine Entscheidung regelrecht aus den Händen gerissen. Eben noch war es eher eine Frage der inneren Einstellung, ob wir für einander einstehen, nun heißt es: Karten auf den Tisch. Nur Minuten später sind wir auf dem Weg zur „Lütten“. Hermie legt einen Alarmstart hin. Wir folgen Friedrich stante pede. Keiner zögert auch nur eine Sekunde.
„Haben wir irgendwas zum Anziehen an Bord…ich meine, einen Raumanzug?“, frage ich.
„Ich habe was“, antwortet Pike und gibt mir eine Art Super-Panzeranzug, mit dem man wohl auch in eine Sonne stürzen und dies überleben könnte. Ich höre die anderen im Funk. Wilde Theorien machen die Runde, warum Friedrich so einen Stunt macht.
„Vielleicht macht er das, um uns so zu zwingen, ihm zu folgen“, sagt Hermie.
Keine Ahnung, ob ihm das einfach rausrutscht, jedenfalls sind das Augenblicke, da weiß man, der andere ist im totalen Blindflug, was einen Menschen angeht. Hermie Janson hat nach all der Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben, nicht die geringste Ahnung, was Friedrich Winters für ein Mann ist.
Ich schwitze wie ein Tier, der Anzug hängt tonnenschwer an mir. Hermie landet das Schiff. Lyrana übernimmt das Kommando. Mir ist hundeelend. Auf zwei kleine Gruppen aufgeteilt nähern wir uns ein zweites Mal der Anlage, nachdem ich die anderen mit ein paar knappen Worten allgemein über Enos ins Bild gesetzt habe. Hinter uns kündigt sich bereits der Sonnenaufgang an. Professionell dirigiert uns Lyrana durch das Gelände: Halten, aufschließen, stoppen, verstecken, sondieren.
Es ist, als hätte sie einen Schalter umgelegt. Dann löst sich bei Alaska ein Schuss und Lyrana herrscht ihn an, er solle zurück aufs Schiff, wenn er nicht die Finger vom Abzug fernhalten könne. Ich sehe, wie er unter seinem Helm vor Wut rot anläuft. Ich versuche ihn zu beschwichtigen. Gleichzeitig versuchen wir, Friedrich zu erreichen, schreiben ihm kurze Nachrichten.
Keine Reaktion.
Ich blicke mich um. Die Anlage ist riesig.
Plötzlich ploppt ein Bild auf meinem Mobiglas auf. Anscheinend sind wir in das Funk-Netzwerk der Station geraten. Friedrich liegt am Boden. Wir schneiden die Kommunikation zwischen dem Farro-Hauptquartier und Echo 3 mit, offenbar einer Wach-Einheit, die das Gelände sichert. Wahrscheinlich hat ein Automatikgeschütz Friedrich ausgeschaltet, nun suchen sie ihn genau wie wir.
Schüsse fallen.
Wir sind entdeckt worden. Überall aus den Nebengebäuden springen Sicherheitsleute mit gezogenen Waffen. Wir haben in das Wespennest gestochen. Lyrana, Pike und Hermie erledigen Gegner um Gegner. Lyrana schreit Befehle, doch gehen sie im Kugelhagel unter. Mehr oder weniger koordiniert laufen, rennen oder stoßen wir vor.
Jetzt tickt die Uhr.
Ein zweites Bild ploppt auf – Friedrich liegt irgendwo an einem der Nebengebäude, Bäume in der Nähe. Wir halten inne, gleichen das Bild mit der Umgebung ab. Doch die Shelter in Standardbauweise sehen alle gleich aus. Wir versuchen, uns an den Bäumen zu orientieren. Ab sofort sind wir in einem Wettlauf gefangen – einem Wettlauf des Todes, genauer: einem Wettlauf darum, ob sich noch aufhalten lässt, was sich hier im Schatten entwickelt. Falls sie Friedrich vor uns bekommen – vielleicht foltern sie ihn dann, verabreichen ihm Wahrheitsdrogen, schließen ihn an Lügendetektoren an oder Schlimmeres. In meinem Kopf macht sich Panik breit.
Pike ist wie in der Simulation auf Orbituary erneut in einem regelrechten Blutrausch. Immer wieder sagt er, dass er Gegner „weggemacht“ hätte. Ich wette, dass er eine Vergangenheit hat, von der keiner von uns etwas ahnt. So spricht einfach kein harmloser Zivilist. Hermie betont pausenlos, dass er pro Person nur eine Kugel braucht – meinetwegen kann er eigene Kugeln wie einst Robin Hood seine Pfeile noch mal selbst spalten. Es ist, als würden die beiden einen Schieß-Wettbewerb auf einem Jahrmarkt für Killer austragen. Ich komme mir vor wie in einem falschen Film, erledige unterdessen ebenfalls Sicherheitsleute. Jetzt müssen wir da durch. Sonst sind nicht nur wir geliefert, sonst steht womöglich so viel mehr auf dem Spiel.
Wir kämpfen uns um das Farro-Center herum, einen hermetisch abgeriegelten Gebäudekomplex, in dem weiß Gott was vorgeht. Ich weiß nicht wer, aber einer von uns, verschwindet kurz in dem Gebäude. Dumpf hallen die Schüsse durch Wände. Für einen Moment ist es ruhig. Ich blicke mich um. Hier draußen dürfen nur die armen Hunde ihr Leben lassen, die wie wir nicht die geringste Ahnung haben, wofür eigentlich. Söldner, irgendwo aufgelesen, entlohnt mit ein paar Credits. Am vorletzten Shelter entdecken wir schließlich Friedrich. Wir können nur ein paar Minuten vor unseren Gegnern da sein. Irgendjemand jagt ihm einen Medipen in den Arm, benommen steht Friedrich auf.
„Oh Leute….“
Mehr bringt er im ersten Moment nicht hervor.
Alles in mir will ihn sofort zur Rede zu stellen, aber die Gefahr ist noch nicht vorüber.
„Hier rein“, sagt Friedrich. Mit einer Keycard öffnet er den Shelter.
Friedrich ist erschüttert.
„Ihr solltet mir doch nicht folgen…“
„Du könntest tot sein oder verschleppt!“, fahre ich ihn lauter als gewollt an.
Einen Moment ist es ganz still.
„Ich wollte euch da nicht mit reinziehen….“
„Worein…?“, fragt Alaska.
Friedrich antwortet nicht.
Ich knalle meinen Helm auf den Boden.
„Was hast du denn gedacht? Dass wir uns nach deiner netten Abschieds-Nachricht das nächste Bier bestellen?“
„Nein…nein.“
„Die 50 Toten da draußen gehen jedenfalls auf deine Kappe“, wirft Hermie ein.
Ich ignoriere seine saublöde Bemerkung.
„Und jetzt? Dringen wir noch in das Hauptgebäude ein, jetzt da alle tot sind?“
„Nein…erstmal Rückzug…was für eine Katastrophe…“, sagte Friedrich leise.
Draußen ist es erstaunlich ruhig. Vielleicht sammeln sich die Überlebenden. Wahrscheinlich fordern sie aber eher Verstärkung an. So wild, wie Hermie, Pike und Lyrana um sich geschossen haben, müssen sie denken, sie haben es mit einer ganzen Armee zu tun gehabt. Wir schleichen zurück zur „Lütten“, ich begleite Friedrich zu seiner Origin 85x. Lyrana kommt unterdessen überhaupt nicht mehr raus aus ihrer Rolle – irgendwann fahre ich sie an, sich mal wieder einzukriegen, dann wende ich mich wieder Friedrich zu.
„Ich bleibe bei dir und fliege.“
„Okay.“
Lyrana meldet, dass Verstärkung im Anflug sei und so machen wir uns mit Alarmstarts vom Hof. Kurz vor Gaslight stoppe ich.
Ich blicke Friedrich an.
„Raus damit…warum allein? Nicht mal mich hast du eingeweiht. Und was ist das für eine Karte, wo hast du die her? Was läuft hier überhaupt?“
Friedrich ist aufgelöst, sammelt sich.
„Die Karte habe ich einem ASD-Mitarbeiter in der Bar abgenommen. Ich habe ihm was in seinem Drink gemixt und ihn betäubt. Aber dann habe ich gesehen, dass die Keycard nach zwei Stunden ablief. Es war schlicht keine Zeit für Erklärungen. Ich hatte es auch fast geschafft…“
Wie oft ist alles anders, als man denkt.
„…aber Euch habe ich völlig falsch eingeschätzt.“
Ich lande, die anderen warten schon.
Friedrich entschuldigt sich, während die anderen ihn regelrecht kreuzigen. Irgendwann fahre ich dazwischen.
„Jetzt kommt mal wieder runter. Keiner von euch kennt Friedrich länger als acht Wochen. Er ist keinem von euch eine Rechtfertigung oder Erklärung schuldig“, sage ich barsch.
Alaska kriegt sich mit Lyrana in die Haare.
„Wir sind Zivilisten, keine Söldner-Armee“, sagt Alaska sauer.
Zu Recht hatte ihn aufgebracht, wie sie ihn von oben herab behandelt hatte. Lyrana sitzt mit verschränkten Armen auf der Couch. Hermie wirft mir an den Kopf, dass ich doch beim nächsten Mal die Führung übernehmen soll.
„Gern“, blaffe ich zurück und verkneife mir gerade noch, dass 50 Tote wohl für niemanden ein Ruhmesblatt sind. Pike sitzt unterdessen in sich gekehrt da. Er war derjenige, der kurz im Hauptgebäude war. Er hat etwas gesehen, dass ihm eine Scheiß-Angst gemacht haben muss.
„Kopions“, sagt er schließlich, „leuchtende Kopions waren da drin.“
Danach sagt niemand mehr etwas.
Journal-Eintrag 22 / 08 / 2954
Ich wache klitschnass auf.
Was für ein Albtraum!
Friedrich war verschollen, wir haben ihn gerettet – um den Preis eines Massakers und dutzender Toter…ich schüttle mich und langsam verschwindet der Nebel in meinem Kopf.
Mein Mobiglas summt.
Ich wische mir den Restschlaf aus den Augen. Es war kein Albtraum – sondern ist bittere Realität. Pyro lässt uns alle verrohen. Jeder blickt dabei vor allem in den eigenen Abgrund. Eben noch schwingt man die Moralkeule oder fühlt sich auf der richtigen Seite, im nächsten Moment mäht man Menschen um, als wären es Grashalme…ich fasse mich und schreibe Lyrana zurück.
Ich stehe auf, ziehe mich an und laufe in den Hangar. Zwar habe ich noch weitere Nachrichten auf meinem Mobiglas, aber für den Moment habe ich genug. Manchmal müssen Dinge einfach warten können. Ich will jetzt nur noch eins – mal für ein paar Stunden von Gaslight runter und einfach allein und für mich sein.
Die Kruger Wolf fetzt los wie beim ersten Mal. Das ist kein Schiff, das ist ein fliegendes Triebwerk mit Stummelflügeln. Ich steuere Pyro IV an und fühle mich für einen Moment wie ein Täter, der an den Tatort zurückkehrt. Neuerdings lässt sich „Radio Infinity“ auch in Pyro empfangen, ich stelle den Sender auf die entsprechende Frequenz ein und cruise zu cooler Musik solo über den Planeten, auf dem unser Trip durch Pyro begann. Mehrfach piept mein Mobiglas, doch ich ignoriere es.
Die Beschleunigung des Schiffes ist einfach gigantisch. Es presst mich in den Sitz und ich bekomme kaum noch Luft. Als ich in den Sturzflug gehe, schießt mir das Blut derart in den Kopf, dass ich einen Redout habe. Wahnsinn – das hatte ich das letzte Mal, als ich…lange ist‘s her…damals war ich bei „Crash“, meine ersten Flugübungen auf einer Hornet und davor…Erinnerungen tauchen wieder in mir auf…die Navy, Eliot und Marsh….
Ich schiebe alte Gefühle beiseite, konzentriere mich, ziehe die Wolf wieder nach oben. Das Ding ist ein Wahnsinnsflieger. Ich reduziere das Tempo, klappe die Canopy auf und genieße den Wind. Dann schieße ich wieder über und unter Wolken dahin, drehe Fassrollen und lasse die Maschine die Kontrolle übernehmen. Die Wolf behalte ich auf jeden Fall! Irgendwann habe ich genug. Vielleicht sollte ich mir doch mal anschauen, was die anderen so treiben…ich suche einen geeigneten Landeplatz, doch weit und breit sieht das Gelände karg und felsig aus. Ich scrolle durch die Planetenkarte – da: Chawla‘s Beach.
Der Ort, an dem in Pyro alles begann.
Das Massaker, der Angriff der Polaris, die vielen Toten.
Ich zögere, dann lege ich doch spontan Chawla‘s Beach als Ziel im Navigationscomputer fest.
Die Wolf springt um den halben Planeten, dann kommt mein Ziel auch schon in Sicht. Wie damals ist es Nacht. Ich kreise in Sicherheitsabstand zweimal um die Siedlung, doch alles scheint friedlich zu sein. Dann lande ich – es bleibt friedlich. Ich stelle das Triebwerk ab und laufe in die Siedlung. Ein leises Lüftchen weht, in der Ferne höre ich das Plätschern des Meeres. Ich erwarte, dass jeden Moment irgendeine Katastrophe losbricht – doch nichts. Aus einem Gebäude höre ich lautes Lachen. Ich betrete es – keine Schüsse, keine verstörten am Boden kauernden Menschen, keine Toten. Es ist alles in Ordnung.
„Wie geht’s?“, werde ich gefragt. „Was können wir für dich tun?“
„Ich…äh…nichts. Bin nur zu Besuch hier.“
„Na, dann…bleib so lang du magst.“
Ich laufe durch das Gebäude, blicke mich heimlich um.
Das damalige Massaker – nur noch eine ferne Erinnerung.
Ich entspanne mich.
Dann suche ich mir ein gemütliches Plätzchen am Fenster und checke die vergangenen Stunden. Zunächst sichte ich Friedrichs Material, das er in aller Eile in dem Center von einem Server downloaden konnte. Es ist viel privater Kram dabei, doch eine Nachricht sticht mir ins Auge:
Anscheinend ist mit einer Prototypen-Munition auf die „Haloran“ geschossen worden – irgendwas mit Quantentechnologie und dadurch ausgelösten Phänomen. Vielleicht erklärt das im Nachhinein die Geistererscheinungen und seltsamen Vorkommnisse.
Lyrana meldet sich als erste zu Wort:
Es folgt ein Chat, in dem es ausgiebig diskutiert wird:
Anscheinend haben sie sich dann auf den Weg gemacht. Keine Ahnung, wieso sie sich hier derart reinhängen. Erst retten sie jemanden aus freien Stücken, den sie kaum kennen, dann suchen sie die Gefahr geradezu. Ich bin gespannt, wie lange dieser Enthusiasmus anhält. Friedrich meldet sich kurz darauf, erkundigt sich nach Flugbewegungen und stellt zwei Möglichkeiten in den Raum, wie die nächsten Schritte aussehen könnten – entweder mit einem Undercover-Team, das die Zugangsberechtigung sichert, während ein zweites Team Deckung gibt oder ein Ablenkungstrupp verwickelt die Wachen in ein Gefecht, während der Rest in den Hauptkomplex eindringt.
