– 30 / 04 / 2793 –
Als neuer Imperator hoffte Erin Toi, dass der 30. April 2793 der Tag sein würde, der das Imperium auf einen neuen Weg bringen würde. Weniger als ein Jahr zuvor hatte die UEE Linton Messer XI abgesetzt und Senator Toi demokratisch gewählt. Ihr Charisma und ihre lautstarke Unterstützung für das Ende der Messer-Herrschaft hatten sie zuvor zu einer logischen Kandidatin gemacht – aber erst ihre aktive Teilnahme am Aufstand und der aufrichtige Wunsch, das Imperium wirklich zu einem besseren Ort zu machen, machten sie zu einer idealen Kandidatin vieler.
Die Regierung von Imperator Toi verbrachte das erste Jahr damit, frühere Regimeanhänger aufzuspüren. Die Änderung der Regierungscharta erforderte Ausdauer, politische Stärke und Feinfühligkeit. Imperator Toi arbeitete eng mit allen Senatoren zusammen, um herauszufinden, welche Änderungen vorgeschlagen und in welcher Reihenfolge sie eingeführt werden sollten und wie man die Ideen an die Öffentlichkeit verkaufen könnte. Sie verstand, dass die Einheit des Empires insgesamt in der Schwebe war, und wenn der Wandel schneller oder drastischer als erwartet kam, bestand sogar die Gefahr, dass die gesamte UEE zusammenbrechen konnte. Auf der einen Seite gab es etwa die terrazentrischen Aktivisten. Sie drängten darauf, die bestehende Regierung vollständig zu demontieren und von Grund auf neu anzufangen. Auf der anderen Seite herrschte eine Ideologie, die sich der Erhaltung der Traditionen und Werte verschrieben hatte.
Jede noch so kleine Änderung wurde daher erst nach einer Abstimmung im Senat offiziell. Der Prozess begann mit mehreren kleinen, aber bedeutenden Verfahrensänderungen, die die Debatten im Senat eröffneten und die Bestrafung derjenigen, die sich der Regierung widersetzten, beseitigten. Die bedeutendste legislative Errungenschaft in dieser Phase stellte das Tribunal aus High-General, High-Secretary und High Advocate wieder her, zusammen mit der Befugnis, einen Imperator aus triftigem Grund abzusetzen. Tois Engagement für ethische Führung war bewundernswert und wurde am 30. April 2793 auf den Prüfstand gestellt.
Obwohl sie stark an allen möglichen Abstimmungen beteiligt war, schlug Imperator Toi nie selbst eine vor. Sie überließ dies dem Senat, um Vertrauen in den Gesetzgebungsprozess zu wecken und seine Unabhängigkeit vom Imperator zu stärken. Nicht alle Gesetze wurden verabschiedet, einschließlich einer drastischen Maßnahme, die die Staatsbürgerschaft von Personen entzogen hätte,
die dem Messer-Regime sympathisch gegenübergestanden hatten. Viele Kritiker waren jedoch unzufrieden mit Imperator Toi’s zurückhaltendem Ansatz und argumentierten, dass er Schwäche und mangelnde Bereitschaft signalisierte, das System zu beseitigen, was es den Messers überhaupt erst erlaubt hatte, an die Macht zu kommen. Was sie nicht wussten, war, dass Imperator Toi hinter den Kulissen mit einer Koalition von Senatoren aus dem gesamten Imperium an einer umfangreichen Gesetzgebung arbeitete und ihr gesamtes politisches Kapital für diesen bedeutsamen Moment aufhob.
Anfang März 2793 veranstalteten acht Senatoren aus allen Systemen des Empires eine Pressekonferenz zur Einführung des so genannten Governance Modernization Act (GMA), der die Hauptstadt des Empires nach Prime, Terra, verlegen und offiziell in Democratic Stellar Union (DSU) umbenennen sollte. Alle Beteiligten wussten, dass die GMA eine Kontroverse auslösen würde und hatten daher eine mehrgleisige Verteidigung vorbereitet. Dazu gehörten die Veröffentlichung von Pro-GMA-Meinungsartikeln, die auf bestimmte Teile des Empires zugeschnitten waren, eine koordinierte Medienkampagne über das gesamte Spektrum und ein Plan, Croshaw-Senatorin Esther Aguila davon zu überzeugen, den Act mit ihrer Stimme zu unterstützen. Der Plan gab Imperator Toi die Möglichkeit, eine anfängliche Debatte zu vermeiden und sich darin nicht zu verschleißen. Im Gegenteil: So konnte sie später eine Rede halten, die den Plan nachhaltig unterstützte, die die Bedenken der Menschen aufgriff und das Empire dazu inspirieren sollte, ihr zu folgen.
Doch diese klug ausgedachte Strategie fiel schnell in sich zusammen. Proteste brachen auf der Erde und anderswo aus und zwangen Imperator Toi, sich früher als erwartet an das Empire zu wenden. Später äußerte sie, dass ihre Rede eher defensiv als inspirierend gewirkt hatte – eine Auffassung, die von ihren Kritikern geteilt wurde. Hinter den Kulissen drängten unterdessen mächtige Unternehmen mit kommerziellen Interessen auf der Erde Senatoren, die Initiative nicht zu unterstützen, und behaupteten, dass der Umbruch eine bereits instabile Wirtschaft komplett lahmlegen könnte.
