Ein geheimnisvoller Koffer, extrem hoher Zeitdruck und seltsame Begegnungen – diese Lieferung ist kompliziert
Von Thomas K. Carpenter
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Kapitel 01
Ich stolperte in die Luftschleuse und wischte die letzten Reste eines Teeyo-Energieriegels von meinem Pullover, als der Mechanismus hinter mir einrastete. Das Rauschen der Luft wurde von den blaugrünen Stahlwänden der Orbit Station über Jata gedämpft. Der Flug vom Planeten hier hoch war eine holprige Angelegenheit gewesen. Ich hätte es besser wissen sollen. Ein offenbar noch sehr junger Pilot mit mächtig viel Akne auf der Stirn, eröffnete mir bei meiner Ankunft: „Sie sind mein erster richtiger Passagier. Ich meine, abgesehen von den Trainingsflügen.“
Aber ich war auch einmal neu gewesen und er hatte mich lebendig ans Ziel gebracht. Er hatte zwar kein Luftloch in der Atmosphäre ausgelassen aber wir kamen heil auf die Station an. Ich nahm meinen Rucksack ab, streckte mich und starrte auf den grauen Planeten hinunter, mit seiner felsigen Oberfläche, den ich gerade zurückgelassen hatte. Ich sah immer noch die weitläufige Anlage, die das Aegis-Produktionszentrum beherbergte. Sie sah von hier oben genauso furchteinflößend aus, wie auf der Oberfläche des Planeten. Ich kann nicht sagen, dass ich nicht froh gewesen wäre, mit der Lieferung fertig gewesen zu sein. Das Unternehmen behauptete zwar, es sei nicht mehr auf den militärischen Markt ausgerichtet, aber ich sah viel zu viele Kürzungen und Veränderungen, um diesen Unsinn zu glauben. Außerdem erinnerte mich die Ausstellung der Schiffe der Avenger-Klasse immer daran, dass ich bei meiner ersten richtigen Lieferung fast getötet worden wäre.
Mein glucksender Magen ermahnte mich, dass das meiste meines Teeyo-Riegels auf dem Boden gelandet war. Also machte ich mich auf die Suche nach dem Falafel-Verkäufer, bei dem ich auf dem Weg nach unten bereits gegessen hatte. Die cremig-scharfe Soße passte perfekt zu dem knusprig gebratenen Kichererbsen Püree in dem mit Salbei gewickelten Fladenbrot.
Ich hatte einen Nachmittag totzuschlagen, während ich auf meine nächste FTL-Lieferung wartete. Die Station war ein Labyrinth. Die ursprüngliche Struktur war auf den ersten Blick auf militärische Sicherheit ausgerichtet. Das bedeutete, dass die verschiedenen Abschnitte durch Röhren verbunden waren, so, dass jeder Bereich im Falle eines Angriffs sicher abgesperrt werden konnte. Später dann, als die Anlage zivil genutzt wurde und der normale Handel übernahm, wurden geräumigere Bereiche mit kaminrotem Teppich geschaffen und Zonen zum Essen und Übernachten. Die Wände waren mit Gemälden verziert worden – echte handgemalte Wandgemälde. Es gab sogar ein paar Gemälde der Banu an den Wänden, die an jene Zeit erinnerten, als ein bedeutender Teil des Handels mit Außerirdischen noch über Jata abgewickelt worden war. Ich bog um die Ecke zu den köstlichen Gerüchen meines Falafel-Verkäufers, als ich als ich eine vertraute Stimme hörte.
„Warum hat das so lange gedauert? Ich bekomme hier noch Frostbeulen. Meine Bestellung habe ich bereits vor drei Jahren gemacht“, erklärte Betrix LaGrange, rieb sich die kalten und bleichen Arme und stampfte mit den Füßen auf, um sich etwas Wärme in die Glieder zu holen. Ich konnte mir nicht vorstellen, einem schlimmeren FTL-Kurier zu begegnen. Hätte man eine Hyäne in einen Menschen verwandelt und mit perfekten blonden Haaren ausgestattet, es wäre Betrix herausgekommen. Sie schlief mit dem Disponenten des Hauptquartiers, weshalb sie all die Premium-Lieferungen bekam und ihre Routen waren immer effizient. Anstatt mich mit diesem menschlichen Aasfresser herumzuschlagen, ging ich in den anderen Verkäuferbereich. Das Essen war dort zwar nicht so gut, aber so konnte ich Betrix wenigstens aus dem Weg gehen. Der Falafel-Verkäufer hatte nach Betrix Ausraster wahrscheinlich ohnehin in die Sahnesoße gespuckt.
Während ich mich an einem fragwürdigen Curry labte, holte ich mein MobiGlas heraus und rief mein Traumschiff auf: die Aurora LX. Ich setzte ein Lesezeichen für das maßgeschneiderte Paket, das ich spezifiziert hatte. Es war das perfekte Raumschiff, um mich als unabhängiger Kurier selbstständig zu machen. Ich schloss die Seite wieder, wechselte zu den lokalen Netzwerken und rief die Anzeige eines unabhängigen Kuriers auf. Mein Display zeigte den Namen „Silverkahn“, eine Anspielung auf die Bar meines Vaters, die „Goldene Horde“. Ich hielt kurz inne bevor ich meine Verfügbarkeit kundtat und dann markierte ich schnell die Orte, an die ich zu liefern bereit war.
Sorris erste Regel für einen effizienten Kurier lautete: Reise niemals mit leeren Händen. Ich lächelte vor mich hin, als ich diese eiserne Regel in meinem Kopf wiederholte. Die meisten der anderen Kuriere, die ich in meinem ersten Jahr bei der Firma kennengelernt hatte, schienen den Job wie eine Gefängnisstrafe zu behandeln und schufteten sich mit geschlossenen Augen durch ihre Lieferungen. Dabei gab es so viel mehr zu tun, wenn man aufmerksam war.
Ein leises „Ding!“ in meinem Ohr machte mich auf ein Stellenangebot des unabhängigen Kurierdienst-Kanals aufmerksam. Mir fiel die Kinnlade runter, als ich die Gutschrift sah, die für die Erledigung der Lieferung notiert war. Es war eine kolossale Summe. Mindestens das Fünfzigfache meines normalen Honorars und es würde meine Wartezeit auf die Aurora um gut ein Jahr verkürzen. Mir zitterte die Hand, doch bevor ich „Akzeptieren“ auf der Schaltfläche drückte, las ich die Bedingungen. Das war meine zweite Regel, eine harte Lektion aus meiner ersten Lieferung: Nichts Illegales.
Der Auftrag bestand darin, einen Koffer nach Tyrol IV zu transportieren. Der Job war unter Zollverschluss, also wusste ich, dass er legal war. Ich überprüfte das Lieferdatum und erkannte, warum die Gebühr so hoch war. Die Lieferung musste in weniger als sechzig normalen Erdstunden erfolgen. Von meinem Standpunkt aus war Tyrol IV fünf Systeme entfernt, was mehrere Sprungpunkte und eine beträchtliche Menge an Reisezeit innerhalb des Systems bedeutete – selbstverständlich ohne Zwischenstopps oder Verspätungen, die häufig auftraten. Es war fast aussichtslos, den Koffer rechtzeitig abzuliefern, wenn man über die normalen Routen reiste. Die hohe Gebühr sollte Freelancer mit einem eigenen Schiff reizen, die Reise anzutreten. Dieser Trip kostete verdammt viel Treibstoff. Aber vor allem blieb keine Zeit für andere Geschäfte.
Ich starrte auf den roten „Akzeptieren“-Knopf und wusste, dass mehrere Kuriere in diesem Moment das Gleiche dachten: War es möglich, die Lieferung pünktlich abzuliefern? Würde ich die Lieferung nicht pünktlich abgeben, würde die Gebühr plus der Strafe für Lieferverspätung plus alle Auslagen meine Ersparnisse aufbrauchen. Das wiederum bedeutete: Keine Aurora, kein Falafel, kein gar nichts mehr. Die einzigen Kuriere, die den Auftrag ernsthaft in Betracht ziehen konnten, hatten bereits ihre eigenen Schiffe. Und in Anbetracht des Zeitrahmens konnten nur Kuriere, die bereits im Davien-System waren, den Auftrag annehmen und den Liefertermin einhalten.
Das Davien-System, in dem ich mich gerade befand, war mit Ferron, Kilian, Cano, Sol und Cathcart verbunden. Die Ausgangslage konnte nicht schlechter sein für diesen einen Job, für den ich noch nicht einmal ein Schiff besaß. Aber es würde sich lohnen, meinen Plan für die Aurora um ein Jahr zu verkürzen. Ich liebte es, Kurier für FTL zu sein, aber eigentlich wollte ich mein eigener Herr sein und die Galaxie nach meinen Vorstellungen erleben. Also drückte ich meinen Daumen auf den Bildschirm und schickte meine Bio-Signatur an den Broker, um meine Annahme des Jobs zu bestätigen. Als ich das tat, lief mir ein Schauer über den Rücken, eine Mischung aus Angst und Aufregung.