Ich stelle mir vor, welche Überwindung es Friedrich kosten muss, solcherart Alternativen nach den Geschehnissen abzuwägen.
Lyrana scheint unterdessen weiter ganz in ihrem Element zu sein.
Hermie antwortet nach dieser Nachricht allen Ernstes, ich solle die Führung übernehmen. Vielleicht würde es mir helfen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.
„Du kannst mich echt kreuzweise“, sage ich kopfschüttelnd.
Es geht ein wenig hin und her, dann meldet sich Friedrich noch mal. Selbst wenn sie nicht viel Verstärkung ranholen, hält er es immer noch für zu gewagt. Vielleicht sollten wir das Ganze abblasen, schreibt er – keinesfalls will er, dass es noch ein Blutbad gibt.
Noch einmal ergreift Lyrana das Wort.
Ich schließe das Mobiglas.
Wer die Hitze der Küche nicht aushält, sollte kein Koch werden – heißt es nicht so? Wollen wir jetzt rausfinden, was hier vor sich geht oder nicht? Verdammt, manchmal muss man eben die Samthandschuhe ausziehen. Jetzt müssen wir den Weg zu Ende gehen. Sonst würden wir bei den Killersatelliten heute noch im Dunkeln tappen. Außerdem können wir ohnehin nicht mehr zurück: Trotz unserer Helme und Anzüge wette ich, dass unsere Identitäten garantiert bei ASD schon abgeprüft werden. Hauen wir jetzt ab, sind wir dauerhaft Freiwild – die wollen garantiert wissen, wer da ihre ganzen Leute erschossen hat. Und ich glaube nicht, dass wir die für immer im Nacken haben wollen – nicht bei ihren Mitteln. Kurzum: Jetzt müssen wir den Weg zu Ende gehen und ans Licht bringen, was auch immer uns hier erwartet.
„Jetzt nicht aufgeben, Friedrich“, sage ich leise.
Im Hintergrund dreht sich jemand zu mir um.
„Wie bitte?“
„Nichts.“
Ich stehe auf und laufe zum Ausgang.
Beim Rausgehen stoppe ich noch mal kurz am Tresen.
„Habt ihr schon mal was von ASD-Centern hier auf Pyro IV gehört“, frage ich.
Die junge Frau wechselt einen kurzen Blick mit einem Mann, wahrscheinlich ihr Freund, der direkt neben ihr steht.
„Wer nicht?!“, murmelt er.
Die junge Frau blickt mir in die Augen.
„Halt dich fern davon!“, ergänzt sie.
Ich nicke den beiden kurz zu, dann laufe ich zurück zur Wolf, starte die Maschine und hebe ab.
Am Horizont geht die Sonne auf, im Radio spielt Musik, wie sie nicht besser dazu passen könnte.
Ich wünschte, Husky wäre hier und er würde das sehen.
Irgendwie fühlt es sich wie Abschied an.
Alles in mir sagt: Bald geht es zurück nach Stanton.
Ich drücke den Schubhebel nach vorn.
Doch vorher müssen wir das Tor zur Hölle schließen.
*****
Der nächste Morgen.
Jetzt geht es ans Eingemachte – und noch sind alle mit an Bord.
Ich laufe auf Gaslight in den nächstbesten Shop, schnappe mir irgendwelche Klamotten und einen Helm, unter dem ich so gut wie nicht zu erkennen bin. Heute müssen wir in die Anlage eindringen – einen dritten Versuch bekommen wir garantiert nicht.
Die anderen sind schon auf dem Planeten. Friedrich holt mich mit seiner Origin 85x ab. Schweigend sitzen wir nebeneinander, dann landen wir neben der Cutless Red, die als Horchposten dient. Doch noch ein weiteres Schiff steht in dem geschützten Tal: Zeros „White Rabbit“. Ich weiß noch nicht, ob ich mich freuen oder weiter sauer sein soll. Wir laufen auf sein Schiff – und finden in der Messe die gesamte Mannschaft: Zero, Pike, Alaska, Hermie und Lyrana. Es wird bereits heiß diskutiert.
Lyrana erstattet Rapport – im Schichtsystem hatten sie den ASD-Posten observiert, immer wieder an- und abfliegende Schiffe beobachtet.
„Irgendwas werden sie rein und rausgebracht haben“, mutmaßt Pike.
„Bru, drüben im Schrank hängen Klamotten. Zieht die mal an.“
„Was?“
Ich blicke Zero an.
„Mach‘s einfach.“
Ich laufe in das Mannschaftsquartier und finde in einem Schrank einen weißen ASD-Wissenschafts-Anzug. Ich laufe damit zurück zu den anderen.
„Was soll das?“
„Damit kommen wir bei ASD rein“, sagt Zero.
„Ich eigne mich extrem schlecht als Lockvogel.“
Keine Ahnung, wo Zero nun wieder diesen Anzug her hat. Dann erklärt er, warum er hier ist: Er soll für Marsden Analytics auf Microtech ein Dossier über einen gewissen Dr. Logan Jorrit erstellen. Bei dem Namen klingelt etwas – dann fällt es mir ein: Ich habe ihn bereits in der „Terra Gazette“ gelesen. Er arbeitet bei ASD. Dafür soll Zero jedenfalls das Center infiltrieren. Wie immer hat Zero eine eigene Agenda.
„Ich ziehe den Anzug mal an“, sagt Hermie plötzlich.
Nach drei Minuten kehrt er zurück – und sieht aus, als hätte er auf die Seite von ASD gewechselt.
„Schick“, sage ich an ihn gewandt.
„Lasst uns los. Hier an Bord finden wir garantiert nichts raus.“
Wir schultern unsere Waffen, dann schleichen wir in der Dunkelheit wieder Richtung ASD-Facility.
„Wer soll die Führung übernehmen?“, fragt Lyrana.
Wir stehen auf einer Kuppe, direkt dahinter führt das Tal zu den im Morgendunst verborgenen Gebäuden.
„Wie wäre es mit Bru?“, sagt Hermie, der knapp hinter mir steht.
Er kann es einfach nicht lassen.
„Halt die Klappe!“, fahre ich ihn an.
Lyrana übernimmt den Job erneut. Wir teilen uns in drei Gruppen auf – Zero, Lyrana und Pike vorneweg, Alaska und ich in der Mitte, Friedrich und Hermie bilden diesmal die Nachhut. Nicht nur leuchtet Hermie mit seinem schneeweißen Anzug wie eine Zielscheibe in der Nacht, er soll als unser trojanisches Pferd später auch alle Türen öffnen. Er ist damit die Person, die es auf jeden Fall zu schützen gilt.
Lyrana dirigiert uns einmal mehr geschickt an die Forschungsanlage heran – ruhig und konzentriert. Es läuft gut und nach und nach kommen wir näher. Wir kriechen durch das Gelände, nutzen jede nur erdenkliche Möglichkeit, um uns zu verstecken. Dann sticht jedoch die Sonne hinter dem Bergkamm des Tals hervor und wirft lange Schattenlinien – der Moment, in dem die Wachen uns erspähen.
Wieder fallen Schüsse und wieder sterben Menschen.
Wir verschanzen uns zwischen Containern, Querschläger treffen uns und erneut wird es zu einem regelrechten Showdown. Wie es scheint, haben sie nach unserem ersten Infiltrationsversuch an jeder Ecke Wachen postiert und die Mannschaftsstärke erhöht. Was zum Henker wird hier nur unter allen Umständen geschützt? Was ist den Preis so vieler Leben wert? Wie beim ersten Mal gerät es außer Kontrolle. All unsere ethnischen Grundsätze gehen zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage im Feuergefecht unter – und doch nähern wir uns Schritt für Schritt dem Haupteingang der Anlage.
„Hermie ist getroffen. Er ist ohnmächtig und verblutet“, schreit Friedrich plötzlich.
„Wir müssen uns zurückziehen…“, befiehlt Lyrana.
Mein ganzer Körper versteift sich.
Nicht jetzt!
Zu lange schon haben wir es mit den Enos-Bastarden zu tun, zu lange verfolgt mich der ganze Scheiß.
„Nein…“, brülle ich im Funk, während mir die Kugeln nur so um die Ohren fliegen.
„Wir haben es gleich geschafft. Wir können jetzt nicht zurück. Noch eine Chance kriegen wir nicht.“
Ich weiß: Lyrana trifft hierzu die taktische Entscheidung, es ist einen Moment still im Funk.
Dann sagt sie knapp: „Bru hat recht. Weiter.“
Weitere Wachsoldaten sterben direkt vor unseren Füßen, endlich erreichen wir den Eingang. Friedrich schleppt Hermie unterdessen aus der Gefahrenzone. Schwer atmend stehe ich im Eingangsbereich des Hauptkomplexes. Drinnen scheint es ruhiger zu sein – meine Gedanken rasen: Was zum Henker mache hier nur? Ich bin kein Journalist mehr, ich bin Aktivist. Jemand, der zu allen Mitteln greift, um sein Ziel zu erreichen. Irgendwann werde ich über all dies gründlich nachdenken müssen – irgendwann, aber nicht jetzt.
„Hier rein“, ruft Lyrana.
Wir sind in einer Art Lobby, von der viele Räume abgehen. Alles sieht sauber aus, geradezu steril. Dann sehen wir ihn – einen lebendigen Kopion hinter Plexiglas.
Er knurrt uns böse an. Und er leuchtet.
„Himmel!“
Es ist ein Labor, in dem unheimliche Dinge geschehen. Diverse undefinierbare Gerätschaften stehen auf Tischen, Kopion-Schädel und anderes mehr. Manchen Türen sind offen, andere Türen lassen sich nur mit speziellen Keycards öffnen. In Schränken stehen experimentelle Waffen. Machen sie hier vielleicht Tier-Versuche, um die Resultate dann auf den Menschen zu übertragen? Pure Spekulation, aber vielleicht nicht ganz aus der Luft gegriffen. Warum sollte Enos sonst mit ASD kooperieren? Ich rufe mir Zeros Nachricht ins Gedächtnis.
„…Varps werden geliefert…Projekt Enos…Experimente mit Vanduul-Bioflüssigkeit gestartet…“
Varps waren Vanduul Leichen. Was, wenn ASD nicht nur Vanduul-Leichen bekommen hat? Wir wissen, dass Menschen für Enos-Experimente entführt worden waren – Marietta Abendroth zum Beispiel, Cäcelias Schwester. Und dann die Angriffe der „Frontier Fighters“, die private Schiffe kaperten. Landeten die Entführten auch in ASD-Geheimlaboren?
Offenbar ist dies aber noch nicht der Ort, an dem das stattfindet. Wir sind erst im Vorhof der Hölle.
Ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
„Da kommen weitere Wachen.“
Sie haben entdeckt, dass wir in den Komplex eingedrungen sind.
Lyrana und Pike erledigen die anstürmenden Gegner.
Friedrich stößt zu uns.
„Was ist mit Hermie?“
Er schüttelt den Kopf.
Das mit dem weißen leuchtenden Anzug war die schlechteste Idee aller Zeiten.
Eins nach dem anderen. Hermie wird bestimmt einen funktionierenden Imprint haben. Unterdessen strömen weitere Wachen in den Komplex, wir haben uns selbst in eine Falle manövriert. Immer wieder müssen wir uns den Weg freischießen. Zero sucht fieberhaft Keycards, mit denen sich weitere Türen öffnen lassen.
„Ich hab‘ eine.“
Zero öffnet die Tür zu einem geschützten Bereich. Dahinter: Waffen satt, ein Anzug, der offenbar gegen radioaktive Strahlung schützt und unendlich viel Munition. Hier wird nicht nur illegal geforscht, hier werden Angriffe vorbereitet. Wir hetzen weiter. Auf Terminals finden wir Codes, die weitere Türen öffnen. Der Komplex ist ein reines Labyrinth. Mal geht es treppauf, dann treppab, mal links, mal rechts lang. Die Übersichtskarte, die Friedrich vorher besorgt hatte – sie nutzt uns gar nichts in diesem Chaos.
Schließlich geraten wir in eine Art Serverraum, in dem eine weitere Keycard gedruckt werden kann – doch wofür? Zero aktiviert die Apparatur auf gut Glück. Ein Countdown zählt herunter. Plötzlich schrillt ein nervenzerfetzender Alarm durch den gesamten Komplex. Wir werden regelrecht überrannt. Die Übermacht wird zu stark und wir müssen uns zurückziehen – ohne den Schlüssel, von dem wir nicht wissen, wofür er ist. Ein letztes Mal schießen wir uns den Weg frei, dann lassen wir die Station hinter uns. Wir machen uns auf den Rückweg – durch eine regelrechte Schneise der Verwüstung.
Kaum sind wir an den Schiffen angekommen, kratzen wir die Kurve. Ich grübele, was wir wirklich rausgefunden haben – nicht viel. Irgendetwas Entscheidendes müssen wir übersehen haben. Ich fliege mit Zero auf seiner „White Rabbit“ mit. Ich sage ihm, dass wir mehr an einem Strang ziehen müssen, wenn wir Erfolg haben wollen und dass mich sein ständiges Kommen und Gehen nervt, doch er wiegelt brutal ab.
„Bru, ich sage dann etwas, wenn ich etwas zu sagen habe. Und ich bin, wie ich bin.“
Dann starrt er still nach draußen.
Ich blicke ebenfalls aus der Cockpitscheibe, wo sich Gaslight nähert.
Es frisst uns auf.
Unsere Freundschaften, unsere Seele, uns selbst.
Wie lange wollen wir weiter in den Abgrund schauen, nur um dort irgendwann uns selbst, unsere eigenen Urängste und unser Versagen zu erblicken?
*****.
Überdosis
Ich wälze mich stundenlang hin und her.
In was für eine Scheiße sind wir nur geraten?
Irgendwann öffne ich die Dragon-AI und lese ein wenig quer.
ASD, kurz für Associated Sciences & Development, mit Ursprung im Rhetor-System, war einst ein angesehener privatwirtschaftlicher Hersteller für Highend-Raumschiffwaffen mit Fokus auf neuartige Energiewaffentechnologien. Nach einem Vorfall, bei dem während einer Live-Vorführung auf einer Messe sechs Menschen starben, suchte das Unternehmen über die Beteiligung an der ReGen-Krise eine Rehabilitierung. Dabei überschritt ASD – unter Leitung von Dr. Logan Jorrit – aber offenbar ethische Grenzen, indem es in geheimen Laboren auf Pyro I Tierquälerei und riskante Experimente durchführte. Öffentliche Skandale, interne Whistleblower und geheime Tonaufnahmen scheinen diese Vorwürfe zu belegen.