Wochenlang tobte eine öffentliche Debatte über die GMA im Senat und im gesamten Spektrum. Befürworter im Senat umworben aggressiv Anhänger, aber viele blieben unverbindlich. Einige hielten es für politisch vorteilhaft, ihre Meinung nicht im Voraus kundzutun. Als ein Pro-GMA-Marsch in Stalford, Bremen, in Gewalt überging, sah Imperator Toi, dass die Debatte den zivilen Pfad verlassen hatte. Sie forderte den Senat schließlich auf, über die GMA abzustimmen und der 30. April wurde als Datum hierfür ausgewählt.
Imperator Toi verbrachte die Tage vor der Abstimmung damit, jeden Senator persönlich zu kontaktieren, um Fragen zu beantworten und um herauszufinden, wo sie standen. Sie glaubte, dass die Gespräche hilfreich und produktiv waren, aber viele Senatoren weigerten sich dennoch, ihr Unterstützung zu versprechen. Politische Experten hielten die Abstimmung für zu knapp, um im Vorfeld den Ausgang vorherzusagen. Laut Ihrem Biographen Ryuto Pendleton sagte Imperator Toi am Vorabend der Abstimmung Vertrauten, dass sie erwartete, dass morgen entweder die bedeutendste Errungenschaft oder der größte Fehler ihrer politischen Karriere eintreten würde.
Ein verunsichertes Empire beobachtete schließlich, wie der Senat am 30. April 2793 tagte. Der Historiker Ariel Rutte beschrieb es als „den Tag, an dem das Empire den gemeinsamen Atem anhielt”. Öffentliche Versammlungen in Terra, auf der Erde und anderswo zogen Millionen an. Militärische Kräfte mobilisierten sich in jedem System und waren in höchster Alarmbereitschaft, um auf Unruhestifter schnell reagieren zu können. Vor der Abstimmung brach in mehreren Systemen Verwirrung aus, als die Kommunikation vorübergehend zusammenbrach. Imperatorin Toi selbst schloss sich in ihrem Büro ein und arbeitete zwei Reden aus – eine für den Fall dass die GMA verabschiedet wurde, und eine für den Fall, wenn die Initiative scheitern sollte. Als Clement Redfield, ihr Stabschef, schließlich klopfte und eintrat, sagte er nichts, obwohl sein niedergeschlagener Ausdruck das Ergebnis sofort deutlich machte: Die GMA war mit drei Stimmen abgelehnt worden.
Imperator Toi bat um ein paar Minuten, bevor sie sich an das Empire wenden wollte, aber Redfield schlug eine dritte Option vor – eine, bei der Imperator Toi eine Exekutivmaßnahme einleiten sollte, um den Senat zu übergehen und das GMA-Gesetz doch noch zu erlassen. Während das Empire auf das Ergebnis wartete, flehte Redfield sie an, den politischen Mut zu haben, das zu tun, was sie für die Menschheit für richtig hielt. Beide diskutierten die möglichen Auswirkungen, wobei Redfield zugab, dass dies ihre politische Karriere effektiv beenden könnte. Aus seiner Sicht wäre es jedoch ein kleiner Preis, den man zahlen müsste, um dem Empire eine von Terra geführte Zukunft zu sichern.
Imperator Toi aber konnte sich schließlich nicht dazu durchringen, die Stimmen des Senats zu überstimmen. Redfield trat zurück und nutzte das legislative Versagen der GMA als Deckung. Er sollte nach Terra zurückkehren und selbst für den Senat kandidieren, mit der Idee, den UEE-Hauptsitz nach nach Prime zu verlegen. Dies sollte eines Tages das ideologische Rückgrat der modernen transitionalistischen Partei bilden. Die meisten politischen Historiker betrachteten ihn als den ersten Kandidaten der Transits, obwohl es damals noch keine offizielle Partei war.
Erst nachdem Imperator Toi ihr Amt niedergelegt hatte, veröffentlichte Redfield öffentlich seinen Vorschlag, die Exekutive zu nutzen, um die Stimme des Senats zu überstimmen. Die Offenlegung erzürnte viele in Terra, steigerte aber Toi’s Ansehen im Empire insgesamt, weil sie sich vor dem Missbrauch von Exekutivmaßnahmen gehütet hatte. Als ihr Biograf sie später danach fragte, antwortete Imperator Toi: „Ich denke immer noch darüber nach, was hätte sein können, aber ich habe meine Entscheidung nie bereut. Der Wille des Volkes musste über meinem persönlichen Glauben stehen. Sonst wäre ich nicht besser als die Messers.”
Imperator Toi bleibt eine der wichtigsten und bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte der UEE. Abgesehen davon, dass sie das Empire nach dem Fall der Messers zusammenhielt, hat sie die Regierung erheblich umgestaltet, den Bürgertag ins Leben gerufen, sich für den Fair Chance Act eingesetzt, die Arche in Auftrag gegeben und vieles mehr. Und doch es könnte diese Aktion sein, die sie am 30. April 2973 nicht durchgeführt hat, die die größten Auswirkungen auf das Empire insgesamt hatte.