Dann erhielt ich den Auftrag auf meinem MobiGlas und ich sah wie ein Countdown Timer, die verbleibende Zeit anzeigte: 60:25:05
Was zum Teufel hatte ich getan?
*****
Nachdem meine Panik abgeklungen war – ich meine, es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass man seine Ersparnisse auf einen Lieferauftrag setzt, für den die Mittel eigentlich nicht reichen – begann ich mich in die Arbeit zu stürzen. Ich hatte zwar kein eigenes Schiff, aber einen Vorteil hatte ich gegenüber den anderen: Dass sich der Koffer, der geliefert werden musste, auf meiner Station befand. Aber das erklärte nicht, warum ich einen Auftrag annahm, von dem ich wusste, dass ich ihn nicht auf den normalen Handelswegen erledigen konnte. Jetzt trat Sorris Regel Nummer 3 in Kraft: Offizielle Routen sind für Idioten.
Mit meinem MobiGlas fand ich schnell einen fliegenden Schrotthaufen, namens „Nomenclature“, der durch das Cathcart-System zum Nexus-System wollte. Der Flug durch Cathcart, ein System, das für Piraten und eine umfangreiche Schwarzmarktwirtschaft bekannt war, war riskant, aber wenn dieses Wrack in diese Richtung unterwegs war, hatte man wahrscheinlich irgendwelche dubiosen Geschäfte vor oder wollte einfach nur Zeit sparen. Technisch gesehen verstieß dies nicht gegen meine zweite Regel, nichts Illegales zu machen, da ich nur Passagier war. Trotzdem hinterließ es ein Unbehagen in meinem Magen.
Ich schickte der „Nomenclature“ eine Nachricht zusammen mit meinen Referenzen. Ein paar Minuten später erhielt ich überraschenderweise eine Antwort. Das Ticket kostete einen vernünftigen Preis. Ich hatte eine Stunde Zeit, um an Bord zu kommen. So konnte ich noch das Paket holen, bevor wir abreisten. Ich nahm das Angebot an, überwies den Ticket-Preis und rief dann die Stationskarte auf, um den Abholort des Pakets zu finden.
*****
Nachdem ich meinen Kurierausweis vorgelegt hatte und meine biometrischen Daten überprüft worden waren, konnte ich mich stolzer Besitzer eines silbernen Metallkoffers nennen. Ich pfiff, als ich ihn untersuchte. Das Äußere bestand aus Nano-Mesh und das Schloss war exotisch – eine glatte Granitkugel, umgeben von außerirdischen Symbolen. Ein Achselzucken später schlenderte ich den Weg zurück, den ich gekommen war, in Richtung „Nomenclature“, als ich mein Schicksal in einem hohen Ton rufen hörte.
„Sorri? Sorri!“
Ich versuchte, Betrix zu ignorieren, aber ich hörte ihre weichen Lederstiefel schlurfend hinter mir über den Teppich laufen.
„Sorri!“, rief Betrix erneut, grub nur einen Moment später ihre Nägel in meinen Arm und hielt mich auf. „Es ist soooo lange her. Lass uns ein bisschen quatschen.“
Ihr Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen, aber ihre Augen hatten die Schwärze eines seelenlosen Hais. Sie tanzte mit den Fingerspitzen auf meinem Arm. Es war ihre nervige Art zu sagen, „lass uns einen Drink holen.“ Ich versuchte, meinen Arm aus ihren Zangen zu befreien, aber sie war erstaunlich stark.
„Ich muss gehen, Betrix.“
Ihre Stirn legte sich in Falten, um Verwirrung vorzutäuschen.
„Aber wo willst du denn hin? Du hast doch im Moment gar keine Aufträge.“
„Sightseeing“, antwortete ich mürrisch.
Betrix bemerkte den silbernen Koffer, der an meiner linken Hand hing.
„Na, was hast du denn da? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das ist ein Freelancer-Job. Aber ich weiß, dass du schlauer bist, ich meine, du weißt, dass es gegen die Firmenregeln verstößt, freiberuflich zu arbeiten … sozusagen mit sofortiger Kündigung“, sagte Betrix und legte ihren Kopf schräg, so dass ihre blonden Locken reizvoll auf ihre Schulter fielen.
„Es ist ein tragbarer EVA. Ich versuche nur, sicher zu sein.“
Einen Moment lang sah Betrix so aus, als würde sie mir tatsächlich glauben, bevor sie den Kopf schüttelte und sagte:
„Tragbarer EVA? Wie vorausschauend. Aber weißt du, ich dachte eher, es könnte die Lieferung sein, die gerade im ICN gepostet wurde.“
Wenn ich nicht schon so genervt gewesen wäre, weil ich von diesem Abschaum aufgehalten wurde, wäre ich vielleicht überrascht gewesen, dass sie auch als selbständiger Kurier arbeitete. Ich nahm an, dass sie durch ihren Freund, einen Disponenten, immer genug Arbeit hatte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber jetzt verstand ich ihren Standpunkt. Sie war wahrscheinlich ebenfalls kurz davor gewesen, den Job anzunehmen, bevor ich ihn ihr wegschnappte – und Betrix war nicht der Typ, der die Dinge einfach auf sich beruhen ließ.
„Nö. Ein tragbarer EVA“, sagte ich erneut, trat strategisch auf die Zehen ihres weichen Lederstiefels und entriss meinen Arm ihrem schraubstockartigen Griff.
Aufgewühlt sagte Betrix: „Ich weiß, wofür der Koffer ist. FTL wird dich feuern, wenn sie herausfinden, was du tust.“
„Warum warst du dann auf ICN?“, rief ich über die Schulter zurück.
Ein letzter Blick zeigte mir den mörderischen Glanz in ihren Augen. Auch sie hatte diesen Job unbedingt haben wollen. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal gemerkt, dass ich auf der Station war, bis sie sah, dass der Job schon vergeben war, und nachsah, wer ihn bekommen hatte. Was für ein Pech. Hoffentlich war das das Ende der Geschichte. Ich überprüfte mein MobiGlas und stellte fest, dass ich noch viel Zeit hatte. Ich konnte sogar noch eine kleine Pause einlegen und einen Happen essen, wenn ich wollte. Allerdings würde ich mich erst sicher fühlen, wenn ich die Station verlassen hätte und weit weg von Betrix LaGrange war.
*****
Die Arbeit mit meinem Vater in seiner Bar, der „Goldenen Horde“, lehrte mich eine Menge über Menschen. Eine seiner Lieblingstheorien betraf das Karma. Nicht das mystische Karma, sondern das statistisch belegbare Karma – jenes Karma, das man in einem Diagramm darstellen kann. Seine Theorie besagte, dass Karma in Wirklichkeit die Summe aller kleinen, guten und schlechten Taten ist, die so eine Art Karma-Netz um einen Menschen herum bilden. Wenn man immer wieder gute Dinge tat – einem Kunden einen kleinen Schluck Rum geben, wenn er ein wenig müde aussieht; ein Taxi bezahlen, um sicherzustellen, dass der reiche Geschäftsmann es heil zurück in sein Hotel schafft; zwei einsame Kunden, die an gegenüberliegenden Enden der Bar sitzen, miteinander bekannt zu machen oder dafür zu sorgen, dass die antike Jukebox das Lieblingslied des Pärchens spielt, das zu seinem Jahrestag in die Bar gekommen ist… dann, ja dann, würde es einem die Welt zu einem späteren Zeitpunkt mit Zinsen zurückzahlen, wenn man es nicht erwartet.
Ich meine, ich bin nicht blind für das, was mein Vater getan hat. Der zusätzliche Rum – der Rum, der ihn nicht viel kostete, da er ihn verdünnte – führte zu einem größeren Trinkgeld am Ende des Abends. Das Taxi sorgte dafür, dass ein wertvoller Kunde in zukünftigen Nächten sicher nach Hause kam. Die beiden einsamen Kunden fühlten sich der Bar verpflichtet und das Jubiläumspaar würde Jahr um Jahr wiederkommen, um ihre ersten Erinnerungen wieder zu erleben. Er tat das nicht aus reiner Herzensgüte, es war eine kalkulierte Sache, aber ich hielt seine Theorie für stichhaltig, auch wenn er es aus den falschen Gründen tat. Karma funktionierte auch in umgekehrter Richtung. Zumindest hoffte ich das, wenn es um Betrix ging. Deshalb hatte ich nicht vor, etwas gegen sie zu unternehmen. Das Karma würde sich schon um sie kümmern. Das war zumindest die Theorie.