Das hatte ich zum Teil schon in der „Terra Gazette“ und in „New United“ gelesen. Dr. Logan Jorrit – um diesen Mann scheint sich alles zu drehen. Das ist auch der Mann, den Zero erwähnt hatte. Und: Pyro I – es gibt ein weiteres Labor. Das ist unser eigentliches Ziel.
Wir sind solche Idioten.
Ich scanne die Datei weiter. Quantenverschränkung – das ist das Zauberwort bei der Regeneration. Immer wieder taucht dieser Begriff auf – eine Technologie, die tief in die Naturgesetze eingreift. Mit Staub aus Valakaar-Perlen soll die Quantenverschränkung innerhalb von Ibrahim-Sphären verbessert werden, um die Imprints so zu stabilisieren. Todesschreie von Larven sollen dafür einen so genannten Apex-Valakaar anlocken, aus dem die Perlen und der Staub gewonnen werden sollen. Offenbar werden die Tiere dafür auch irgendwie be- oder verstrahlt.
Valakaare – das sind die Würmer, die Zero so gern erlegt.
Ansonsten verstehe ich kein Wort.
Klingt aber alles eher nach Voodoo als nach ernsthafter Wissenschaft.
Und was zum Henker ist ein Apex-Valakaar?
Wir werden es rausfinden müssen.
Ich wette, um auf Pyro I in die Station zu kommen, brauchen wir die Keycard, die auf Pyro IV im Farro-Center gedruckt wird. Eine Art doppeltes Sicherheitssystem.
Mein Mobiglas piept.
Friedrich hat mir ein kurzes Videolog geschickt, in dem er die Ereignisse der vergangenen Tage Revue passieren lässt. Er zerfleischt sich geradezu selbst – nichts rechtfertige, was wir getan hätten. Alles sei zerstört, woran er geglaubt habe. Ich schüttle frustriert den Kopf – weder ist er für die Eskalation verantwortlich, noch für das Schicksal anderer Teammitglieder. Jeder ist freiwillig hier. Friedrich macht das alles einfach schon viel zu lange.
Nur: Wo zum Henker kriegen wir jetzt die Keycard her?
Ich stehe auf und schreibe den anderen eine Nachricht.
Zero meldet sich kurz, er sucht seine Balance. Pike kann ebenfalls nicht schlafen, ist übel erwischt worden und jagt sich wohl alle 20 Minuten einen Medipen rein. Ansonsten: still ruht der See.
Was für ein Elend.
Ich zieh mich an und laufe zum Admin-Office.
„Hi, ich möchte eine Nachricht nach Stanton schicken. ArcCorp.“
Der Typ hinter dem Tresen blickt mich mitleidig an.
„…aber du weißt schon, wo du bist?“
„Helfen 50.000 Credits, hier und jetzt?“
Er nickt kurz.
Ich überweise ihm das Geld und übermittle ihm die Nachricht, sodass er sie weiterleiten kann.
„Antworten direkt auf mein Mobiglas weiterleiten.“
„Geht klar.“
Ich nicke dem Typen hinter dem Tresen zu und schlendere über die Station. Preston wird sich schon melden. Er hatte mich damals bei der Recherche mit Infos regelrecht zugeschüttet. Dann wende ich meine Gedanken wieder ASD zu. Ich grübele – wie lang wird ihr Arm wohl reichen? Wissen die, wer wir sind? Stehen wir bereits auf einer Abschussliste? Haben sie vielleicht schon Killer auf uns angesetzt?
Mein Mobiglas piept erneut.
Da haben wir den Beweis.
Ich schließe das Mobiglas.
„Bru? Was machst du hier?“
Ich drehe mich um
Pike.
„…konnte nicht schlafen. Und du?“
„War eben auf der Krankenstation.“
Er sieht beschissen aus.
„Gehen wir was trinken?“
„Yep.“
Wir steuern die Bar an.
„Ich brauch was Härteres…Whisky.“
Die Tresenfrau nickt und gibt ihm seinen Drink.
„Mir auch so einen.“
Wir schütten sie auf ex runter.
Ich überlege, ob ich Pike bezüglich der neuesten Entwicklungen einweihen soll. In jedem Fall können wir ihn weiter gebrauchen, er scheint ein echt harter Knochen zu sein.
„Nehmen wir noch einen?“
„Logisch.“
Mi zwei Whisky-Cola setzen wir uns in die nächstbeste Ecke.
„…bist ein verdammt guter Schütze“, sage ich.
Ich blicke ihn durchdringend an.
„…n‘ harter Hund. Ich wette, hinter dir steckt mehr.“
Pike grinst mich an.
„Hurston Dynamics – mehr sage ich nicht.“
„Aha…war übrigens total für die Tonne, wo wir waren. Wir müssen nach Pyro I.“
Pike nickt.
„..hab auch schon in dieser komischen Dragon-AI rumgestöbert.“
„Vielleicht sollten wir aber nicht gleich alle gehen, damit‘s nicht wieder so eine Vollkatastrophe wird.“
Pike nickt erneut.
„Sprich doch mal mit Lyrana. Aber behutsam. Ich glaube, sie ist völlig runter mit den Nerven.“
„Okay.“
Pike schüttet sich den Rest seines Drinks hinter die Binde.
„Und weißt du, was wir beiden jetzt machen?“
„Was denn?“, frage ich zurück.
„Wir schießen uns mal so richtig ab. Aber nicht mit dem Zeug hier.“
Er dreht sein Glas in den Händen.
„Bei mir war ja kaum was drin. Komm mit.“
Wir stehen auf und laufen zur Krankenstation.
„Warte mal kurz hier.“
Offenbar kennt Pike den Typen am Schalter.
Er bequatscht irgendwas, dann scheint die Sache klar zu gehen.
„Folge mir!“
Wir laufen in ein leeres Krankenzimmer.
„Leg Dich hin und genieße.“
Pike fummelt irgendwas an den Apparaturen rum. Wärme durchflutet meinen Körper, dann wird es plötzlich ganz kalt, dann wieder heiß. Mein Blick verengt sich, dann weitet er sich. Es ist, als würde die gesamte Welt zu mir in den Kopf springen.
„Mehr…“
„Wie du befiehlst.“
Keine Ahnung, was er in mich reinpumpt. Wahrscheinlich irgendwelche Rest-Medikamente voriger Behandlungen. Ich stehe auf und habe das Gefühl zu fliegen.
„Da ist ja geil!“
Ich versuche, zwei Schritte geradeaus zu laufen, knalle aber seitlich irgendwo gegen eine Wand. Hinter mir steht Pike auf. Er hat sich auch den Schuss gesetzt. Ich sehe ihn fünffach, mindestens. Wir torkeln durch das Zimmer, irgendwie erreichen wir den Flur, schaffen es in den Fahrstuhl. Die Welt zerspringt pausenlos in Scherben und setzt sich wieder zusammen.
„Hammer…“
„Oder..?! Und jetzt was zu trinken.“
Ich taumle Pike hinterher, der offenbar nicht zum ersten Mal so einen Trip schiebt. Irgendwie erreichen wir die Bar. Die anderen Gäste sehen aus wie Geister.
„Alter…ich kann Auren sehen…“
Pike geht nicht drauf ein.
„Whisky, wenn‘s genehm ist.“
„D….iito.“
Ich kippe mir die Hälfte des Drinks aufs Hemd.
„..bist schwer in Ordnung, Pike.“
„Du auch. Erst habe ich gedacht, was für ein Vogel, aber jetzt…“
„Raus mit der Sprache, wer bist du?“
Pike schwankt bedrohlich. Es kann aber auch sein, dass die ganze verdammte Welt schwankt.
„..war Wächter bei Hurston Security. Hatte einen Geheimauftrag. Sollte Leute bespitzeln. Bin aber abgehauen.“
„…hab‘s gewusst. Guter Mann.“
So langsam lässt die Wirkung nach.
„Scheiße, ich kann fast schon wieder klar sehen.“
„Ich auch.“
Die Tresenfrau sieht uns hasserfüllt an.
„Ich glaub‘, hier brauchen wir uns nicht mehr blicken zu lassen.“
„Nope. Aber dreh‘ mal deinen Kopf nicht immer im Kreis. Das ist voll gruselig.“
„Ich versuch‘s. Mann, ich muss mich dringend hinlegen.“
Ich steuere den Billardtisch an und lege mich drauf.
„…noch n‘ Schuss?“
„…türlich.“
Irgendwie schaffe ich es wieder runter vom Tisch.
Wir torkeln zurück zur Krankenstation.
Der Typ an der Rezeption winkt uns wieder durch. Erneut legen wir uns auf den Tisch, wieder fühlt es sich an, als würden mir wohlige Stromstöße durch den Köper jagen.
„…lass mal woanders lang.“
Wieder kreuzen lauter Geister unseren Weg.
„Ich sehe Farben, so viele Farben….“
„Bruuuu, was steht‘n da?“
„RrrGnz.“
Wir torkeln zu den Terminals.
„Wow, voll hell hier….“
„Yo, kackhell.“
Ich schließe die Augen, dann breche ich zusammen.
Ich krauche über die Station.
Pike ist irgendwo vor mir.
„Pike, Pike…?“
„Hier….hier lang. Hier…unten isses schön warm.“
„Wo…wo bist du?“
Ich krauche weiter, dann fühle ich ein Loch.
„…a..d…da..unten…“
„Yooo…ho…komm runter.“
Der Boden gibt nach, ich falle, schlage weich auf.
„Schlafen müssen wir…schlafen…einfach…sch….“
Dann verliere ich das Restbewusstsein.
Monster-Valakaare, die uns verschlingen wollen, Wesen, die halb Mensch, halb Vanduul sind, leuchtende Kopions, die in Scharen über uns herfallen – ich schiebe eine Höllen-Paranoia…ich muss die anderen warnen, ich muss…ich muss…Hermie…wir müssen umkehren…nein…
…meine Hände gehorchen mir kaum. Ich blicke mit aufgerissenen Augen auf meine Finger, die einem anderen zu gehören scheinen. Egal, es wird schon gehen…dann tippe ich im Wahn.
Ich falle wieder in den Dreck.
Ich umarme innig einen Müllsack.
Dunkelheit umfängt mich.
Pyro, jetzt bin ich endlich ein Teil von dir.
*****
Mein Schädel brummt, als wollte er gleich explodieren. Das verdammte Piepen des Mobiglas ist so laut, als hätte ich das Ding direkt in meinem Gehirn. Ich habe den Rest der Nacht zwischen all dem Müll gelegen. Sämtliche Knochen tun mir weh. Ich blicke mich im Schneckentempo um. Pike ist verschwunden.
Mit größter Mühe fokussiere ich meinen Blick.
Ich habe Antwort von Bioticorp.
Ich öffne die Nachricht, mein ganzer Arm zittert und noch während ich sie lese, habe ich das Gefühl, mir wird der Boden wieder unter den Füßen weggezogen.
Ich sitze da und starre die gegenüberliegende Wand an.
Wasser läuft von den Wänden, als würde die Station selbst weinen.
Das kann nicht sein.
Hermie…
Was war das letzte, was ich zu ihm gesagt hatte?
Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen.
Es war auf der Kuppe, kurz bevor wir runter zur Forschungsstation sind.
„Halt die Klappe.“
Ich massiere mir die Schläfen, mein Stero-Roxa-Resu-was-weiß-ich-Turkey bringt mich um. Es fühlt sich an, als wollten meine Hirnlappen rausspringen. Alles in mir weigert sich, die Information seines endgültigen Todes zu akzeptieren.
Ich lese den Brief noch einmal, so gut es eben geht.
Ein Standardschreiben.
Was für Arschlöcher.
Hermie. Tot. Für immer.
Mit zitternden Händen öffne den an mich gerichteten Brief.
Dann starre ich wieder die Wand an, keine Ahnung wie lange.
Mein Kopf ist absolut leer.
Irgendwer steigt zu mir runter in den Dreck, setzt sich neben mich.
„Alles in Ordnung?“
Ich blicke die Person an, doch erkenne ich sie kaum.
Meine Augen brennen wir Feuer, ich habe minutenlang geheult, ohne es zu merken.
Ich wische mir über die Augen.
„Nein“, sage ich leise. „Nichts ist in Ordnung. Einfach gar nichts.“
Und kotze mir die Seele aus dem Leib.
*****
Journal-Eintrag 11 / 09 /2955
Ich wache in meinem EzHub auf. Keine Ahnung, wie ich hergekommen bin.
Mein Mobiglas piept.
Eine Nachricht von Zero.
Ich richte mich auf. Kann er es nicht wenigstens für fünf Minuten gut sein lassen? Wir werden die Welt nicht allein retten. Im Gegenteil: Je tiefer wir hineingeraten, umso hoffnungsloser sieht es aus. Mir hängen die vergangenen 48 Stunden in den Knochen. Ich schreibe Zero ein paar belanglose Worte zurück. Friedrich war unterdessen offenbar in Stanton und hat sich bei Bioticorp noch einmal bestätigen lassen, dass Hermie tatsächlich für immer von uns gegangen ist. Offenbar hat Friedrich dann eine kleine Beerdigungsfeier für Hermie organisiert. Hermies toter Körper liegt schließlich immer noch auf seinem Schiff. Friedrich möchte Hermie in die Sonne schießen, ganz so wie es früher auf der Erde die Wikinger mit ihren Toten gemacht haben, die auf ihren Schiffen auf See geschickt und dabei verbrannt wurden.
Ich strecke mich mühsam, mein Körper kämpft gegen die Nachwehen des Drogentrips.
Eine schöne Idee – wenn auch eine todtraurige.
Ich stehe auf und schleppe mich über die Station zu meiner Wolf. Wir treffen uns in einem Asteroidenfeld direkt vor der Sonne Pyros. Hermies Asgard schwebt im leeren Raum. Friedrich hat seinen toten Körper bereits in einer Koje aufgebahrt. Ich schwebe hinüber, dann stehe ich neben Pike, Alaska und Friedrich. Lyrana ist wie vom Erdboden verschluckt, Zero fehlt ebenfalls, Husky ist in Stanton.
Zunächst sagt niemand etwas.
Schließlich findet Friedrich ein paar passende Worte, Alaska, Pike und ich schließen uns an. Mir kommt unsere gemeinsame Umrundung Microtechs in den Sinn, dass Hermie immer hilfsbereit war, aber eben auch eine ungeheure Nervensäge sein konnte. In keinem Falle war er aber ein schlechter Kerl – und einer von den Guten. 30 Jahre war er nur alt geworden. Irgendwie muss er Schlimmes bereits geahnt haben – hätte er sonst schon vor Wochen Abschiedsbriefe geschrieben? Auch hatten ihn wohl Visionen geplagt. Erst jetzt wird mir klar, wie überreizt er eigentlich immer wirkte.
Dennoch: Es hätte niemals so weit kommen dürfen. In Trauer mischt sich Wut – Wut auf die Typen von ASD, die ihn auf dem Gewissen haben. Wut auch auf uns selbst – vielleicht haben wir ihm nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, ihn mit seinen Problemen auch allein gelassen.
Zu spät.
„Lasst es uns hinter uns bringen“, sage ich irgendwann.
Die anderen nicken und gemeinsam schweben wir zu einer Origin 600i, die Friedrich von der Versicherung als Leihschiff zur Verfügung gestellt wurde, bis geklärt ist, warum seine „Silver Arrow“ während der Expedition nun wirklich explodiert war.
Wir betreten die Brücke, die Asgard schwebt direkt vor uns.
Friedrich löst die Fernsteuerung aus und Hermies Asgard nimmt mit ihm an Bord Kurs auf Pyros Sonne. Schnell wird das Schiff kleiner, bis es im hellen Licht des Sterns verschwimmt und schließlich darin verschwindet.
Jeder hängt seinen Gedanken nach.
Es fallen noch ein paar schöne Worte, dann ist es vorbei.
„…auf nach Pyro I, die Arschlöcher lassen wir nicht davonkommen“, sage ich.
Ich kehre zurück auf meine Wolf – ein heftiger Sturm liegt hinter uns, einer vor uns.
„Machs gut, Buddy“, sage ich, während in meinem Rücken Pyros Sonne kleiner wird.
Ich bin ein paar Minuten ganz allein in meinem Cockpit, dann kommt Pyro I in Sicht. Ich versuche, mich auf das vor uns liegende zu konzentrieren. Nie hätte ich gedacht, dass ich auf diesen Planeten noch einmal zurückkehren würde. Gerademal so hatten es Husky und ich vor ein paar Monaten auf einer halbkaputten Aurora aus der glutheißen Hölle herausgeschafft. Nun soll hier unter dichten Wolken das große Geheimnis – mehr noch: das Schicksal der Menschheit – begraben liegen.
Die anderen stoßen vor mir unter die dichte Wolkendecke hinab, ich folge. Täuscht es oder hat die Intensität des Sturms sogar noch zugenommen? Tropfen perlen von meiner Cockpitscheibe ab.
„Wohin müssen wir eigentlich?“
„Wir fliegen die Koordinaten an, die Zero geschickt hatte.“
Ich checke mein Mobiglas.
Tatsächlich, an seiner Nachricht hingen noch Koordinaten dran. Kaum habe ich das Mobiglas geschlossen, schüttelt es die Wolf heftig durch und ich stoße mir den Kopf an. Voller Frust schlage ich auf das Armaturenbrett.
Ich höre die anderen im Funk die mittlerweile die Anlage ausgemacht haben. Wir landen in ein paar Kilometer Entfernung, laden einen Rover aus, als wir auch schon beschossen werden. Sie müssen unseren Anflug gescannt haben. Wir rennen zurück zu unseren Schiffen.
Ich springe in die Wolf und jage den Angreifern hinterher. Um mich herum tobt der Sturm. Anstatt mit den beiden Gatling-Kanonen zu schießen, die im schicken Rumpf der Wolf verbaut sind, feuere ich aus Versehen zwei Raketen ab. Das Ding steckt voller Überraschungen. Vor mir zerbricht der Angreifer in zwei Teile.
„Das war für Hermie“, murmle ich.
Ich schalte einen zweiten Feind auf.
Auch ihm jage ich eine Rakete in den Rumpf, dann werde ich jedoch plötzlich aus dem Nichts beharkt. Ich versuche ein paar Haken zu schlagen – erfolglos. Über mir schwebt ein riesiger Schatten. Die anderen sind im Funk nicht mehr zu hören. Wir sind mitten im Sturm – wahrscheinlich unterbindet er sämtliche Übertragungen. Ich jage mit der Wolf durch die Wolken, schließlich stoße ich daraus hervor.
„…wo ist Bru?!“, höre ich knisternd im Funk.
„Hier…hier…ich lebe noch…“
„Weg hier!“
Wir ziehen unsere Schiffe an den Himmel.
„Da war eine Polaris – und eine Idris“, sagt Pike atemlos.
Ich gebe Vollgas. Gegen solche Kampfschiffe haben wir die Chance eines Schneeballs in der Hölle. Irgendwann werde ich ruhiger, sie haben uns verloren. Idris, Polaris – was zum Henker beschützen sie hier nur? Das Farro-Center war schon bewacht wie einst Fort Knox auf der Erde – aber Großkampfschiffe für eine einzelne Forschungseinrichtung? Wir haben es mit einer echten paramilitärischen Macht zu tun – nicht weniger.
„Wohin jetzt?“
„Die nächste Station heißt Starlight.“
„…dann da hin.“
Nach relativ kurzem Flug erreichen wir unser Ziel. Während die anderen landen, cruise ich ein wenig um die Station und hänge meinen Gedanken nach: Alles in diesem System zerfällt zu Staub, hängt am seidenen Faden: Freundschaft, Vertrauen, das Leben selbst. Die verfallenen Stationen sind das perfekte Sinnbild dafür.
Irgendwann lande ich, die anderen sind bereits in der Bar.
Wir stoßen auf Hermie an und fragen uns, wie es nun weitergehen soll.
„Wir brauchen Hilfe. Ohne ist es aussichtslos“, sage ich irgendwann.
Ich schaue die anderen an. Wie es aussieht, wachsen wir erst durch Hermies Tod und das ganze Chaos richtig zusammen. Kurzzeitig steht im Raum, die Slaps, Friedrichs Möchtegern-Piraten, mit ins Boot zu holen. Irgendwann fällt dann aber der Name Kjeld Stormarnson und seine Tyr-Truppe.
Ich ziehe mein Bier mit ein paar großen Schlucken weg, als könnte ich so jeden Schmerz betäuben. Dann knalle ich die Flasche auf den Tisch. Slaps, Tyr, andere Kräfte – wir werden alles aufbieten müssen, was wir nur können, wollen wir ASD und ihren Handlangern das Handwerk legen.
Das Endspiel um unsere Seelen, unser Menschsein, hat begonnen.
*****
Der nächste Tag.
Das Piepen meines Mobiglas reißt mich aus meinem unruhigen Schlaf.
Die Tyr Security – Kjeld Stormarnson ist mit an Bord, Zero hat ihn also überredet. Vielleicht hat er ja auch ein paar eigene Rechnungen offen, keine Ahnung. Jedenfalls scheinen sich ein paar Optionen zu eröffnen. Ich lese die Nachricht noch einmal, dann scrolle ich im Verlauf etwas zurück. Sowohl Pike als auch Alaska schreiben von Schusswunden, die nicht richtig heilen wollen und die ein kleiner grüner Rand umgibt. Alaska ist außerdem immer wieder schwindelig und er verliert kurzzeitig die Fähigkeit, sich zu orientieren. Im ersten Moment habe ich keine Ahnung, wovon sie sprechen.
Ich checke Friedrichs Nachrichten-Download auf Farro: Darin ist von Protoyp-D23-Munitionsproben die Rede, von einem Verwechslungsrisiko. Offenbar sind wir im Farro-Center versehentlich damit beschossen worden. Um die Krankheit, die dadurch ausgelöst wird, unter Kontrolle zu halten, braucht es nun eine sogenannte Stoßtherapie. In einer weiteren Nachricht ist sogar von einer möglichen Erblindung die Rede. Und: Anscheinend sind Daten unseres Angriffs auf das Farro-Datacenter zum Hauptkomplex nach Pyro I übermittelt worden.
Vielleicht wissen sie längst, wer wir sind.
Mein Mobiglas piept erneut.
Eine weitere Nachricht von Friedrich.
Kurzum: Irgendeine experimentelle Munition hat meine Freunde vergiftet und sie sind dem Tod geweiht, falls wir nicht bald ein Gegenmittel haben. Das Risiko, einen von ihnen nach Hermie ebenfalls an die Regen-Krise zu verlieren, ist unerträglich. Offenbar hält sie nur eine extrem krasse Therapie noch am Leben. Und der grüne Rand um die Wunden? Hatte im Farro-Center nicht auch der eingesperrte Kopion grün geleuchtet? Ich wette, dass sie ihm das gleiche Zeug gespritzt hatten…
Ich wuchte mich hoch und mache mich auf den Weg. Als ich Lyrana und Friedrich gegenüberstehe, erstarre ich fast – beide sehen mindestens 30 Jahre älter aus, ihre Gesichter sind voller Flecken und schimmern grün.
„Heilige Scheiße“, entfährt es mir ungewollt.
Friedrich spritzt sich eines der benötigten Mittel. Ich versuche gute Miene zu bösem Spiel zu machen und sage Lyrana, dass sie aussieht wie ihre eigene Großmutter, doch nach Witzen ist keinem zumute.
„Okay, das ist echt übel. Wo ist Alaska?“, frage ich.
„Bleibt in der Koje. Ihm geht’s richtig dreckig“, antwortet Friedrich.
„Verflucht noch eins – und das Gegenmittel gibt’s wirklich nur in diesem Lazarus-Komplex?“
„So steht es in den Dateien“, erwidert Friedrich und ringt sich ein Lächeln ab.
„…dann sollten wir da schleunigst hin.“
„Ich habe bereits hitzebeständige Anzüge besorgt.“
Pike zieht unterdessen ein paar Rust weg.
„Pike, hey – wir brauchen dich noch bei Sinnen.“
Wir wissen, so angeschlagen und nur zu viert, werden wir kaum beziehungsweise gar nichts ausrichten können – aber irgendwas müssen wir tun. Keiner von uns kann angesichts dieser höllischen Erkrankung still sitzen. Wir laufen zu Friedrichs Leih-600i. Wir quälen uns in dicke, glänzende Raumanzüge – doch die Enttäuschung folgt auf dem Fuße: Bei keinem der Anzüge lässt sich der Helm dicht abschließen.
„Wo hast du die Anzüge her?“, fragt Pike.
„Einem Händler auf Gaslight abgekauft.“
„Der hat dir totalen Schrott angedreht.“
Mann, wenn es schon schiefläuft, dann richtig. Uns läuft die Zeit davon.
Friedrich und Lyrana setzen sich den nächsten Schuss.
„Auf Checkmate soll es auch Anzüge geben, die man nehmen könnte, sind aber wohl Strahlenanzüge“, sagt Pike.
Ich blicke Friedrich und Lyrana an. Im hellen Neonlicht der Origin 600i sehen sie gleich noch einmal viel kränker aus.
„Okay, dann hin, einkaufen und ab nach Pyro I. Vielleicht haben wir ja Glück und niemand ist da.“
Jetzt hilft nur noch Galgenhumor.
Während des Fluges sagt niemand etwas. Man merkt, wie die Krankheit an Lyrana und Friedrich zehrt. Während des Anflugs auf die Station blicke ich aus der Eignerkabine hinaus auf die Station. Hat mich früher die Ankunft an einer Raumstation immer auch mit Freude erfüllt und ein Gefühl des Ankommens erzeugt, so stimmt mich der Anblick der ehemals stolzen Bergbaustation nur noch traurig und ist schlicht deprimierend. Wir sind nicht nur mit unseren Kräften am Ende, wir sind auch emotional völlig ausgelaugt.
Direkt nach der Landung steuern wir die versiffte Ecke an, die sich Shopping-Meile schimpft, kaufen die Anzüge und kehren sofort zurück aufs Schiff. Die glänzende 600i in dem verfallenen Hangar – größer könnte der Kontrast kaum sein. Friedrich bringt das Schiff wieder in die Luft, als mein Mobiglas piept.
Zero.
Friedrich ändert den Kurs.
Wir treffen uns wieder in der Bar.
Lyrana traut dem Braten nicht und will, dass wir uns taktisch postieren. Das grenzt schon fast an Paranoia.
„Für Zero lege ich meine Hand ins Feuer“, sage ich genervt.
Ich tue ihr dennoch den Gefallen, dann taucht Zero auch schon auf – und ich traue meinen Augen nicht: Im Schlepptau hat er Kjeld Stormarnson.
„Wir habend die Keycard…“
Im ersten Moment meine ich, mich verhört zu haben. Dann wird mir klar: Das war mit dem Blumentopf gemeint. Sie haben das Farro-Center ein weiteres Mal gestürmt und tatsächlich die für den Lazarus-Komplex benötigte Zugangskarte besorgt – sogar mit Backup.
„Mann“, stoße ich hervor, „ihr kommt uns gerade recht.“
Stormarnson lächelt.
„Schön, dich zu sehen, Bru.“
Das letzte Mal hatten wir uns auf der Polaris beim Kampf gegen das Schiff der Frontier Fighters getroffen. Für einen Moment habe ich das Gefühl, die ganze Sache könnte doch ein gutes Ende nehmen.
„Mit den richtige Leuten, kein Problem“, sagt Zero.
Offenbar konnten sie im Vorfeld einem ASD-Sicherheitsmitarbeiter ein paar entscheidende Informationen über interne Abläufe und Sicherheitsstrukturen entlocken. Selbst der ausgelöste Großalarm beim Drucken der Keycard war für sie kein Problem
„Wir sind da rein und wieder raus“, sagt Zero.
Mir fällt echt ein Stein vom Herzen. Bringt Tyrs Söldnertruppe nun die Wende? Hinter Kjeld und Zero steht ein Söldner, der offenbar zu Kjeld gehört und eine mir unbekannte Frau.
„Und wer ist das?“
„Niki Tomoe Tricker“, sagt Kjeld.
„Ich bin von den Raumnotrettern“, antwortet sie selbstbewusst.
„…wir kennen uns gut“, sagt Kjeld.
„Ich habe im Pyro die Hercules von Mr. Sedealeare geborgen. Das können sie ihm gern ausrichten.“
„Okay.“
„…und ich habe ein nagelneues Medibett an Bord meiner Carrack, das Ihnen vielleicht besser helfen kann, als die alten Betten auf den Stationen.“
Ich kann unser Glück kaum fassen.
Ich wende mich Lyrana und Friedrich zu.
„Habt ihr gehört…“
Beide schwanken bedrohlich. So schnell es ihre Verfassung zulässt, machen wir uns auf den Weg zu Trickers Schiff. Nach sehr langer Zeit betrete ich mal wieder eine Carrack. Im Schiff warten Personen mit Schutzanzügen.
„Sehr weise“, denke ich bei mir.
Wir wissen im Grunde nicht, ob die Krankheit vielleicht ansteckend ist, wirklich Zeit und Muße, darüber nachzudenken, hatten wir bisher aber auch nicht. Friedrich wird als erstes behandelt, wir machen im Mannschaftsraum ein wenig Smalltalk. Als Friedrich zurückkehrt, sieht er schon wesentlich besser aus, wenn auch nicht geheilt. Noch immer schimmert seine Haut im Gesicht grünlich. Aber aus seinen Augen ist der grünliche Glanz immerhin verschwunden. Anschließend ist Lyrana dran. Das sollte uns ein wenig Zeit verschaffen.