Ich warf einen Blick über meine Schulter, um zu sehen, ob Betrix mir folgte. Plötzlich hörte ich das schreckliche Geräusch eines weinenden Kindes. Ich brauchte nicht viel Phantasie, um zu wissen, dass Tränen und Rotz über das Gesicht des Mädchens liefen. Aber was ich nicht erwartet hatte, war, dass das junge Mädchen, gerade mal sieben Jahre alt, von einem stämmigen Mann im Anzug über den Teppich geschleift wurde, während eine schreiende Frau, die, so nahm ich an, seine Frau war, auf seinen Arm einschlug und versuchte ihn aufzuhalten. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle. Ein kurzer Blick in die Sitzecke sagte mir, was ich bereits wusste. Die anderen Fahrgäste in diesem Bereich waren damit beschäftigt, ihr MobiGlas zu studieren oder standen auf, um auf die Toilette zu gehen. Niemand – und ich meine niemand – achtete auf das Drama. Es waren mindestens dreißig Leute in dem Bereich und keine Menschenseele zeigte Interesse. Sogar der Sicherheitsbeamte am Verbindungsdurchgang sah weg und spielte an seinem Daumennagel als wäre das die interessanteste Sache der Welt. Karma. Verdammt.
Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich mein Abflugschiff noch erreichen konnte. Obwohl ich zugeben musste, dass ein Teil von mir gehofft hat, dass die Zeit zu knapp gewesen wäre. Die dunkelhäutige Frau, die schäbige Kleidung trug, flehte ihren Mann an, die gemeinsame Tochter nicht mitzunehmen. Anhand ihrer Schreie konnte ich schnell herausfinden, dass es sich um die Folgen einer Trennung handelte und der Ehemann sich über die gerichtliche Anordnung hinwegsetzte. Er nahm das Mädchen seiner Mutter weg. Es war eine viel zu häufige Erfahrung, dass Kinder einem ihrer Elternteile entrissen und quer durch die Galaxie gebracht wurden. Die sich überschneidenden Gerichtsbarkeiten und die hohen Reisekosten machten es einfach, Gerichtsbeschlüsse zu ignorieren. Sobald er mit ihrer Tochter aus der Luftschleuse gegangen war, würde die Mutter sie wahrscheinlich nie wieder sehen.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten, obwohl es mir unmöglich war, diesen riesigen Mann aufzuhalten. Er sah aus, als hätte er viel Zeit mit den neuesten Gentherapien verbracht und er hatte offenbar trainiert, bis ihm Adern wuchsen. Aber ich hatte nicht die Absicht, ihm körperlich entgegenzutreten. So lässig, wie ich nur konnte, ging ich hinter die Sitzreihe mit den angeschlossenen Holovideos und schob den silbernen Koffer unter einen Stuhl. Dann klappte ich den Deckel des nächstgelegenen Mülleimers auf und begann, mich durch den ekligen Abfallbehälter zu wühlen, durch unerwünschte Papiere und weggeworfenen Müll. Ich hatte keine Zeit, wählerisch zu sein. Der Mann hatte das Mädchen schon fast in der Luftschleuse, die zu einem komfortablen Handelsschiff führte, das nach Sol flog. Ein Offizier des Schiffes machte gerade die letzte Aufforderung einzusteigen, als ich hinter dem Mann mit einem Stapel gefalteter Papiere in der einen Hand und einem halb gefüllten Plastikbecher mit einem hellen zuckerhaltigen Getränk ausrutschte.
„Abel?“. fragte ich mit meiner tiefsten autoritären Stimme. Ich hatte mir seinen Namen aus den Schreien der Frau zusammengesetzt. Der Mann hielt inne. Mit einem Arm hielt er seine schreiende Tochter fest, mit dem anderen wehrte er seine Frau ab, die ihm das Kind entreißen wollte. Ich sah den ungläubigen Blick auf seinem Gesicht. Er hatte sich umgedreht, weil er jemanden größeren erwartet hatte. Er schaute nach unten. Ich hielt ihm die Papiere in offizieller Manier hin und verkündete: „Sie werden des Verstoßes gegen das UEE-Abkommen gegen toxische Zertifikate in nachweisbare Luftemissionen zur Verwendung für den Transport und Gefährdung von einheimischen Arten angeklagt, Oberflächencode Nummer Sechs-Punkt-Fünf-Fünf-Eins-Punkt-Acht-Neun“.
Er sah aus, als hätte ich ihm eine Tüte Kugeln ins Gesicht geknallt.
„Was?“, fragte er und versuchte sichtlich, die Worte zu verarbeiten.
Also wiederholte ich mich, diesmal etwas schneller:
„Sie werden vorgeladen wegen des Verstoßes gegen den UEE-Vertrag gegen toxische Emissionen in nachweisbaren Luft-Emissionen zum Zwecke des Transports und der Gefährdung einheimischer Tierarten, Oberfläche Code Nummer Sechs-Punkt-Fünf-Fünf-Eins-Punkt-Acht-Neun“.
Ich konnte sehen, dass er versuchte, herauszufinden, was los war. Mein Raumanzug gab ihm keine Hinweise, da ich absichtlich Kleidung trug, die halboffiziell aussah, damit die Leute meinen wahren Beruf nicht erraten konnten.
„Das bedeutet, dass Sie sich bei unserer Außenstelle auf dem Planeten melden müssen, um Ihre Strafe zu bezahlen bevor Sie das System verlassen“, sagte ich und übergab ihm nachdrücklich die Papiere.
Er zog seine Hand von seiner Frau weg und griff nach den Papieren.
„Da sie von einer Behörde der UEE kommen, sind Sie, wenn Sie diese Papiere akzeptieren, rechtlich verpflichtet, alle Bußgelder und Gebühren zu zahlen“, sagte ich nachdrücklich.
Eine Durchsage kam über die Lautsprecher:
„Mr. Gorane, zwei Personen, bitte betreten Sie die Luftschleuse. Ihr Schiff verlässt die Station.“
Abels Kopf schoss in Richtung des wartenden Transporters, wo die Triebwerke ansprangen. Seine Aufmerksamkeit war so sehr zwischen den Papieren in meiner Hand und der offenen Luftschleuse hin- und hergerissen, dass er für einen Moment seine Frau und sein Kind vergaß. In diesem Moment trat sie ihm in die Leistengegend, schnappte sich das Mädchen und rannte in die andere Richtung.
„Alara, nein!“, stöhnte er, aber ihm war klar, dass er keine Möglichkeit hatte, sie aufzuhalten.
Dann stürzte er sich auf mich und streckte seine mörderische Hand aus. Das war der entscheidende Moment. Ich stellte den halb gefüllten Plastikbecher in den Weg und als seine Hand mich berührte, schleuderte ich das zuckerhaltige Getränk über die wartenden Fahrgäste, die vertieft in deren MobiGlas starrten. Während die Leute vielleicht bereit sind, einen Ehemann gewähren zu lassen, der seine Tochter entführt, obwohl die Frau rechtlich dagegen ist, waren sie nicht bereit, dass ein zuckerhaltiges Getränk auf sie geworfen wird. Sogar der Sicherheitsbeamte am Eingang kam herbeigelaufen. Mr. Gorane spürte, dass er seinen Schaden begrenzen musste und floh inmitten des Geschreis in die Luftschleuse. Ein älterer Herr mit Brille half mir auf. Bevor mich jemand zu meiner Rolle bei dem Vorfall befragen konnte, warf ich die die Papiere zurück in den Mülleimer und griff nach dem silbernen Koffer.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich merkte, dass der Platz unter dem Stuhl leer war. Ich hatte sofort den schrecklichen Verdacht, dass sich Betrix herangeschlichen und ihn gestohlen hatte. Ich hätte schwören können, dass ich aus dem Augenwinkel sah, wie sie durch den Wartebereich lief. Aber ich war zu sehr auf den Ehemann konzentriert, um mir sicher zu sein. Dann stellte ich erleichtert fest, dass ich in der falschen Reihe gesucht hatte. Ich schnappte mir den Koffer und machte mich auf den Weg zum wartenden Schiff. Ich war zufrieden damit, dass ich das Richtige getan hatte, dieser Frau und ihrer Tochter zu helfen.
Ich erreichte die Luftschleuse, die mit der „Nomenclature“ verbunden sein sollte. Doch sofort musste ich zwei beunruhigende Dinge feststellen. Erstens stand Betrix LaGrange an der Schleuse mit einem selbstgefälligen, selbstherrlichen Blick und zweitens war die „Nomenclature“ nicht mehr an der Station angedockt. Durch das dicke Fenster konnte ich die Triebwerksfeuer sehen, als sich das
Schiff soeben von der Station entfernte.