„Bei Lazarus ist wohl eine Reclaimer abgestürzt. Soweit wir wissen, war da wohl Marietta Abendroth an Bord“, erzählt Kjeld, während wir weiter warten. Die Abendroth-Familie. Die Enos-Hintermänner hatten doch ständig Menschen nach Pyro verschleppt für schreckliche Experimente – war es nicht so?
Der Kreis schließt sich.
Die Seele Pyros
Meine Augen brennen und mich juckt’s am ganzen Körper – hat mich die verdammte Krankheit jetzt auch erwischt? Ich blicke in den Spiegel – nichts zu sehen. Noch nicht. Mein Mobiglas piept – die neueste Ausgabe der „New United“ ist im Postfach.
Ein größenwahnsinniges Startup will die gröbsten Fehler beim Terraforming beheben. Apokalyptiker demonstrieren auf Terra Prima für ein vollständiges Verbot der Regeneration, weil es eine unbekannte Alien-Technologie ist. Und RSI hat mit der „Apollo“ ein medizinisches Raumschiff auf den Markt gebracht, aber kaum einer will sich als Medic verdingen. Nun suchen sie händeringend Leute.
Es ist ein Wunder, dass es die Menschheit im Weltraum überhaupt so weit gebracht hat.
Ich stehe auf und will mir in meinem Inventar ein paar bequeme Sachen zum Anziehen suchen – und stutze. Mein Inventar ist leer. Alles weg. Ich drücke mehrfach verschiedene Knöpfe – doch es bleibt dabei. Das einzige, was noch verfügbar ist, ist ein grauer Undersuit. Das kann nicht wahr sein.
Mein Mobiglas piept erneut.
Pike.
Richtig, Pike hatte unter der Station eine verlassene Mako gefunden und diese repariert. Scheint echt ein Tausendsassa zu sein. Ich schreibe ihm kurz zurück, dass wir gleich darüber reden können. Wir treffen uns am Admin-Office. Ich ziehe mir den fremden Undersuit an, der wenigstens zwei Nummern zu klein ist und mache mich auf den Weg.
Hinter dem Tresen tippt ein Typ gelangweilt auf einer Konsole.
„Meine gesamten Sachen sind weg“, sage ich.
„Hm?“
Er blickt nicht mal auf.
„Ich habe gesagt, meine ganzen Sachen sind weg. Waffen, Klamotten, alles.“
Der Typ hebt gelangweilt den Kopf.
„Und? Das ist Pyro.“
Ich kann meine Wut kaum zügeln.
„Mann, ich meine auf dieser Scheißstation. Es war alles eingelagert. Ich habe geschlafen und….“
„Moment,….Name?“
„John Brubacker.“
Der Typ tippt weiter auf seiner Konsole.
„Yep…ah…hier…hat wohl eine Verwechslung gegeben.“
„Was?“
„Ja, eine Namensverwechslung…irgendwas mit …decker am Ende.“
Er wischt mit seinen Fingern über den dreckigen Bildschirm.
„Wie es aussieht, sind deine Sachen in Stanton.“
„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“
„Sorry, mehr kann ich nicht tun.“
„Ihr seid hier alle total bescheuert“, entfährt es mir.
„Ich kann gleich mal ein paar Kumpel von mir holen, wenn du willst“, antwortet der Typ kalt und blickt mich sauer an.
Ich atme tief durch.
In diesem Moment tauchen Pike und Friedrich auf.
„Alles klar?“
„Nichts ist klar“, antworte ich und schildere ihnen, was passiert ist.
Friedrich sieht immer noch krank aus. Lyrana fesselt es wie Alaska mittlerweile ans Bett. Verflucht, wir brauchen dringend das Gegenmittel. Wir laufen in den nächstbesten Laden, besorgen wenigstens eine Waffe und ein paar Medipens. Dann marschieren wir in Pikes Hangar, wo die Mako bereits auf uns wartet. Friedrich holt aus seinem Inventar ein paar Sterling-Strahlenschutzanzüge. Gemeinsam wollen wir uns noch einmal unter dem Radar dem Lazarus-Komplex nähern – ohne die Hühner aufzuscheuchen. Vielleicht finden wir ja bereits etwas raus, was uns bei unserem Großangriff noch nützen könnte.
Kjeld pingt uns an, wir schreiben ihm simultan zurück.
Ich lese Friedrichs Nachricht – hat er die Slaps also doch angeschrieben. Gut, wir nehmen jede Hilfe, die wir kriegen können. Es ist schließlich egal, wer uns den Rücken freihält.
In den fetten Anzügen können wir uns kaum bewegen – erst recht nicht in einer engen Mako. Da müssen wir nun durch, Hauptsache wir bleiben unentdeckt. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sich Pike unter seinem Anzug einen abbricht, um an die Konsolen zu kommen. Dennoch bringt er uns gekonnt aus dem Hangar – dann sind wir auch schon im Quantumflug und nach ein paar Minuten verschluckt uns einmal mehr der gewaltige Sturm Pyros.
Pike jagt so flach es nur geht über das Gelände dahin, mit kleinsten Fingerbewegungen trotz der fetten Handschuhe lässt er das Schiff über die Berge und Felsen tänzeln – ein Konturenflug wie aus dem Bilderbuch. Er überrascht mich immer wieder neu. Draußen regnet es unterdessen in Strömen, unter uns glänzt das schwarze Gestein. Mehrfach glaube ich, in der Ferne Siedlungen auszumachen, aber es sind nur Spiegelungen und Sinnestäuschungen.
„Ich habe alles runtergefahren, was geht“, sagt Pike. „Unser Radius liegt bei unter sechs Kilometern.“
Friedrich sitzt hinter uns. Das pausenlos abgehackte Auf und Ab und das Rütteln des Schiffes macht ihm sichtlich zu schaffen. Er sieht kreidebleich aus, mehr tot als lebendig.
„Wir landen jetzt hier. Den Rest gehen wir zu Fuß.“
Ich nicke und wuchte mich aus dem Sitz hoch, kaum dass Pike gelandet ist.
Friedrich ist im Funk nur sehr leise zu hören. Mehrfach tippt er sich an den Helm. Irgendwas stimmt bei ihm nicht. Wir kämpfen uns durch den Gegenwind und durch den strömenden Regen über den Planeten. Jeder Schritt erfordert eine Kraftanstrengung.
„Wie weit noch?“, frage ich irgendwann, nachdem wir unzählige Hügel erklommen haben.
Pike peilt die Entfernung.
„Gut einen halben Kilometer haben wir hinter uns.“
„Das schaffen wir nie.“
„Ich kehre zum Schiff zurück und hole euch.“
Friedrich und ich lassen uns auf einem Berghang nieder und blicken in den regenverhangenen, düsteren Himmel. Friedrich atmet schwer.
„Alles in Ordnung?“
Er nickt knapp.
Pike taucht mit seinem Schiff über uns auf. Noch sind wir offenbar nicht entdeckt worden und Pike nimmt uns wieder an Bord. Vorsichtig nähern wir uns weiter den Koordinaten, an denen wir beim letzten Mal den Lazarus-Komplex gefunden hatten. Schließlich sehen wir künstliche Bauten – eine Art Hochspannungsmast.
„Probieren wir es hier noch mal.“
Ein zweites Mal machen wir uns auf den Weg – ich sehe kaum etwas in meinem Anzug. Mal leuchten wir mit den Helmlampen den Weg aus, dann laufen wir wieder in absoluter Dunkelheit. Es fühlt sich an, als würde ich mein eigenes Raumschiff mit mir rumschleppen und als hätte uns die Finsternis verschluckt. Mal ist die Ebene ganz flach, dann wieder mit Geröll übersät. Mal kommen wir flott voran, mal müssen wir ein ums andere Mal riesigen Gesteinsbrocken ausweichen; wir klettern und rutschen Abhänge hinunter.
Mir fällt das Atmen immer schwerer. Ich blicke auf meine Hitzeanzeige. Meine Körpertemperatur steigt kontinuierlich an, außerhalb des Anzugs herrschen 220 Grad Celsius. Wir stolpern durch einen planetaren Backofen. Irgendwann erreichen wir den seltsamen Mast – und haben keine Ahnung, was das sein soll. An seinem oberen Ende wabert ein elektromagnetisches Feld.
„Wofür ist das da wohl?“
„Keine Ahnung,“
Der Schweiß läuft mir von der Stirn und tropft mir in die Augen.
Pyro I ist die Hölle auf Erden.
„Wie ist eure Temperatur?“, erkundigt sich Friedrich kaum hörbar.
„39 Grad Celsius und steigend“, antwortet Pike.
„Wir müssen zurück zum Schiff. Sofort.“
Ich blicke mich noch einmal kurz um – in der Ferne leuchten unheimlich die roten Lichter des Lazarus-Komplexes. Was werden wir dort finden? Werden dort tatsächlich Menschen für die Unsterblichkeit gentechnisch manipuliert? Werden Monster geschaffen? Oder geschieht dort ganz was anderes?
Trotz der Hitze in meinem Anzug fröstelt es mich.
Bald werden wir es wissen.
„Bru, beeil dich! Wir haben keine Zeit mehr.“
„Ich komme.“
Ich stolpere den anderen hinterher.
Ich kriege kaum noch Luft.
Ich höre wie Friedrich das Schiff erreicht, aber noch auf der Rampe zusammenbricht. Pike ist direkt hinter ihm und zieht ihn ins Schiff. Vor meinen Augen tanzen tausende Farben.
Mein Körper überhitzt endgültig. Ich setze noch zwei, drei Schritte, dann breche auch ich zusammen.
Pike bringt mich mit einer Medigun wieder auf die Beine.
Ich laufe ein paar Schritte – aber offenbar in die falsche Richtung.
„Bru, nein, hier lang“, höre ich Pike undeutlich aber fordernd.
Auch er klingt sehr schwach.
Mit geschlossenen Augen wanke ich ihm hinterher.
Dann verliere ich wieder das Bewusstsein.
Ich spüre, wie ich angehoben werde – offenbar zieht er mich mit einem Multitool den restlichen Weg zum Schiff. Ich versuche etwas zu sagen, aber es gelingt mir nicht. Meine Zunge klebt an meinem Gaumen.
Kaum bin ich im Schiff, komme ich wieder halbwegs zu mir.
„Leg dich ins Bett.“
Ich reiße mir den Helm vom Kopf und ziehe mich mit letzter Kraft in die Koje. Ich keuche mir die Lunge aus dem Leib. Friedrich sitzt auf dem Stuhl der Konsole und gibt keinen Mucks von sich.
„Ich brauche sofort ein Medibett.“
„Sind unterwegs“, antwortet Pike leise aus dem Cockpit.
Ich pelle mich aus dem verdammten Stirling-Anzug, der von außen fast glüht. Wie sind bei lebendigem Leib gekocht worden. Irgendwann erreicht Pike die Station. Kaum ist er gelandet, schleppe ich mich nackt zur Krankenstation.
Ich ernte ein paar belustigte Blicke, aber das ist mir egal. Dann lasse ich mich auf das Medibett fallen und hoffe nur noch, dass Kjeld einen ausgereiften Plan hat, sonst können wir das Ganze vergessen.
*****
Der nächste Morgen.
Ich wache auf und fühle sofort eine gewisse Anspannung in meinem Körper.
Heute ist der große Tag.
Heute geht es in das Auge des Sturms.
Der Hitzestau in meinem Körper hat sich abgebaut. An der seltsamen Krankheit, die Friedrich, Alaska und Lyrana erwischt hat, bin ich jedenfalls nicht erkrankt. Ich blicke mich in dem kleinen EzHab um. Es ist so eklig und abtörnend wie am ersten Tag unserer Ankunft in Pyro. Bald, sehr bald, werde ich das alles endlich hinter mir lassen.
Ich blicke auf die Karte des geheimen Komplexes, die Friedrich dem ASD-Mitarbeiter gestohlen hatte und versuche, sie mir so gut es geht einzuprägen. Dann checke ich mein Inventar – selbst der fremde Undersuit ist mittlerweile weg. Ich verlasse das Hab, drehe mich nicht mehr um und laufe nackt über Starlight. Auf der Station ist der Teufel los, es geht zu wie im Bienenstock.
Keine Ahnung, was hier plötzlich los ist. Die seltsamen Blicke der anderen ignoriere ich und treffe Zero, Alaska, Friedrich und Pike am Fahrstuhl. Zero schüttelt nur stumm den Kopf, als er mich in Unterhose sieht. Alaska sieht grauenhaft aus – fast noch schlimmer als Friedrich und Lyrana. Wenigstens hält er sich wieder auf den Beinen.
Ich blicke zu Zero.
„Ja, ja, ich weiß“, sage ich halb genervt, halb belustigt.
„Lasst uns einfach in den Hangar und ich ziehe mir gleich den Stirling an.“
Gemeinsam laufen wir in Friedrichs Privat-Hangar und ich streife mir einmal mehr den Anzug über, der zwar vor Hitze und Strahlung schützen soll, aber in dem man sich auch fühlt, als würde man in einem Kochtopf stecken. Pike war fleißig und hat unterdessen alle möglichen Ausrüstungssachen besorgt – Waffen, Magazine, Oxy- und Medpens.
„Du bist heute unser Packesel“, sage ich zu ihm.
Wir grinsen uns an – es wird schon schief gehen.
Wir können dringend ein wenig Zuversicht gebrauchen.
Kjeld meldet sich – er ist bereits voll im Stress. Er hatte im Vorfeld noch eine detaillierte Einsatzbesprechung geschickt, in der von verschiedenen Teams die Rede war – Alpha, Bravo, Luftraumsicherung…alles nur, um uns fünf zu schützen. Was für ein gigantischer Aufwand. Wir laufen um ein paar Ecken, dann treffe ich zum ersten Mal auf die Slaps – Typen mit gefärbten Haaren, Irokesen-Frisuren und schlecht sitzenden Klamotten.
„Casey, alles klar? Wir beschützen euch heute“, sagt der offensichtliche Anführer Ace.
Wir laufen weiter zu einer Polaris, die der Tyr Security gehört. Kjeld ist bereits an Bord, wir sammeln uns in der Messe. Mit uns und den Slaps stehen noch lauter uns unbekannte Personen in dem nüchtern gehaltenen Mannschaftsraum. Pike und ich lassen uns auf einer Bank fallen, die Slaps besetzen zu sechst einen ganzen Tisch.
„Weißt du, wer die alle sind?“, fragt Pike.
„Keine Ahnung“, antworte ich leise.
Besser nicht groß auffallen. Irgendwie hat Kjeld alles angekarrt, was eine Waffe tragen kann.
Egal, uns soll es recht sein.
Ich laufe zu den Slaps und rufe mir in Erinnerung, dass Friedrich für sie immer noch Casey Colder ist und sie seine wahre Identität nicht kennen. Wir machen ein wenig Smalltalk, während wir spüren, wie das Schiff seine mächtigen Triebwerke zündet und sich von Starlight löst.
„Casey ist einfach ein cooler Typ und da muss man helfen“, sagt Ace.
Wir mustern uns gegenseitig.
„…und wer bist du, was machst du so?“
Er blickt mich auffordernd an.
Ich druckse herum. Keinesfalls will ich ihm stecken, dass ich als Journalist arbeite. Immerhin sind die Slaps Kriminelle mit lockerem Zeigefinger. Neugierige Reporter stehen garantiert nicht auf ihrer Freundesliste.
„Dies und das. Das Übliche, um über die Runden zu kommen.“
Ich checke die anderen ab – was für Gestalten. Mir ist schleierhaft, wie sich Friedrich mit denen einlassen konnte. Ich bedeute ihm, mit mir kurz vor die Tür zu gehen. Kaum hat sich das Schott geschlossen, bricht es aus mir heraus.
„Diese Typen sollen uns auf Lazarus sichern? Das kann nicht dein Ernst sein…“
„John…“
Ich suche nach den richtigen Worten, doch wollen sie mir nicht einfallen.
„Hinter ihnen steckt mehr als….“
Beinahe geschockt kehre ich in die Messe zurück und hoffe, dass der gemeinsame Feind ausreicht, halbwegs friedlich miteinander auszukommen. Ich führe mir mit schmerzhaften Verrenkungen in dem Ungetüm von Anzug ein bisschen Flüssigkeit zu, dann heißt es über das Schiffsintercom, dass wir bald da seien. Vom Austritt aus dem Quantumflug, dem Eintritt in die Atmosphäre von Pyro I oder dem tosenden Sturm rings um uns herum auf der Oberfläche haben wir nichts mitbekommen – das gigantische Schiff schluckt sämtliche Widrigkeiten weg.
„Machen wir uns auf den Weg“, sagt Friedrich und wir marschieren in den riesigen Hangar.
Wir sind bereits gelandet und die Rampe ist heruntergelassen. Draußen fallen irgendwo Schüsse. Die Slaps nehmen uns in ihre Mitte, dann sind wir auch schon unterwegs. Wie bei unserem ersten Besuch herrschen wieder monströse 220 Grad Celsius – dann sehen wir erste Leichen, ASD-Soldaten, die von irgendwem bereits ausgeschaltet wurden. Heißer Regen prasselt auf uns nieder, am Horizont zucken Blitze. Doch wo wir gelandet sind, ist nicht viel mehr als eine Shuttlestation – Lazarus und ASD machen es echt verdammt spannend.
Friedrich, Zero, Pike, Alaska und ich sichern uns ebenfalls mit unseren Waffen im Anschlag, doch die Gefahr scheint zumindest hier bereits gebannt zu sein. Die Slaps bilden um uns einen Ring, ich versuche mich ein wenig zu entspannen. Vielleicht wird es ja diesmal gar nicht so schlimm.
„Das nächste Shuttle nehmen wir“, sagt Ace.
Für ein paar Minuten sagt danach niemand etwas, jeder ahnt: Jetzt erst geht es wirklich in das Herz der Finsternis. Ich blicke mich um. Schilder warnen vor Radioaktivität, auf einem steht, dass Gewalt gegen Eindringlinge erlaubt sei. Wenn das keine Bände spricht, was dann? Momente später trifft das Shuttle ein und wir wissen, wofür die Masten sind, die wir gestern entdeckt hatten: Sie sind Beschleuniger, die das Shuttle auf ein schwindelerregendes Tempo bringen. Wir lassen uns in die Sitze fallen, jagen durch die Nacht ins Unbekannte.
Als wir aussteigen, traue ich meinen Augen und Ohren nicht: Auch am Hauptkomplex herrscht beinahe so etwas wie Friedhofsruhe. Kjelds Truppen haben den Weg frei geräumt. Tote Kopions liegen vor dem Eingang. Schnell, aber nicht in Panik, infiltrieren wir das Gebäude – irgendwo fallen noch ein paar Schüsse, aber es ist kein Vergleich zu dem, was wir bereits erlebt haben.
Zero und Kjeld haben nicht zu viel versprochen.
„Hier geht’s rein, Bru.“
Friedrich und Zero haben das Gebäude bereits betreten, Pike, Alaska und ich folgen. Direkt hinter einer Ecke liegt bereits unser Ziel: Dr. Jorrits Büro. Wenn wir irgendwo entscheidende Informationen finden, dann hier. Pike öffnet die Tür, dann stehen wir auch schon vor einem profanen Schreibtisch samt Computer und Bildschirm, der überall stehen könnte. In einem Regal lehnt ein Bild, auf dem ASD-Chefwissenschaftler Dr. Jorrit einer offenbar verdienten Mitarbeiterin lächelnd die Hand schüttelt. Er sieht ganz sympathisch aus und nicht wie das Monster, für das ihn alle Welt hält. Dazu gibt es ein paar Exemplare von Kopionschädeln und ein Periodensystem an der Wand.
Fast bin ich ein wenig enttäuscht.
Aber so banal kann das Böse eben sein.
„Schau mal hier, in der Ecke – dieser Schädel, der sieht anders aus…“
Ich gehe rüber zu Zero.
„Könnte von einem Vanduul sein.“
Alles in mir versteift sich schlagartig.
Ich blicke mehrere Sekunden den Schädel an, als würde er gleich zu mir sprechen wollen…
Friedrich bringt mich wieder ins Hier und Jetzt.
„Bru…hier ist eine Audionachricht, ein persönlicher Journaleintrag von Jorrit.“
Friedrich spielt sie ab.
Von Energiesignaturen ist die Rede und wie stark sie sind. Und dass Jorrits Theorie korrekt sein könnte, mit Hilfe bestimmter Valakkar-Perlen die Ibrahimsphäre zu stabilisieren um die Regen-Krise so in den Griff zu bekommen.
Wir blicken uns gegenseitig an. Das wissen wir schon. Das kann es noch nicht gewesen sein.
„Auf dem Rechner sind lauter Daten, lade sie jetzt herunter“, sagt Zero.
Keine Ahnung, wie er das immer macht – aber offenbar kann er sich überall reinhacken. In diesem Moment sind seine halblegalen Künste jedenfalls von unschätzbarem Wert. Ich gehe jede Wette ein, dass wir in dem Download viele Antworten auf unsere Fragen finden werden.
„Fertig“, meldet Zero.
„Lasst uns schnell weiter, Auswertung später“, sagt Friedrich.
Unter dem Schutz der Slaps schleichen wir weiter durch das Gebäude, dann erreichen wir eine Tür, die anders aussieht als andere und hinter der etwas Spezielles zu sein scheint. Einmal mehr machen sich Zeros Fähigkeiten bezahlt. Dann sind wir in einem Raum, der sich von den bisher gesehenen drastisch unterscheidet. Auf einem Tisch liegen sezierte Baby-Valakaare, an den Wänden hängen seltsame Anweisungen – und mitten im Raum prangt ein fremdartiges Alien-Ei hinter Glas, in dem sich etwas bewegt.
„Scheiße, was ist das?“
Wir versammeln uns um das Ei.
„Jede Wette, dass sich darum alles dreht“, sage ich.
Zero zückt die Keycard, die er im Farro-Center besorgt hat.
„Gleich werden wir es wissen.“
Zero steckt die gestohlene Keycard in einen Schlitz – eine spontane Eingebung. Für Jorrits Büro hatten wir sie jedenfalls nicht gebraucht. Nur eine Sekunde später zerreißt – wie im Farro-Center – ein extrem lauter Alarm die Stille. Ich blicke mich hektisch um. Außerhalb des Raums geht ein Feuergefecht los. Der Glaskasten bleibt indes geschlossen.
Meine Gedanken rasen. Was zum Henker ist das nur für ein Ei?
„Zero, passiert da irgendwas?“
„Nein…doch… jetzt…da zählt irgendwas rauf…50 Prozent…60 Prozent…80 Prozent…“
Ich fokussiere meinen Blick und studiere die Tafeln mit den Anweisungen. Man soll das Ei in eine Art Turm außerhalb des Komplexes legen…auf einer Abbildung ist ein Valakaar zu sehen und dann…
„…95 Prozent….“
Schlagartig fällt es mir wieder ein: Man soll eine Perle von einem Valakkar besorgen, aus deren Pulver dann eine Mittel für die ReGen-Krise extrahiert wird….wie auch immer das funktionieren soll…
„…98 Prozent….es öffnet sich.“
Zero nimmt das Ei vorsichtig aus dem Sicherungskasten.
Sofort schlägt der in den Sterling-Anzug eingebaute Geigerzähler an.
„Mist, das Ding ist radioaktiv. Bru..hier…du bist besser geschützt.“
Mit zwei Schritten ist Zero bei mir und drückt mir das Alien-Ei in die Hand.
„…da kommen riesige Raumschiffe. Wir müssen sofort los“, brüllt Ace plötzlich.
Wir haben die Wachhunde geweckt. Jetzt kommen sie mit allem, was sie haben.
„Wir müssen hier weg. Sofort!“
Ace‘ Stimme überschlägt sich fast.
Ich stehe mit dem Ei in der Mitte des Raums wie erstarrt, doch meine Gedanken fliegen.
Ruhig, Bru.
Ich bin jetzt im Auge des Sturms.
Dann weiß ich, was wir tun müssen – wir müssen das Ei draußen in den Turm legen. Und zwar unbedingt und ohne Alternative. Sonst war alles umsonst. Sonst werden wir nicht bis zum Kern vordringen, sonst wird sich das Geheimnis nicht offenbaren. Jorrits Aufzeichnungen werden uns nicht alles verraten. 15 Minuten haben wir dafür laut Tafel Zeit, danach zerstört sich das Ei von selbst.
Wir müssen den Weg zu Ende gehen.
Ace brüllt mich an, aber innerlich bin ich ganz weit weg.
„Wir müssen zum Turm“, sagte ich ruhig und bestimmt.
„Was…? Nein…“
„Doch, wir müssen zum Turm“, beharre ich.
Ace blickt mich fassungslos an.
„Gut…dann hier entlang.“
Wir rennen kreuz und quer irgendwelche Gänge hinunter, Erst Zero hinterher, dann Ace. Ich presse das Ei wie einen Schatz an mich, dann erreichen wir das Äußere des Gebäudes. Im Innern des Eis schwappt die Flüssigkeit mit Mini-Valakkaren umher. Im Funk geht es wild durcheinander. Vor mir liegt ein langer Steg, in der Ferne steht ein riesiger Turm…das muss es sein…
„Schneller Bru, schneller!“, ruft Zero hinter mir.
Die Hitze in meinem Anzug explodiert. Täuscht es, oder bin ich eben an Ray Keaton und Cäcelia Abendroth vorbeigerannt? Meine Sinne sind mittlerweile total überreizt. Ich komme mir vor wie der Quarterback bei einem Homerun. Alles hängt jetzt von mir ab, alles ist auf diesen Punkt konzentriert. Ich schreie und renne. Schließlich erreiche ich den Turm. Mir wird fast schwarz vor Augen. Eine Klappe öffnet sich und ich versuche, das Ei hinein zu bugsieren, was auch immer dann geschehen mag.
Es klemmt.
Ich stöhne, probiere es ein zweites Mal.
Der Regen nimmt mir komplett die Sicht.
Wieder nichts.
Hinter mir wird irgendwo geschossen.
„Rein mit dem Ding!“, kreischt Ace über Funk.
Friedrich und Pike kommen hinter mir an, beide kurz vor dem Kollaps.
„Ich probier es“, sagt Friedrich völlig atemlos.
Friedrich nimmt mir das Ei aus den Händen, atmet tief durch, dreht es ruhig um die Hochachse, dann liegt er es vorsichtig in eine Mulde und um uns herum blitzt es, der Turm erwacht zum Leben. Der Boden bebt und irgendwas brüllt, als wäre das Tor zur Hölle geöffnet worden. Keine zehn Meter vor uns bricht ein riesiger Valakkar aus der Erde. Zero steht versteinert neben mir und halluziniert vom „heiligen Valakkar und dem Propheten von Pyro.“
Dann erreicht uns eine Druckwelle und mir stockt kurzzeitig der Atem.
„Brubacker, Zero, zurück – sofort! Wir müssen hier weg….“
Ace brüllt aus Leibeskräften. Doch wie Zero kann ich meinen Blick in einer Mischung aus Angst und Faszination nicht von dem Monster wenden. Blitze umfangen es und es spuckt grüne Lava.
Es ist wunderschön – und gleichzeitig absolut furchterregend.
Die Seele Pyros.
Am Himmel erscheinen fremde Raumschiffe.
„Was ist das hier für eine kranke Scheiße?“
Ace scheint völlig durchzudrehen.
„Weg hier! Weg hier! Weg hier!““
Ich komme wieder zu Sinnen und laufe los – doch habe ich die Orientierung verloren.
„Rückzug, Rückzug!“
Irgendwann sehe ich die anderen, die nahe dem Gebäude das Spektakel beobachten. Ich stolpere zu ihnen, komplett in Schweiß und Adrenalin aufgelöst.
Ace rüttelt an mir.
„Wir werden angegriffen…die Polaris ist zerstört, sie kommen mit vier, fünf Idris. Wir müssen hier weg. Sofort!“
Friedrich springt ihm bei, doch alles in mir weigert sich und ich fahre ihn hart an: „Wir sind zu keinem gemütlichen Plausch hier. Wir müssen alle Informationen rausholen, die wir kriegen können. Jeder wusste, worauf er sich einlässt.“
Die Sätze kommen mir nur gepresst über die Lippen. Ace nickt, vielleicht gibt er aber auch einfach nur auf. Wir rennen erneut durch den Komplex, es herrscht pures Chaos. Das Brüllen des Monster-Valakkars lässt die Fundamente des Gebäudes erzittern und pflanzt sich durch Gänge als Echo vielfach fort. Es ist ein unfassbarer Lärm, der nicht von dieser Welt ist.
„Die Feinde sind in der Übermacht“, schreit Ace.
Seine coole Fassade hat sich in Nichts aufgelöst, ihm ist nackte Panik ist Gesicht geschrieben. Irgendwann halten wir inne, auch wenn die Situation von Sekunde zu Sekunde immer weiter eskaliert.
„Okay, stopp. Brubacker. Was brauchen wir noch?“
„Wir müssen das verdammte Rätsel lösen“, herrsche ich ihn an.
Aus heiterem Himmel will Ace plötzlich wissen, warum zum Teufel wir überhaupt hier sind. Ich bin komplett überfordert. Der Monster-Valakkar, der direkt aus der Hölle zu kommen scheint, brüllt immer weiter, so als wollte er uns zum Spiel rauslocken wollen. Ich stammle mir ein paar Worte zu Biobots und Enos zusammen, keine Ahnung, ob Ace sie kapiert.
„Wir können noch nicht weg…erst müssen wir mit Kjeld sprechen… ich muss wissen, ob wir alle Daten gesichert haben…“
Ace blickt mich durchdringend an.
Dann scheint er innerlich einen Schalter umzulegen.
„Stelle Verbindung her.“
Nur einen Moment später habe ich Kjeld im Ohr mit erlösenden Worten.