*****
Das bringt mich zu meiner vierten Regel: Lass dich niemals ablenken. Eine Regel, die ich dummerweise gerade für diese Frau und ihre Tochter missachtet hatte. Ich wusste genau, was Betrix getan hatte: Sie war an mir vorbeigeeilt und hatte den Kapitän der „Nomenclature“ dafür bezahlt, abzulegen, ohne auf mich zu warten. Während ich mein MobiGlas aktivierte, um das Schiff zu kontaktieren, konnte ich an Betrix‘ strahlendem Grinsen erkennen, dass es keine Rolle spielen würde.
„Was auch immer du bietest, ich habe dem Kapitän gesagt, dass ich ihm mehr zahle, wenn er ohne dich fliegt“, sagte sie, als sie näherkam.
Ich merkte schnell, dass ich keine Chance hatte. Der Kapitän war auf dem Weg nach Cathcart, was bedeutete, dass er ein Mann mit zweifelhafter Moral war. Er wurde doppelt bezahlt und musste nichts dafür tun.
„Warum machst Du das?“
Ich schüttelte den Kopf, noch während die Worte über meine Lippen kamen.
„Ich will diesen Job“, sagte Betrix und nickte in Richtung des Koffers. „Ich habe eine Route ausgearbeitet und ich kann die Lieferung machen. Ich biete Dir zehn Prozent des Honorars, wenn du mir den Auftrag überträgst.“
„Die Route steht fest? Du meinst, Dein Freund hat FTL-Lieferungen eingerichtet, die Du ohne einen Credit aus deiner Tasche..?“, sagte ich und ballte meine Fäuste. Betrix blähte ihre Nasenflügel auf, behielt aber ansonsten einen stoischen Gesichtsausdruck bei.
„Ich tue was ich kann, genau wie du. Ich gebe dir fünfzehn Prozent, sofort bezahlt. Gib mir einfach den Koffer.“
Das Angebot war verlockend. Fünfzehn Prozent, um absolut nichts zu tun, außer ein paar Striche auf meinem MobiGlas zu machen und einen mir schwer auf den Schultern lastenden Job zu übergeben, schien ein gutes Angebot zu sein. Vor allem, wenn ich keine Möglichkeit hatte, die Lieferung durchzuführen, da die „Nomenclature“ nicht mehr verfügbar war. Das war genau der Grund, warum Betrix das Angebot gemacht hatte. Trotz meines überwältigenden Hasses auf Betrix LaGrange war die Übergabe des Koffers für fünfzehn Prozent das Vernünftigste. Es war ein todsicherer Weg, um mehr Credits für die Aurora LX zu bekommen. Aber ich könnte das ganze Honorar haben, wenn ich es ohne sie nach Tyrol IV schaffe – und ich müsste sie nicht gewinnen lassen.
„Nein“, sagte ich einfach und nachdrücklich.
„Nein?“, wiederholte sie. „Zwanzig Prozent, aber höher werde ich nicht gehen. Ich muss auch David einen Anteil geben.“
So hatte sie es also gemacht. Er war nicht nur ihr Freund, er bekam auch einen Anteil an ihrem Gewinn.
„Nein“, wiederholte ich.
Ich konnte mich nicht dazu durchringen, mit Betrix zu arbeiten, nachdem was sie mir soeben angetan hatte. Wenn ich es zuließ, würde sie es später wieder tun und mich wie einen Subunternehmer benutzen.
„Nimm die zwanzig, oder ich lasse FTL wissen, was du tust“, drohte sie.
Ich wusste sofort, dass es ein Bluff war. Sie würde mich auf keinen Fall verraten. Bei dem, was ich
über sie wusste, wäre das eine gegenseitige Zerstörung.
„Gut“, sagte ich.
Betrix grinste vor scheinbarer Selbst-Zufriedenheit.
„…willst du sie kontaktieen oder soll ich?“
Betrix Augen verengten sich und sie schüttelte leicht den Kopf.
„Du bist ein Dummkopf.“
Ich drehte ihr den Rücken zu, als sie davonstürmte. Dann aktivierte ich mein MobiGlas und scannte die anderen Schiffe an der Station, um ihre Ziele zu studieren. Nichts, und ich meine nichts, war in den nächsten drei Tagen auf dem Weg ins Kilian-System. Tatsächlich war das einzige Schiff, das heute abflog, die „Vita Perry“, eine Reclaimer, aber sie war auf dem Weg nach Ferron. Ein kurzer Blick bestätigte, dass der Kurztrip in diese Richtung mich ein Stück weiter nach vorn auf den Zeitplan für die Auslieferung bringen würde. Es gab immer einen Weg, wenn man kreativ genug war. Ich hatte nur noch nicht ganz herausgefunden wie ich es angehen sollte.
Ich lehnte mein Gesicht gegen das kühle Fenster, während mein Magen Kapriolen schlug. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, den Koffer rechtzeitig abzuliefern. Verdammt, ich war noch nicht einmal aus der ersten Station herausgekommen und es lagen fünf weitere Systeme entlang der Route. Ich sollte lieber den Schwanz einziehen und zurück zu Betrix laufen. Wahrscheinlich würde sie mir nicht mehr dieselben zwanzig Prozent anbieten, nachdem ich ihr gesagt hatte, sie solle sich verpissen.
Was sollte ich nur tun?
[Zeit: 59:49:35 ]
Kapitel 02
[Zeit: 59:43:11]
Die Station lieferte ein stoisches Hintergrundgeräusch für mein Selbstmitleid, während ich mich gegen das kalte Glas lehnte und auf den glühenden Arm der Galaxie blickte. Die Aussicht war beruhigend, aber sie half mir ganz sicher nicht dabei, herauszufinden, wie ich in weniger als sechzig Stunden eine Lieferung nach Tyrol IV bewerkstelligen sollte. Die naheliegendste Lösung war, Betrix LaGrange zu finden, die wahrscheinlich gerade irgendwo lümmelte und darauf wartete, dass ich angekrochen kam und sie anflehte, die Lieferung doch zu übernehmen. Sie würde mir dann wahrscheinlich nur noch höchstens zehn Prozent anbieten und ehrlich gesagt wäre ich dumm, es nicht anzunehmen. Um mich auf etwas zu konzentrieren, fing ich an, die Regeln zu wiederholen, die ich für meine Arbeit erfunden hatte.
Regel eins: Reise nie mit leeren Händen.
Regel zwei: Nichts Illegales.
Regel drei: Offizielle Routen sind für Idioten.
Regel vier: Lass dich nie ablenken.
Ja, ich schätze, daran hätte ich mich vorhin erinnern sollen.
Regel fünf: Niemals aufhören zu denken…“
Ich hob mein MobiGlas, zum fünften Mal um die Schiffe in der Station zu überprüfen, als ich ein sanftes Zupfen an meinem Arm spürte. Es war die Frau mit ihrem Kind. Ihr dunkles Gesicht war von den Salzlinien alter Tränen gezeichnet, aber sie sah zufrieden aus, als sie ihre Tochter an sich drückte.
„Danke“, sagte sie.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem erschöpften Lächeln.
„“ch kann dir nicht genug dafür danken, was du für mich und Greta getan hast. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn er sie auf das Schiff mitgenommen hätte.“
Mein Gesicht errötete vor Verlegenheit.
„Schon gut. Es war ein alter Trick, den ich aus der Bar meines Vaters kenne. Nichts verwirrt einen Menschen mehr als offizieller Hokuspokus.“
„Oh?“, fragte sie. „Du arbeitest in einer Bar?“
„Nein. Ich bin ein Kurier. Im Moment kein sehr guter, aber ein Kurier.“
Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung.
„Ein Kurier? Echt jetzt? Könnte ich dich eigentlich anheuern? Ich muss meine Scheidungspapiere für Sol einreichen, damit er nicht zurückkommt und mir Greta wieder mitnehmen kann.“
„Ich kann erst in ein paar Wochen kommen“, sagte ich und fummelte an meinem MobiGlas herum.
„Ich denke, das wäre in Ordnung. Er wird erst in ein paar Monaten zurückkommen. Er reist viel. Ich wollte den FTL benutzen, aber es wäre mir lieber, wenn du die Lieferkosten übernehmen würdest“, sagte die Frau, die sich nun als Alara vorstellte. Ich nickte, nahm ihren Datastick entgegen und steckte ihn in meinen Rucksack.
„Logg dich in das ICN-Netzwerk ein und speichere ihn. Mein Name ist SILVERKHAN“, sagte ich.
„Nochmals vielen Dank. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich Greta verloren hätte.“
Dann umarmte sie mich unbeholfen, bevor sie sich mit ihrer müden Tochter im Schlepptau wieder auf den Weg machte. Gemischte Gefühle durchströmten mich. Ich freute mich für die Frau und ihr Kind, aber die Ablenkung hatte mich meine Fahrt gekostet. Trotzdem war es nicht die Schuld der Frau, dass ich gestoppt hatte. Doch stehenzubleiben, war nicht hilfreich, also ging ich weiter und überprüfte dabei noch einmal die Schiffsliste.
Die „Eagle’s Talon“ war auf dem Weg nach Sol. Wenn ich auf ihr mitfliegen könnte, bestünde vielleicht die Möglichkeit, auf einem der direkteren Transfers zurück über Tyrol zu kommen. Sie sollte aber frühestens in einem Tag abfliegen, da sie auf eine auf eine Frachtabholung wartete. Die „Golden Heart“ war ein Treibstofftransporteur, für Cry-Astro. Bei der Menge an Zwischenstopps, die sie in der Gegend machen müsste, kam sie nicht in Betracht. Und die „Vita Perry“ flog zwar noch heute ab, aber sie flog in Richtung Ferron.
…mein Blick blieb an der „Vita Perry“ hängen. Etwas an dem Namen sagte mir etwas. Wo hatte ich diesen Namen nur schon einmal gehört? Ein paar Schritte weiter fiel mir die Antwort ein. Ich rannte im Laufschritt auf die andere Seite der Station, wo sich das Schiff eben zum Abflug bereit machte. Währenddessen arbeitete mein Gehirn schnell eine Plan aus. „Vita Perry“ war der Name der Gründerin der Church of the Journey, einer Religion die an das Reisen um des Reisens Willen glaubte. Ich konnte kaum widersprechen, da ich dem Kurierdienst beigetreten war, um die Galaxie zu sehen. Ich rief im Laufen einen Comm-Link auf. Ein älterer Herr mit Lachfalten um Augen und Mund antwortete.
Ich sagte: „Sei gegrüßt, Gefolgsmann Sojourner! Hast Du Platz für einen weiteren Reisenden?“
„Aber natürlich, wir würden uns freuen, wenn Du uns begleiten würdest. Es erfordert eine Spende aber die ist ziemlich gering“, sagte er. Ich überwies sie, bevor ich die Luftschleuse erreichte. Eine lächelnde Frau wartete. Ihr fehlte der linke Arm bis zum Ellbogen und sie hatte eine Brandnarbe am Kiefer. Irgendwann in ihrer Vergangenheit hatte sie ein schreckliches Feuer überlebt.
„Seid gegrüßt, Sojourner Sorri Lyrax“, sagte sie. „Ich bin Adeline, Erste Offizierin auf der Vita Perry. Es ist so schön, dass Du zu uns kommen konntest. Du hast ein wunderbares Timing. Wir wollten uns gerade von der Station aufmachen.“
Das Innere der Aegis Reclaimer war ganz anders, als ich erwartet hatte. Der Frachtraum war für Passagiere umgebaut worden, wie bei einem kommerziellen Transportmittel, aber mehr … kultisch. An allen Wänden und Decken und sogar auf den Boden gemalt, waren Landkarten. Sogar die Stoffsitze dienten als Landkarten und zwar keine gewöhnlichen, sondern echte Sternen- und Planetenkarten. Es war, als hätte sich eine Bibliothek von Atlanten über dem Inneren des Schiffes ausgeschüttet. Mindestens fünfzehn Personen saßen dort – alles Menschen – bis auf einen Banu in cremefarbenen Gewändern, der ganz hinten saß. Ich fand einen Platz gegenüber dem Banu, schob den silbernen Koffer unter den Sitz und nachdem ich mich versichert hatte, dass er gut verstaut war, ließ ich mich nieder. Wir entfernten uns von der Station. Sobald wir Richtung Ferron-Sprungpunkt flogen, manövrierte ich mich durch die Sitze in Richtung der vorderen Kabine.
„Darf ich das Cockpit betreten?“ fragte ich.
Die Tür zischte auf. Der Erste Offizier, Adeline, schlüpfte an mir vorbei und ging zu den zu den anderen nach hinten.
„Sei gegrüßt, Sorri“, sagte der Kapitän. „Ich bin Kapitän Lemmie. Wolltest Du den Anflug auf den Sprungpunkt beobachten?“
„Gibt es einen besonderen Grund, warum du nach Ferron fliegst?“, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern.
„Nicht wirklich.“
„Besteht die Möglichkeit, dass du dein Ziel in Kilian ändern kannst?,“ fragte ich und versuchte einen gewissen verzweifelten Unterton in meiner Stimme zu vermeiden.
„Ein Ziel ist so gut wie ein anderes“, sagte der Kapitän.
Er schaltete das Funkgerät ein: „Hat jemand etwas dagegen, nach Kilian zu fliegen?“
Als niemand antwortete, lautete seine Durchsage: „Ich schätze, wir fliegen nach Kilian.“
Ein aufgeregtes Gemurmel begann zwischen den anderen Passagieren.
Erleichterung erfüllte meine Brust. „Danke, Captain Lemmie.“
„Keine Ursache. Aber ich hoffe, das wird deine Spende an die Kirche erhöhen.“
„Gewiss, natürlich“, erwiderte ich. „Ich gehe jetzt zurück zu den Sitzen und mache ein
ein Nickerchen. Es war ein langer Tag.“
Nachdem ich eine weitere kleine Spende getätigt hatte und mein schwindendes Guthaben noch ein wenig weiter gesunken war, fand ich meinen Platz wieder. Der verstellbare Stuhl gab mir das Gefühl als läge ich auf einem warmen Marshmallow. Die Anhänger der Kirche wussten wirklich wie man bequem reiste. Der Davien-Ferron-Sprungpunkt war relativ in der Nähe von Cestulus, während der Davien-Kilianer-Sprungpunkt weiter entfernt war, so dass es länger dauern würde, um ihn zu erreichen.
*****
[Zeit: 57:01:05 ]
Ich richtete mich in einer bequemen Position ein und schlief schließlich ein, während sich die anderen Passagiere leise unterhielten und sich Geschichten erzählten. Wenn ich nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte ich ein paar meiner eigenen Erfahrungen erzählen können. Das war der Teil des Reisens, den ich am meisten liebte, die Interaktion mit Menschen aus allen Ecken der Galaxis. Es waren Tage wie dieser, an denen ich froh war, ein Kurier zu sein.
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich geträumt habe. Nachdem ich aufgewacht war, holte ich mein MobiGlas hervor und studierte die Abflugliste, die ich vor unserer Abreise heruntergeladen hatte, um mögliche Routen von Kilian aus zu finden. Es gab ein paar Kandidaten, die mich mitnehmen könnten, aber ich würde es erst genau wissen, wenn wir das System erreicht hätten. Dann bemerkte ich, dass mich jemand anstarrte. Ohne meinen Kopf zu bewegen, schaute ich und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass mich der Banu musterte.
„Hallo“, sagte ich, wobei mir plötzlich schmerzlich bewusstwurde, wie wenig Erfahrung ich im Umgang mit Xenos hatte.
„Sei gegrüßt, Mitbewohner“, sagte er mit tiefer Stimme. Ich verstand ihn klar und deutlich, obwohl sein Akzent den Eindruck erweckte, als hätte er eine Luftblase in seiner Kehle.
„Ich bin Sorri, das ist mein Name, keine Entschuldigung“, sagte ich und fragte mich, ob er den
den Scherz verstehen würde.
„Mein Name ist schwierig für die menschliche Zunge. Du kannst mich Silk nennen“, sagte er im
Rhythmus seines Dialekts.
„Silk?“, platzte ich heraus. Seine Erscheinung war alles andere als seidig.
„Eure Seidenstraße erinnert mich an den Banu-Handel. Hast Du davon gehört?“, fragte er.
„Nein“, antworte ich und schüttelte den Kopf.
Seine Stirnfurche bewegte sich hin und her. Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Geste deuten sollte. Wäre er ein Mensch, hätte ich Enttäuschung vermutet, aber ich hatte nur wenig Erfahrungen mit den Banu.
„Du bist Kurier“, sagte Silk und nickte in Richtung des Koffers.
„Ähm, ja“, sagte ich, zu schockiert, um zu lügen, doch dann wurde ich plötzlich misstrauisch.
„Woher weisst du das?“
„Banu Symbole auf dem Koffer. Aber du bist nicht Banu“, sagte er und schnalzte mit der
Zunge. Ich warf einen Blick auf das seltsame Schloss und hatte das Gefühl, reingelegt worden zu sein.
„Der Koffer ist egal“, sagte er, „aber warum ist der junge Mensch nervös?“
Die Erwähnung ließ mich aufhören, mit den Fingern auf meinem Bein zu trommeln.
„ Ich bin nicht nervös, ich habe nur viel um die Ohren. Eine wichtige Lieferung.“
„Die Lieferung spielt keine Rolle. Du bist auf einer Reise und das sollte reichen“, sagte er.
„Ich wünschte, das wäre wahr, aber wenn ich diese Lieferung nicht schaffe, habe ich keine Credits mehr. Ich will nicht für den Rest meines Lebens als Unternehmenssklave arbeiten“, sagte ich, ohne zu wissen, warum ich diesem Außerirdischen meine Seele ausschütte.