„Ja, wir haben alles, die Daten sind in eine Dragon-AI transferiert.“
Es dauert ein paar Sekunden, bevor seine Worte mein Hirn erreichen. Wir haben sie am Wickel. Ich hoffe es zumindest inständig, denn noch so eine Chance auf einen Angriff bekommen wir nicht.
„Dann weg hier“, sage ich.
„An der Landezone lebt niemand mehr“, erwidert Kjeld.
Er klingt nüchtern, fast teilnahmslos. Sage und schreibe fünf Idris-Großkampfschiffe wirft ASD gegen uns in die Schlacht. Draußen herrscht Weltuntergang. Wir sind festgenagelt. Wir befinden uns wieder in der Nähe von Jorrits Büro, direkt im Raum dahinter sind mehrere Medibetts installiert. Friedrich lädt mit Zeros Hilfe Daten herunter, die vielleicht helfen, die verdammte Quantum-Krankheit zu heilen.
Dann heißt es: nur noch raus hier. Irgendwie. Vielleicht schaffen wir es zu Fuß in die glutheiße Wüste, wo uns jemand aufgreifen könnte. Vielleicht…doch schon am nächsten Schott fliegen uns die Kugeln nur so um die Ohren. ASD hat massenhaft Truppen abgesetzt. Wir haben nicht den Hauch einer Chance.
Sie machen reinen Tisch – und wir sterben alle im Sekundentakt.
Die Rückkehr
Ich wache auf und schiebe totale Paranoia.
Über die Wände des engen Habs kraucht ein riesiger Wurm, brüllt sich die Seele aus dem Leib und spuckt grüne Lava. Blitze umzucken ihn. Menschen schießen, rennen, kreischen. Feuer lodern überall. Riesige Kampfschiffe schieben sich über den Himmel, feuern Laserstrahlen ab und verbrennen alles unter ihnen.
Ich schließe die Augen, um die Bilder zu verscheuchen – Restbilder, visuelle Wahrnehmungen auf der Netzhaut, so, als hätte man zu lange in eine Sonne geblickt. Etwas scheint da zu sein, ist es aber nicht. Das urzeitliche Brüllen des riesigen Valakkars jedoch, das hat sich in meinen Kopf gebrannt. Dann: Weitere Schüsse, nur noch ein schemenhafter Schatten, schließlich wird es dunkel.
Ich bin gestorben.
Keine Ahnung, wer mich nach meinem Imprint in mein EzHab gebracht hat.
Wieso bin ich allein? Wo bin ich? Wo sind die anderen?
Ich kneife kurz die Augen zusammen, versuche mich zu konzentrieren und meine Gedanken zu fokussieren. Ich öffne mein Mobiglas.
Ich schließe das Mobiglas wieder und blicke minutenlang zu Boden.
Fuck.
Wenigstens hat bei allen der Imprint funktioniert. Das hätte ganz anders ausgehen können. Doch dann trifft es mich wie aus heiterem Himmel: Sie haben uns getötet, unsere echten Identitäten herausgefunden – und garantiert weiß ASD nun, wer wir sind: Diejenigen, die bei ihnen eingebrochen sind und die ihre Dateien gestohlen haben.
Ab sofort geht es nicht mehr nur um die Aufdeckung irgendwelcher Skandale, ab sofort geht es um unsere nackte Haut. Genauso war es auch bei den Killersatelliten und auch bei Enos. Den gleichen Leuten passiert der gleiche Irrsinn zum erneuten Mal. Das kommt eben davon, wenn man seine Nase pausenlos in Dinge steckt, die einen eigentlich nichts angehen.
Ich lese den Chat noch einmal.
Die anderen wollen sich in der Bar treffen.
„Wunderbar…“, sage ich leise.
„…zum gemütlichen Bier…während Kameras den Raum scannen…“
Offenbar ist ihnen überhaupt nicht klar, was die Stunde geschlagen hat.
Ab sofort sind wir Freiwild, Prio One bei ASD.
Sie werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um unserer habhaft zu werden.
Ich drücke die Beine durch, die sich nach dem Imprint wie aus Wackelpudding anfühlen. Ich spanne die Beinmuskeln an und schiebe den Gedanken an den Neudruck meines Körpers zur Seite. Wer zu viel darüber nachdenkt, dass es nur ein wenig synthetisches Medgel braucht, um neu gemacht zu werden, wird verrückt.
Man ist, wer man ist. Der Rest ist Medizin und Wissenschaft. Deus ex machina.
Ich laufe nackt in den Klamottenladen und dann in irgendeinem billigen Undersuit die Bar. Friedrich schwankt bedrohlich, die Krankheit scheint wieder schlimmer zu werden.
„Was ist mit dir?“
„Es geht mir gar nicht gut.“
„Verdammt.“
Uns läuft die Zeit davon, ich blicke die anderen an.
„Wir müssen hier weg!“, zische ich ihnen unmissverständlich zu.
„Was? Wieso?“
Pike und Alaska schauen mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
„Wir können auf die White Rabbit“, sagt Zero schließlich.
„Dann los.“
Ich sage, dass wir alle den Kopf unten halten sollen. Ich laufe so schnell es geht ohne aufzufallen, drücke mich an den Wänden entlang. Passanten kreuzen unseren Weg. Dann erreichen wir die Terminals. Ich ziehe die anderen in eine dunkle Ecke, dann kommt endlich der Fahrstuhl, der in Zeros Hangar führt.
„…was ist denn bloß los?“, fragt Alaska.
Klar, für Alaska und Pike ist es das erste Mal, dass sie so etwas mitmachen. Man landet schließlich nicht jeden Tag auf einer interstellaren Fahndungsliste. Schon gar nicht auf einer von Leuten, die keine Gnade kennen. Kaum sind wir bei Zero an Bord, bricht es aus mir heraus.
„Ab sofort haben wir ständig eine Waffe an der Schläfe“, sage ich und erkläre, wie es um uns stehen dürfte. „…ASD kennt jetzt unsere Gesichter und sie werden uns jagen. Wir können nirgendwo mehr hin.“
Ich sehe, wie Pike und Alaska immer blasser werden – vor allem Alaska wird plötzlich die ganze Tragweite bewusst.
„Soll das etwa heißen, ich kann mich nicht mehr frei bewegen und nicht mehr meinen Forschungen nachgehen? Das kann doch nicht wahr sein….“
Voller Wut wirft er eine Bierflasche durch den Raum.
Ich versuche ihn zu beruhigen.
„…noch haben sie uns ja nicht.“
Dass es jedoch so schlimm kommen würde – Tod, Imprint, Kopfgeld – das hätte ich nicht geglaubt. Hart ja, aber so – ohne jede Chance? Gleichwohl: Hatte ich nicht gewarnt, dass es saugefährlich werden würde? Dass jeder für sich selbst entscheiden müsse, ob er diesen Weg wirklich gehen will? Sind wir nicht alle freiwillig hier?
„Ab sofort können wir jedenfalls niemandem mehr trauen“, sage ich irgendwann. „Jedes Mal, wenn wir irgendwo ein Schiff rufen oder etwas einkaufen, hinterlassen wir einen digitalen Fingerabdruck.“
„ASD hat so viel Dreck am Stecken, die werden uns nicht öffentlich zur Fahndung ausschreiben“, wirft Zero ein. „Es wird niemand mit einem Haftbefehl kommen. Wenn überhaupt, dann…“
Pike findet seine Sprache wieder.
„…wenn die uns hinterrücks umlegen wollen, dann können wir ja nicht mal in Pyro sicher sein.“
Ich setze mich auf das glänzend rote Sofa in der „White Rabbit“ und nehme den Kopf zwischen die Hände. Am liebsten würde ich mich vergraben. Alaska tut mir am meisten leid. Ihn trifft es am härtesten – eben noch unbescholtener Wissenschaftler mit tadellosem Ruf, jetzt zwischen allen Fronten und gesucht.
„Lasst uns mal die Daten anschauen, die Zero in Lazarus extrahiert hat und die nächsten Schritte überlegen“, sagt Friedrich irgendwann.
„Gute Idee.“
Alles ist besser, als uns jetzt nur ohnmächtig und ausgeliefert zu fühlen. Zero hebt mit der „White Rabbit“ ab und bringt sein Schiff in die Tiefen des Weltraums, wo uns niemand finden kann und wir außerhalb jeder Funk-Reichweite sind. Wir laufen unterdessen in den Mannschaftsraum. Dort steht ein riesiger Monitor, der an die kraftvollen Hacker-Module des Schiffes angeschlossen ist. Zero fährt ihn hoch, dann ploppt auch schon die erste Nachricht auf. Ich brauche eine Minute, um zu verstehen, was wir da lesen.
Dann ist es mir klar – das ist nichts Geringeres als der Beweis, hinter dem wir jahrelang her waren. Im Auftrag von Enos sind Menschen verschleppt worden. Ich spiegele mir die Daten auf mein Mobiglas. Unter dem Brief von Neo – keine Ahnung wer das ist – folgen diverse weitere Einträge. Offenbar lieferte Enos Vanduul-Leichen an ASD. Im Gegenzug durfte Enos Laboreinrichtungen der ASD nutzen. Allerdings wurden nicht direkt Menschen von Enos für Experimente an die ASD geliefert: Die von Enos in das Pyro-System entführten Testpersonen waren zwar im Lazarus-Komplex, darunter auch Mariette Abendroth, sie sind auch derzeit noch in Gefangenschaft, wurden aber mittlerweile wohl zur Ruin-Station gebracht.
Als Letztes finden wir noch einen persönlichen Logbucheintrag von Dr. Jorrit.
„Die Menschheit ist mehr als diese engstirnigen Kleingeister, die mich aufhalten wollen. Sie werden mich nicht stoppen. Hyperion wird in Onyx weiterleben.“
Hyperion, Onyx – nie gehört.
Irgendwann wird mir jedoch klar: Das alles reicht nicht. Das werden sie locker wegmoderieren – reine Interpretationssache gepaart mit ein bisschen Geschick. Ja, Subalterne haben bei ASD schmutzige Geschäfte gemacht, Menschen sind entführt worden und zu Schaden gekommen, aber von einer verseweiten Bedrohung, ähnlich gelagert wie Enos und Biobots, kann keine Rede sein. Und: Enos ist, wenn man ehrlich ist, Schnee von gestern. Die Technologie steht unter Kuratel, wird an der Eldfjall-Universität beobachtet, MACH ist und bleibt tot.
„Mit diesem Material kann man sie vielleicht wegen Tierquälerei drankriegen“, sagt Zero sarkastisch.
Er hat recht – und wenn es nicht so traurig wäre, wäre es zum Totlachen. Der Elefant im Raum ist nach wie vor: Macht ASD Experimente, mit denen Menschen verändert werden sollen? Was hat es mit den radioaktiven Experimenten auf sich? Aber was wir wissen, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass ASD denken könnte, dass wir mehr oder gar alles wissen. Deshalb werden sie nicht ruhen, bis sie uns haben.
„Vielleicht können wir mit ihnen einen Deal machen“, schlägt Friedrich irgendwann vor.
Motto: Wir wissen was über euch, lasst uns leben, dann bleibt das alles unter der Decke. Das ist nichts anderes als eine reinrassige Erpressung. Ich schüttele sofort instinktiv den Kopf – das ist keine Alternative. So bleiben wir immer im Fadenkreuz.
„Aber eigentlich will ich das auch nicht“, schließt Friedrich.
Und jetzt?
Ich brüte – welche Optionen haben wir?
Ich bin mit meinem Latein am Ende.
Zero will als Nächstes die Agentur kontaktieren, die von ihm ein Dossier über Jorrit angefordert hat – vielleicht wissen die ja was. Wir indes können nirgendwo hin. Zu allem Überfluss sagt Zero, dass er zunächst in die Wüste auf Monox wolle, um über all das zu meditieren. Ich bin fassungslos.
„Jetzt?!“
„Ja, Bru.“
„Wir brauchen dich…deinen scharfen Verstand…und….“
Ich weiß noch im selben Moment – ich werde ihn nicht umstimmen können.
„Alles klar, stoße wieder zu uns, wenn du bereit dafür bist.“
Es geht noch ein wenig hin und her, Friedrich liest in den Daten noch von einer ASD-Mitarbeiterin, die in Stanton auf Daymar in der Nähe einer so genannten Hathor-Basis abgestürzt ist und die vielleicht ein Heilmittel für seine Krankheit dabei gehabt haben könnte, irgendwann steht fest: Als Erstes müssen wir raus aus Pyro – wir brauchen ein Schiff. Doch die „Shack One“ können wir nicht rufen, genauso wenig wie andere Schiffe.
„Aber Casey Colder kann einkaufen“, sagt Friedrich plötzlich.
Ich habe das Gefühl, sofort wird der Raum ein wenig heller.
Das ist die Lösung.
„Ab zum Sprungpunkt ein Schiff kaufen. Irgendwas Unauffälliges.“
Zero kehrt zurück ins Cockpit und wir machen uns auf den Weg. Als sich Zero der Starlight-Station nähert, stoppt er plötzlich abrupt: Vor uns schwebt eine kleine Medi-Pisces. Sie ist geschlossen, aber offenbar verlassen. Friedrich schwebt hinüber und versucht sie erfolglos aufzuschießen. Zero gibt einen gezielten Schuss mit seiner Bordkanone ab – und tatsächlich springt die Heckklappe auf. Friedrich gelangt ins Cockpit und fährt das Schiff hoch.
Noch hat uns unser Glück nicht ganz verlassen.
„Der Sprit ist fast alle“, meldet Friedrich.
Wir verabschieden uns von Zero, dann trennen sich unsere Wege. Friedrich, Pike, Alaska und ich sitzen still da, jeder ist in sich gekehrt. Wir erreichen das riesige Asteroidenfeld, das den Jumppoint nach Stanton umgibt, mit dem allerletzten Tropfen, dann gehen die Triebwerke aus.
„Das kann jetzt echt nicht sein“, stöhnt Friedrich.
Irgendwie schafft er es noch, die Pisces zu wenden und sie auf eine nahegelegene Station zu bugsieren. Als Casey Colder kann er gefahrlos ein wenig Treibstoff kaufen. Dann sind wir wieder unterwegs und wir nähern uns der Anomalie.
„Sprungpunkt ist offen“, meldet Friedrich schließlich.
Langsam nähert er sich.
Ich blicke zurück.
Pyo hat uns – hat mich – verändert. Mit Husky habe ich einen Stiefbruder gefunden, Hermie ist verstorben. Wir haben in Pyro vieles von uns gelassen. Moralische Vorstellungen, Überzeugungen, einen Teil von uns selbst. Wir kehren geschreddert zurück. Sicher auch irgendwie geläutert.
Wie hieß es immer?
In Pyro sei es lebensgefährlich.
Sonnenstürme. Unzählige Piraten & Outlaws. Krankheiten. Gefährliche Geheimnisse.
Wer nach Pyro geht, müsse mit dem Schlimmsten rechnen.
So ist es gekommen.