„Reise in dich selbst und Du wirst Dein Ziel erreichen“, sagte er und nickte feierlich.
Ich hatte den Mund schon halb geöffnet, um eine passende Antwort zu geben, als ein dumpfes Geräusch durch die Kabine schallte und die „Vita Perry“ kurzzeitig zur Seite taumelte. Eine Sekunde später ertönten die Notsirenen. Blinkende Lichter leuchteten in der Kabine, während eine laute Sirene in meinen Ohren kreischte. Der Gesichtsausdruck der anderen Passagiere lag irgendwo zwischen Verwirrung und blanker Panik.
Ein Passagier rief aus: „Das wird ja ein richtiges Abenteuer!“
Irgendwo hörte ich ein Zischen, das die anderen Geräusche übertönte und sich anhörte, als würde Luft entweichen. Die Sirenen verstummten und Kapitän Lemmies Stimme kam über Funk: „Wir wurden von Trümmern getroffen. Wir treiben derzeit ohne Antrieb und der Rumpf hat irgendwo auf der Backbordseite ein Leck. Ich habe Notsignale gesendet, aber wir sind zu weit draußen, als dass uns jemand rechtzeitig erreichen könnte. Falls jemand auf diesem Schiff Erfahrung mit einer EVA hat, bitte in die Hauptkabine kommen.“
*****
Keiner rührte sich. Ich war beeindruckt, dass die meisten Passagiere ihr Kinn erhoben hatten und nun geduldig auf Anweisungen des Kapitäns warteten. Bei ein paar konnte ich feststellen, dass sie Panik hatten. Die Innentemperatur war bereits gesunken. Ich stand auf, lief nach vorne und klopfte an die Tür des Cockpits.
„Kannst du das Schiff reparieren?“, fragte Kapitän Lemmie nachdem er das Cockpit geöffnet hatte.
„Vielleicht, aber was ist mit deinem Ersten Offizier? Oder mit dir?“, fragte ich zurück.
„Das kann ich nicht. Ich muss die Energie umleiten, während Du da draußen bist.“
Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern –„…und ich werde Adeline nicht noch einmal in eine solche Situation bringen.“
Die Ursache für ihren fehlenden Arm und die Brandnarbe wurde deutlicher.
„Ich habe ein EVA-Zertifikat“, sagte ich, ohne zu erwähnen, dass ich noch nie einen EVA durchgeführt hatte, geschweige denn, dass ich darin gearbeitet hätte. Die FTL hielt uns einen Tag lang Vorträge und zeigte uns Holovideos, was zu tun ist, wenn ein EVA-Anzug benötigt wird. Die meisten der anderen Kuriere spielten während der Vorlesung mit ihrem MobiGlas. Ich war begeistert davon, aber nicht, weil ich dachte, dass ich jemals eines benutzen würde. Vielmehr war die Vorstellung, außen auf einem rasenden Raumschiff herumzuschwingen, beinahe so, als wolle ein Kind auf das beste Klettergerüst der Galaxis. Jetzt, wo unser Leben davon abhing, dass ich es erfolgreich schaffte, klang es abe gar nicht mehr so romantisch. Eher grauenhaft, um ehrlich zu sein.
„Siehst du den Spind hinter der Tür?“, fragte Lemmie und ließ mir einen Moment Zeit, um nachzusehen.
„Ja“, sagte ich.
„Zieh den Anzug an. Unten ist eine Reparaturtasche, die du an deinen Gürtel hängen kannst. Sobald
Du den Schaden an der Hülle gefunden hast, verwendest Du das Epoxidharz, um den Schaden zu flicken, vorausgesetzt das Loch ist nicht zu groß“, erklärte er und klang nicht sehr zuversichtlich.
Während er redete, öffnete ich bereits den Spind. Ich brauchte nicht lange um herauszufinden, dass der Anzug für eine viel größere Person gemacht war. Während ich den EVA-Anzug anzog, sagte der Kapitän den anderen Passagieren, sie sollten ihre warme Kleidung anziehen. In den Seitenwänden fänden sie Sauerstoffkanister und sie sollten auf seine Anweisungen warten, wann und wie die Kanister zu benutzen seien. Der Erste Offizier, Adeline, ging im Gang auf und ab und half den Passagieren, wo sie konnte. Als ich das sperrige Brustteil nicht über den Kopf bekam, rief ich ihr zu, sie solle mir helfen. Insgeheim ärgerte ich mich über meine schlechte Wortwahl.
Mit ihrem gesunden Arm half mir Adeline, das Teil über meinen Kopf zu ziehen, während ich meine Arme zu einem schmalen V formte. Als das Brustteil über meinen Kopf rutschte und gegen meine Nase stieß, wurde mir klar, dass der harte Kunststoff in der Mitte es schwer machen würde, zu manövrieren. Sobald ich meinen Kopf durchgesteckt hatte, fühlte ich mich wie ein Kind, das bei einem Familientreffen am Erwachsenentisch saß. Mit einem besorgten Stirnrunzeln fragte mich Adeline: „Kommst Du zurecht in diesem Ding?“
„Hast Du irgendwelche Gurte? Spanngurte oder irgendetwas, womit ich den Anzug in Form bringen kann? „, fragte ich.
Technisch gesehen waren freiliegende Gurtenden eine schlechte Idee bei einem EVA, aber ich dachte an den übergroßen Anzug, der ohne irgendeine Modifikation untragbar war. Adeline wandte sich den anderen Passagieren zu.
„Hat jemand ein Seil oder einen Gurt?“
Ein dünner, aber pausbäckiger Herr mittleren Alters schnauzte: „Wir wären nicht getroffen worden, wenn sie uns nicht gezwungen hätte, die Route zu ändern.“
Adeline ergriff für mich das Wort: „Sie kannten die Risiken, als Sie der Kirche beigetreten sind. Reisen im Weltraum sind nie sicher, ganz gleich, welche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Und sie ist die Einzige, die sich freiwillig gemeldet hat, das Schiff zu verlassen und das Leck zu reparieren. „
Ich räusperte mich.
„Ich will ja nicht drängeln, aber wenn ich nicht bald ein paar Gurte bekomme, ist es vielleicht zu spät, um das Schiff zu reparieren und es besteht eine hundertprozentige Chance, dass wir sterben.“
Eine jüngere, elegant gekleidete Frau rief: „Ich habe da etwas. Nur einen Moment!“
Sie vergrub ihren Kopf in ihrer Tasche und kam dann mit einer Handvoll schwarzer Riemen und einer peinlichen Röte im Gesicht wieder hervor.
„Die sind, ähm …“, stotterte sie und versuchte sichtlich, die richtigen Worte zu finden. Es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, wofür die Bänder gedacht waren und ich hätte lachen können, wenn nicht die lebensbedrohlichen Umstände gewesen wären.
„..perfekt“, beendete ich für sie, während ich ein Grinsen unterdrückte und die Riemen ergriff. Wir benutzten die Riemen, um überschüssiges Material zusammenzubinden, vor allem an den Armen und am Mittelteil. Bevor sie den Helm aufsetzten, rief ich dem Kapitän zu: „Wie viel Zeit noch?“
Er hielt kurz inne.
„Ich würde mich beeilen“, sagte er, wobei er seine Stimme so professionell wie möglich klingen sollte.
Sich in einem übergroßen EVA-Anzug durch die Kabine zu bewegen, war wie der Versuch, durch Melasse zu schwimmen. Adeline half mir, die äußere Luftschleuse zu öffnen. Als ich drinnen war, überprüfte ich meinen Anzug ein weiteres Mal und befestigte meine Leine an dem Haken direkt in der äußeren Luftschleuse. Als das grüne Licht an der Tür aufleuchtete, drehte ich den Griff im Uhrzeigersinn und schwang mich hinaus. Ich hatte noch nie Höhenangst gehabt. Als ich jung und töricht war, kletterte ich einmal an den Abflussrohren eines Wohnhauses hoch, um einem Freund einen Streich zu spielen, indem ich durch sein Fenster schlich und Löcher in seine Unterwäsche zu schneiden.
Aber als ich mich nun auf den Rumpf der Reclaimer schwang und in ein unendliches Loch blickte, schnellten meine Arme instinktiv wie Hebel zurück und ich klammerte mich an das Metall der Oberfläche, wobei das leise Klirren meiner Stiefel nur durch die Luft meines Anzugs zu hören war und ich versuchte meinem Körper einzureden, dass das Gleiten entlang der Führungsschiene zum vorderen Teil des Schiffes genauso war wie das Klettern an den Hochhausschienen.
Nach ein paar tiefen Atemzügen gelang es mir, meine Hand von der Schiene zu lösen und meinen Arm auszustrecken. Allein das schien den sicheren Tod zu bedeuten, vor allem ohne die künstliche Schwerkraft des Schiffes, die mich festhielt, aber nachdem ich mich ein paar Mal an der Reling entlanggezogen hatte, verringerte sich die Angst langsam.
„Wie geht es voran?“, fragte Kapitän Lemmie über das Funkgerät in meinem Anzug.
„Ich bewege mich zum vorderen Teil des Schiffes“, sagte ich mit unsicherer Stimme.
„Ich will dich nicht hetzen, aber Du wirst bald ersticken. Menschliches Eis am Stiel, wenn Du das nicht bald geflickt bekommst“, sagte er.
Ich machte kleine Bewegungen entlang der Reling, so wie eine Vierjährige die zum ersten Mal in einem Schwimmbecken schwimmt. Nachdem der Kapitän gesprochen hatte, wusste ich, dass ich große Sprünge machen musste. Ich hangelte mich an der Reling entlang und nutzte die fehlende Schwerkraft und meinen Schwung, um an dem gebogenen Rumpf mehr oder weniger entlang zu gleiten. Aber ich unterschätzte den Schwung und meine Fingerspitzen streiften das kalte Metall, als ich ins Leere sprang.
Zum Glück war ich immer noch mit der Schiene durch meine Leine verbunden, die mich zurück zum Schiff schleuderte. Ich schlug hart auf, mein Gesicht knallte mit einem lauten Ton gegen den Metallrumpf. Ich schaffte es, meine zitternden Finger an der Reling einzuhaken. Für den kurzen Moment in dem ich vom Schiff wegflog, dachte ich, ich sei im Weltraum verloren. Mit zusammengekniffenen Augen sagte ich: „Und deshalb benutzen wir das Halteseil.“
„Alles in Ordnung, Sorri?“, fragte der Kapitän.
„Fast geschafft“, sagte ich und wollte nicht zugeben, dass ich mir vor Schreck fast den Anzug nass gemacht hatte. Als mein Blick auf den Schaden fiel, rutschte mir mein Herz in die Hose. Weißer Nebel – die Atmosphäre der Kabine – strömte durch ein kopfgroßes Loch im Rumpf. Nur die Innenwände hatten verhindert, dass der gesamte Sauerstoff innerhalb der ersten dreißig Sekunden nach dem Bruch ins All entwichen war. Teile der Isolierung brachen an der Austrittsstelle heraus. Wenn das, was auch immer es war, uns nur ein wenig härter getroffen und das Material unter der Hülle zerstört hätte, wären wir sofort tot gewesen. Ich murmelte ein kleines stummes Dankeschön an denjenigen, der die Schilde erfunden hatte. Ich holte den Sprühkopf aus der Tragetasche, um das Loch mit Epoxidharz zu füllen. Doch ich hatte keine Chance. Genauso gut hätte ich versuchen können, einen Asteroiden, der einen Planeten vernichten wollte, mit einer Dose zu besprühen.
„Captain. Das Loch ist zu groß, als dass ich es reparieren könnte“, sagte ich.
Keuchend antwortete er: „Du musst das Problem lösen.“
Ich starrte eine Weile auf die Dose. Das Volumen des Materials darin war einfach nicht groß genug um das Leck zu stopfen. Ich starrte hinaus in die Schwärze des Weltraums. Hinter uns sah der Stern im Zentrum des Davien-Systems wie ein kleiner brennender Ball aus. Hinter der Front des Schiffes sah ich die Reflexionen der Sprungpunktstruktur in der Ferne. Es funkelte, als etwas durch die Öffnung kam.
„Hör niemals auf zu denken. Hör niemals auf zu denken“, wiederholte ich immer wieder.
Ich brauchte mehr Material, aber ich hatte nicht genug Zeit, um zurück ins Schiff zu gehen.
Die Reisetasche!
Ich schnallte die Tasche von meinem Gürtel ab und schob sie in das Loch. Sie wollte nicht halten. Teile von ihr versuchten sich immer wieder zu lockern. Mit meinem Ellbogen hielt ich die Tasche fest, öffnete den Deckel der Dose und schüttelte sie ein paar Mal, um das Epoxid zu aktivieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich etwa eine Minute Zeit, bevor das Material aushärtete, also drückte ich auf die Düse, drückte den Kleber auf die Tasche. Eine Sekunde lang tat sich nichts und ich dachte, ich hätte eine defekte Dose, aber dann tropfte das Harz auf das hellbraune Taschenmaterial wie eine klare zähe Flüssigkeit. So schnell wie sie herauskam ließ ich sie auf den Beutel laufen. Als ich etwa zur Hälfte fertig war, bemerkte ich, dass die ersten Abschnitte des Klebers bereits zu einer weißlichen Masse aushärteten. Es sah fast wie Eis aus. Es gelang mir auf diese Weise, das Loch mit dem Epoxidharz zu schließen. Mit dem restlichen Material prüfte ich auf weitere undichte Stellen, indem ich meinen Helm über die Reparaturstelle hielt und auf Beschlag auf dem Glas achtete. Nachdem ich ein paar kleine Löcher gefüllt hatte, war die Dose leer.
„Das Loch ist gestopft, Captain“, sagte ich. „Sie können den Kabinendruck wieder erhöhen, aber bitte vorsichtig und langsam. Ich bin mir nicht sicher, wie stabil dieses Epoxidharz ist.“
Als keine Antwort kam, spürte ich, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildete. Ich gab dem Ganzen noch ein paar weitere Sekunden.
„Captain?“, fragte ich.
War ich zu spät? Meine ganze Welt schien sich auf einen winzigen Punkt am Ende meiner Nase zu verdichten, bevor ich merkte, dass die Kommunikationsverbindung unterbrochen war.
„Captain?“, fragte ich erneut.
„Ja, ich bin hier, Sorri. Ich bin froh, dich zu hören. Ich dachte, wir hätten Dich verloren“, sagte er.
„Ich habe versehentlich die Verbindung abgeschaltet. Das Loch ist repariert, aber ich würde die Kabine nicht vollständig unter Druck setzen. Ich bin mir nicht sicher, wie gut meine Reparatur ist. Ich musste improvisieren. Ich warte hier draußen, während Sie die Atmosphäre wieder reinpumpen, um sicherzugehen, dass es nicht porös ist oder platzt“, sagte ich.
Nach ein paar Minuten, in denen wir schweigend auf Anzeichen einer Verformung achteten, verkündete der Kapitän, dass die Kabine wieder den Mindestdruck und Sauerstoffgehalt hatte. Ich ließ mir Zeit und machte mich auf den Rückweg zur Luftschleuse. Bevor ich wieder hinein schwebte, hielt ich mich mit einer Hand fest und genoss die große Unendlichkeit . Obwohl ich immer noch Angst hatte, dass die Leere mich irgendwie vom Schiff wegziehen würde, um für immer allein im All zu treiben, war ich gleichzeitig so ehrfürchtig, dass es mir die Tränen in die Augen trieb.
Ich hatte mich nie wirklich entschieden, ob ich an eine höhere Macht glaubte oder nicht, aber beim Anblick der Weite fragte ich mich, ob irgendetwas das Universum erschaffen haben konnte. Es schien zu groß, zu unendlich, als dass ein einzelnes Wesen es hätte erschaffen können. Irgendwie fühlte ich mich besser bei dem Gedanken, dass das Universum schon immer da war und nicht die willkürliche Schöpfung eines höheren Wesens war, das seine Meinung aus einer Laune heraus ändern könnte, die ich unmöglich verstehen würde. Andererseits hatten wir verdammtes Pech, von einem Trümmerteil getroffen zu werden, hier draußen inmitten dieses Nichts. Ich manövrierte durch die Luftschleuse zurück ins Innere des Schiffes. Die anderen Passagiere begrüßten mich mit erschöpftem Beifall, als ob sie ihre Kraft verbraucht hätten. Andere Passagiere berührten mich, als ich mit dem Helm unter dem Arm zur Pilotenkabine ging. Einige dankten mir für die Hilfe und den Stoff für eine neue Geschichte. Nur der Banu schien von dem Erlebnis unbeeindruckt zu sein.
„Alles noch in Ordnung, Kapitän?“, fragte ich.
„Die gute Nachricht ist, dass wir den Druck halten. Es sieht so aus, als hätte die Reparatur funktioniert“, sagte er.
„Das ist so eine Sache mit guten und schlechten Nachrichten, oder?“, fragte ich.
„Ich fürchte ja. Die schlechte Nachricht ist, dass ich es nicht riskieren kann, weiterzufliegen. Also sitzen wir hier fest bis die Rettungsschiffe eintreffen“, sagte er.
„Mist!“ sagte ich.
„Du wirst deine Lieferung nicht machen?“, fragte er.
Ich errötete.
„Sie wussten, dass ich ein Kurier bin?“
Er legte den Kopf schief.