Was werden wir mit diesem Wissen, diesen Erfahrungen anfangen?
Verschiedenste Bilder tauchen in mir auf. Andererseits: So schrecklich es teilweise auch war: Wahre Freiheit gibt es nur in Pyro. Blooms weite Moosflächen, die einsamen Monde von Pyro IV – vieles wird mir in guter, nein großartiger Erinnerung bleiben. Und erst die Menschen, die all den Widrigkeiten und Herausforderungen eines sterbenden Sternensystems trotzen…hinter mir sitzen Pike und Alaska – habe ich in Pyro neue Freunde gefunden?
Die Zeit wird all das zeigen.
Dann verschluckt uns das Wurmloch – einer gefährlichen, unbekannten Zukunft entgegen.
Journal-Eintrag 03 / 10 / 2955
Grimhex, Stanton.
Wir sind humpelnd, mit gebrochenen Beinen aus Pyro zurückgekrochen. Ich stehe auf dem Balkon im Glücksspielbereich der alten Bergbaustation und blicke hinaus auf Yela. Friedrich hat sich sofort ein Hab genommen, ihm geht es total dreckig, die Krankheit scheint in ein neues Stadium zu treten. Alaska und Pike sind irgendwo unterwegs. Sie sind das erste Mal auf Grimhex. Wir haben uns illegal auf die Station eingeschleust, das kleine Med-Schiff ist zerstört.
Ich atme tief durch.
Ich öffne das Mobiglas und mache einen längst überfälligen Call.
Killer ist sofort dran.
„Es tut mir so leid. Ich kann dir gar nicht sagen, wie…“, beginne ich.
Er grinst mich an.
„Kennst du Garnsky?“
Ich stutze kurz.
„…ja, äh…das ist der Mechaniker von Husky…“
„Best Buddy ever. Hab‘ von ihm so viel gelernt über Raumschiffe…“
„Oh…das ist…“
„…freu mich total, wenn ich dich sehe. Muss los, müssen noch was schrauben…weißt ja, Arbeit gibt’s immer…“
Weg ist er.
Ich stehe da und blicke hinaus auf Yela.
Für einen Moment bin ich einfach nur glücklich.
******
Das Heilmittel
Keine Schreie, kein Stöhnen, kein tropfendes Wasser von den Wänden.
Sicher, Grimhex ist auch kein Kurort – aber es ist allemal besser als jede Station in Pyro. Ich wache auf und habe das Gefühl, so fest geschlafen zu haben, wie lange nicht mehr. Fast kommt es mir so vor, als sei unser Trip durch das Pyro-System und alles, was wir dort erlebt haben, nur ein Albtraum gewesen. Aber ich weiß natürlich, dass das nicht stimmt.
Was ich weiß, ist, dass auf unsere Köpfe immer noch ein riesiges ASD-Fadenkreuz aufgemalt ist. Und vor allem Friedrich geht es hundeelend – wir brauchen dringend ein Heilmittel für seine Krankheit. Außerdem benötige ich dringend was zum Anziehen. Irgendwas halbwegs Vernünftiges. Pyro-Style kann ich nicht mehr sehen. Und ich brauche irgendwie meine Schiffe zurück.
Mein Blick fällt auf einen Monitor an der Wand. Dort laufen die Nachrichten – Hurston Dynamics hat den Wettbewerb zwischen den vier Megacorps bei der Kistenschlacht gewonnen. Der Pyro-Jumppoint wird nun offiziell von ihnen gesponsert. Sogar eine entsprechende Hurston-Goldstatue haben sie schon direkt vor dem Panoramafenster aufgestellt.
Arschlöcher regieren echt die Welt. Mit genug Geld geht einfach alles.
Ich wende mich angewidert ab und lausche in die Stille hinein.
Nein, es ist wirklich nichts zu hören auf Grimhex.
Pure Labsal für die Seele.
Ich denke nach – als erstes neue Klamotten: Garantiert streckt ASD seine Finger auch in das Stanton-System aus, um uns zu finden. Aber vielleicht haben wir Glück und sie brauchen ein wenig. Eine Piratenstation ist wahrscheinlich nicht ihre erste Anlaufstelle. Ganz unter dem Radar werden wir dauerhaft aber auch nicht bleiben können. Ich marschiere in den nächstbesten Klamottenladen, nehme ein paar beliebige Dinge, Armor und eine kleine Waffe samt Munition und entsorge den Undersuit aus Pyro. Ein prüfender Blick des Verkäufers macht mich dennoch nervös.
„…an interessanten Orten gewesen?“
„Ja…äh, man kommt ja immer irgendwo rum, oder?“
Ich ringe mir ein Lächeln ab und ziehe die Augenbrauen hoch.
Er macht kurz das Daumen-hoch-Zeichen, dann wendet er sich wieder anderen Dingen zu.
Ich denke an Friedrich. Das Heilmittel – wir müssen mehr über die verdammte Krankheit wissen. Ich laufe in die Bar und quetsche mich in eine Ecke. So unauffällig wie möglich sein, dennoch so natürlich, wie es geht. Ich öffne auf dem Mobiglas die Daten, die Zero und Friedrich aus den Farro- und Lazarus-Komplexen zur Krankheit heruntergeladen hatten.
Dann beginne ich zu lesen, um mich auf den aktuellen Stand zu bringen.
Ich verstehe nur Bahnhof. Medizinisches Kauderwelsch. Es folgt eine Sicherheitseinweisung, was zu tun ist bei der Exposition mit W-D23K6 – ein Eindämmungsteam soll aktiviert werden. Außerdem unterliegt W-D23K6 einer Geheimhaltungsstufe. Dann geht es plötzlich um eine Frau Lewe, die offenbar mit Dr. Jorrit zusammengearbeitet hat.
Ein Unfall, der offenbar keiner war. Der Bau eines Tempels. Der ominöse Dr. Jorrit. Und: Hathor – das war doch die Bergbaugruppe, die mit einem Orbitallaser auf Daymar nach Mineralien suchte. Irgendwie laufen hier ein paar Fäden zusammen – so scheint es zumindest.
Die Antwort folgt prompt.
Darunter folgt ein Brief von einem Mr. Gint, der ein verschlüsseltes Log – offenbar von Mrs. Lewe – transkribiert hat.
Ich lasse das Mobiglas sinken.
Wir haben es mit Verrückten zu tun, eindeutig. Wir brauchen ein Heilmittel, keine selbst ernannten Propheten. Ich lese weiter, dann gefriert mir das Blut in den Adern. Dort steht:
„Die anderen Logeinträge ließen sich nicht wiederherstellen. Was die Identifikation des Angreifers angeht, so ist außer Friedrich Winters, geboren in Bergen/ Sol III, aktuell gemeldet auf Microtech, kein sicherer Match gelungen. Unsere Rechtsabteilung ist auf jeden Fall gut bei der Arbeit, was Winters angeht und ist zuversichtlich, eine wirksame Anklage in den nächsten Tagen fertigzustellen. MfG Gint“
Worauf bezieht sich das? Auf unseren Großangriff? Nein, eher auf Friedrichs ersten Solo-Trip beim Farro-Center. Seitdem wissen sie, wer er ist. Und: Sie bereiten eine Anklage vor! Die drehen den Spieß einfach um. Es ist nicht zu glauben.
Es folgt ein letzter Logbuch-Eintrag:
Celestia…Celestia…ich checke meine alten Logs und lese auch diese noch mal – jetzt macht vieles deutlich mehr Sinn. Sie war Sicherheitschefin bei ASD. Ich mache mir ein paar Notizen, die alles zusammenfassen.
- ASD forscht an Valakkaren und Kopions und setzt dabei radioaktive Strahlung ein
- Aus einem so bestrahlten Wurm (Specimen K6) wird ein Stoff gewonnen, W-D23K6
- Wird man davon getroffen, löst dies das so genannte „grüne Fieber“ aus, das auf Dauer tödlich ist
- Proben von D23-Munition wurden zum Farro-Daten-Center gebracht
- Dabei gerieten jedoch Teile der Lieferung in Umlauf
Ich versuche die Puzzleteile zusammenzusetzen und besinne mich zurück.
Der ganze Irrsinn begann bereits auf der „Lament“ und hat uns seitdem verfolgt: Bei einem Waffentest eines Quantentorpedos wird ein Frachter zerstört, die Starfarer „Lament“ eilt zu Hilfe und wird ebenfalls durch Quantentorpedos getroffen. Wochenlang observiert ASD den Ort und lässt die Überlebenden sterben. Es werden Quantenphänomene gemeldet, das Projekt wird schließlich aus Kostengründen eingestellt. Ein Beobachter des Tests wird von der ASD-Compliance-Abteilung überwacht, stellt unangenehme Fragen und stirbt kurze Zeit später bei einem Unfall mit radioaktiv veränderten Kopions.
Friedrich, Lyrana und Alaska sind nichts anderes als weitere Kollateralschäden.
Allerdings: Sie wissen von Friedrich – also wissen sie spätestens seit Lazarus auch von uns insgesamt. Jetzt kommt es auf jede Stunde an. Wir müssen ihnen einfach immer einen Schritt voraus sein. Ich schließe das Mobiglas, stehe auf und laufe zum Admin Office.
„Hi…macht ihr noch den Service, Schiffe herzufliegen? Ich habe zwei, die mir gehören und…“
„…yep, ist aber nicht ganz billig.“
„Sie sind in Pyro, eine Zeus und eine kleine Kruger Wolf.“
„Pyro also…und gleich zwei Schiffe…“
„Ja…ging nicht anders.“
„Kein Problem. Kostet dich aber was.“
„Ich zahle.“
„350.000 Credits. Im Voraus. 125.000 pro Schiff, 100.000 extra für Pyro.“
„Wow…das ist…“
„…nimm es an oder lass es.“
Der Typ grinst, wobei er eine gelbe Reihe Zähne entblößt. Ein Stim-Kettenraucher. Ich überweise das Geld, den gesamten Rest der Diyo-Expedition und nenne die Regtag-Nummern der Schiffe.
„Zwei Tage, dann sind sie hier.“
„Danke. Rauchst du eigentlich auch mal keine Stim?“
„Eher selten.“
Ich laufe ich hoch zur Galerie im Casino, auf der wir uns verabschiedet hatten. Pike sitzt bereits auf einem alten Sofa und blickt hinaus ins All. Er hat sich unter einer Kapuze vermummt.
„Alles klar?“
„Soweit schon“, antwortet er.
In der Hand hält er sein obligatorisches Rust.
„…hab‘ dich daran erkannt.“
Ich zeige auf die rostige Flasche.
Pike grinst.
Alaska folgt und gemeinsam beratschlagen wir, wie es nun weitergehen soll.
„Ich kann euch ein wenig auf der Station rumführen, aber besonders spektakulär ist es nicht“, sage ich.
Wir schlendern über die Galerien, blicken in ein paar Abgründe der Station, die ja in einen Felsen gehauen worden ist. Alaska wirkt immer noch unsicher, angesichts seines neuen Untergrund-Daseins. Pike scheint indes so nach und zu sich selbst zu finden.
„..vielleicht statten wir Friedrichs Hab einen Besuch ab und schauen, wie es ihm geht“, schlägt Pike vor.
„Gute Idee.“
Minuten später stehen wir vor seiner verrammelten Tür. Ich lege das Ohr an das Metallschott und höre ein leises aber schweres Atmen.
„Er schläft, wahrscheinlich raubt ihm die Krankheit die letzten Reserven“, sage ich.
Wir lassen ihn ausruhen und laufen weiter über die Station – ohne Friedrich sollten wir nicht nach Hathor – er hat sich mittlerweile intensiv mit der Krankheit beschäftigt, Wissen, das uns noch nützen dürfte. Nur wenn es gar nicht anders geht, brechen wir ohne ihn auf.
„Lass uns schon mal ausrüsten“, schlage ich vor.
Das nächste Ziel ist ein Armor- und Waffenladen. Der Typ hinter dem Tresen blickt nur kurz auf, er erkennt mich unter meiner Rüstung nicht mehr. Gut, Tarnung ist alles in unserer verfahrenen Situation.
„Was hast Du da für eine Rüstung an?“, fragt Pike.
„Irgendwas mit light oder so. Ich mag es leicht und schnell.“
„Nimm lieber noch was anderes“, antwortet er. „mehr Panzerung ist besser.“
Wir kaufen in dem Laden diverse Rüstungen und Waffen, dann marschieren wir in Pikes Hangar, wo wir uns umziehen und die Sachen austesten. Ich habe ein C54-Gewehr genommen, auf dem ein Zielfernrohr geschraubt ist und irgendein technisches Gimmick, das Verwackler reduziert. Das Gewehr liegt gut in der Hand. Diesmal sind wir schließlich auf uns gestellt – kein Tyr, keine Unterstützung, kein Hermie mehr – nur wir.
Und wir müssen das Heilmittel unbedingt bekommen.
Wie es scheint, arrangieren wir uns so langsam mit unserer Situation und kommen uns näher. Pike erzählt von seiner bewegten Vergangenheit bei Hurston Security, ich kenne das ja schon, aber Alaska hört gebannt zu. Pike erzählt, dass er einfach nicht mehr die Drecksarbeit für Hurston Dynamics machen wollte. Ein Jahr sei das jetzt alles her und wahrscheinlich hätten sie längst aufgegeben, nach ihm zu fahnden. Hoffen wir‘s, denn Hurston im Nacken würde jetzt gerade noch fehlen. Ich bin jedenfalls froh, dass wir Pike an unserer Seite haben. Beim Farro-Center hatte er bereits hinlänglich gezeigt, dass er mit Waffen durchaus umzugehen weiß und ein guter Schütze ist.
„Wissen wir eigentlich was über Lyrana?“, fragt Alaska.
Ich schüttle kurz den Kopf.
„…hat sich einfach nicht mehr gemeldet. Vielleicht hat sie auch die Krankheit fest im Griff.“
Irgendwas sagt mir, dass wir sie nicht mehr wiedersehen werden.
Wir laufen noch ein wenig umher, dann ziehen wir uns wieder um und jeder nimmt noch eine Mütze Schlaf. Pike bittet mich für ihn beim Admin Office nachzuhaken, ob sie ihm auch seine Mako bringen könnten. Ich nehme den kleinen Umweg und es ist kein Problem. Dann kehren wir in unsere Habs zurück. Die kleine Pause hat uns gut getan. Sobald Friedrich halbwegs fit ist und Zero sich meldet, brechen wir auf. Auf dem Rückweg piept mein Mobiglas – Kjeld Stormarnson, er hat ein kurzes Audiofile geschickt.
Kjeld wurde bei Lazarus niedergeschlagen und auf einem ASD-Frachter verschleppt. Dann gab es aber wohl einen Aufstand und schließlich stürzte das Schiff auf Pyro I ab. Über eine Schmugglerroute gelang ihm die Flucht zurück nach Stanton. Dann bestätigt er, was wir schon wissen: Das ganze Unternehmen war eine einzige Katastrophe.