„Ja, natürlich. Ich habe Dein Profil gesehen und ich sah den Koffer den Du bei Dir trägst.“
„Und Sie haben einfach das Ziel für mich geändert?“, fragte ich verblüfft.
„Es geht nicht um das Ziel, sondern um die Reise. Und jetzt haben wir alle eine Erfahrung gemacht, die wir sonst vielleicht nicht gemacht hätten“, sagte er mit einem schiefen Lächeln.
„Das ist ja der Sinn der Sache.“
„Gibt es etwas, das näher liegt als die Hoffnung auf Rettung? Jemand, der vielleicht einen Passagier mitnehmen kann?“
„Für unsere furchtlose Reparateurin werde ich einen Scan machen“, sagte er und drehte an ein paar
Knöpfen unter seinem Bildschirm. Einen Moment später erschien ein kleines Symbol auf dem Display.
„Sieht aus, als ob eine Caterpillar auf den Sprungpunkt zusteuert. Der Schiffsname lautet Dodecahedron. Es ist registriert auf den Namen… Senet Mehen? Ich weiß nicht. Klingt nicht sehr vielversprechend.“
„Können Sie es anfunken?“, fragte ich.
Captain Lemmie tippte eine Standard-Rufnachricht auf seiner Tastatur und schickte sie an die „Dodecahedron“. Wir starrten eine Minute lang gleichzeitig auf das Display und in unsere Gesichter. Keine Antwort.
„Der Besitzer könnte schlafen und auf Autopilot sein“, sagte der Kapitän achselzuckend.
„Versuchen Sie es bitte noch einmal“, bat ich.
„Es tut mir leid“, sagte er, seine Lippen kräuselten sich vor Enttäuschung.
Ich dachte nach.
„Dodecahedron ist ein seltsamer Name. Versuchen Sie, die Nachricht zu senden: ‚Seid gegrüßt, Senet Mehen. Sorri Lyrax bittet um das Vergnügen Eurer Gesellschaft, um sich über ein gewagtes Angebot zu erkundigen.'“
„Das klingt wie Spam“, sagte der Captain.
„Nun, manchmal funktioniert Spam. Schicken Sie es“, sagte ich.
Der Captain schaute ungläubig, als er die Nachricht eintippte und schüttelte die ganze Zeit den Kopf.
Während wir warteten, hatte er ein Grinsen auf den Lippen, als ob er wüsste, was passieren würde.
Zu unserer beider Überraschung erschien eine Nachricht auf dem Display.
[Seid gegrüßt, Sorri Lyrax, welches Angebot erwartet uns?]
„Es ist, als ob ihr beide eine fremde Sprache sprecht“, sagte der Captain. „Wie lautet die Antwort?“
„Ein Dodecahedron ist ein Würfel mit zwanzig Seiten. Man benutzt ihn für Spiele. Er muss Spiele mögen. Wahrscheinlich nutzt er die Ruhezeiten während der Raumfahrt, um sie zu spielen. Ich vermute, dass er ein umfangreiches VR-Set oder eine spezielle Glaswand hat. Bitte antworten Sie: Vita Perry gestrandet. Rettungsschiffe nähern sich, aber Sorri Lyrax braucht Fahrt. Wird bezahlt“, sagte ich.
Nachdem der Kapitän den Text eingegeben hatte, warteten wir eine Weile, bekamen aber keine Antwort.
„Mist“, sagte ich und öffnete mein MobiGlas, um darin nach Gamer-Begriffen zu suchen. Ich hatte Kinder in meinem Alter gesehen, die mit solchen Würfeln spielten, als ich aufwuchs, aber mein Vater ließ mich immer in der Bar arbeiten. Spiele sind etwas für Kleinkinder, hat er mir mit seiner schroffen Stimme erklärt, wenn ich mich nach einem Besuch in einem dieser Läden erkundigte.
„Probieren Sie das mal: ‚Sorri Lyrax in großer Not. Nehmt ihr eine Suche an?'“ sagte ich.
Die Antwort kam so schnell zurück, dass ich dachte, es sei ein Fehler. Er wollte mich umsonst mitnehmen. Der Fleck bewegte sich auf Vita Perry zu.
„Ich kann nicht glauben, dass das wirklich funktioniert hat. Aber du musst einen weiteren EVA machen, um die Dodecahedron zu erreichen“, sagte er. „Ich kann nichts mehr riskieren wegen der beschädigten Hülle. Ich werde einen neuen Anzug kaufen, wenn wir wieder auf einer Station sind, aber du wirst für den, den du trägst, bezahlen müssen, da wir keine Möglichkeit haben werden, ihn zurück zu bekommen.“
„Das werde ich sofort tun“, sagte ich und rief mein MobiGlas auf, um das Geld zu überweisen.
„Danke.“
Er zwinkerte mir zu.
„War mir ein Vergnügen.“
Der Rest der Passagiere hatte unseren Austausch mitbekommen, da wir die Kabinentür offengelassen hatten und so wurde ich mit einer Mischung aus Anerkennung und Erleichterung verabschiedet. Ich glaube, einige von ihnen hielten mich für einen Pechvogel. Der Banu in den cremefarbenen Gewändern schien zu schlafen, was meinen Abschied weniger unangenehm machte. Ich setzte den Helm wieder auf, hängte den Koffer an einen Gurt und ging zur Luftschleuse. Zuerst war ich besorgt, dass die Annäherung der „Dodecahedron“ einen gefährlichen Aufprall verursachen würde, aber der Pilot des Schiffes führte ein geschicktes Manöver durch, drehte das Schiff und bremste mit den Triebwerken bis zum Stillstand ab.
Das einzige Problem war die Lücke zwischen den beiden Luftschleusen. Ich hatte etwa zehn Fuß die ich ohne Leinen überqueren musste. Ich fühlte mich, als stünde ich über einer bodenlosen Gletscherspalte. Schließlich überredete ich meine Füße, sich abzustoßen. Der Flug zwischen den Schiffen war kurz und ich erreichte die „Dodecahedron“, bevor ich ein zweites Mal Luft holen konnte. Nachdem ich die Luftschleuse passiert hatte, betrat ich das Schiff und dachte, ich wäre in ein Antiquitätengeschäft auf Sol teleportiert worden.
Ich nahm meinen Helm ab und atmete den ungewohnten Geruch von altem Holz und Pflegeöl ein. Ich hatte mich in Senet Mehen völlig geirrt. Er vertrieb sich die Zeit nicht mit VR-Spielen. Er vertrieb sich die Zeit mit antiken Spielen und Puzzles, die so kunstvoll gestaltet waren, dass sie wie Kunstwerke aussahen. Handgeschnitzte Regale waren aus glattem Holz gefertigt. Vollgepackte Regale, die vom Boden bis zur Decke reichten, enthielten so ziemlich jedes Spiel, das jemals hergestellt wurde und absolut keine Elektronik. Es waren keine massenhaft hergestellten Spiele und Puzzles, sondern von Handwerkern aus Liebe in Handarbeit gefertigt. Auf einem achteckigen Tisch in der Mitte der Hauptkabine stand das Prunkstück der Sammlung.
Ich hatte davon einmal eine alte Zeichnung auf Castra II gesehen, auf den unmöglichen Treppen zu sehen waren, die scheinbar überall und nirgends gleichzeitig hinführten. Die hölzerne Puzzlestruktur erinnerte mich an dieses Treppenbild, nur dass sie dreidimensional war. Dutzende von ineinandergreifenden Teilen waren auf dem Tisch verstreut. In der Mitte befand sich das laufende Puzzle, das wie ein halb geformter Turm aussah. Schon auf den ersten Blick konnte ich erkennen, dass es falsch zusammengesetzt worden war.
„Ich spüre Ihre Enttäuschung darüber, wie ich das Puzzle zusammengesetzt habe. Ich fürchte, ich teile Ihre Einschätzung“, sagte eine Stimme durch die Tür.
„Der Designer behauptete, das Rätsel sei von mittlerem Schwierigkeitsgrad, aber ich arbeite seit einem halben Jahr ohne Fortschritte daran.“
Senet Mehen war nicht so, wie ich erwartet hatte. Er war ein schlanker, korrekter Mann in einer Weste und Tweed Jacke. Sein Schnurrbart und sein Bart waren gepflegt. Er hätte ein Professor für Altertümer sein können, der in einer muffigen Universitätsbibliothek lebte.
„Ähm, hallo. Ich bin Sorri“, sagte ich reflexartig.
„Ja, wir kennen uns bereits. Die seltsame, aber interessante Nachricht“, sagte er, während er seine Finger verschränkte. „Du spielst gerne.“
„Sicher, ja. Das ist etwas, das mir Spaß macht“, sagte ich.
„Welche Spiele?“, fragte er.
Ich runzelte die Stirn.
„Äh.ich denke, die, bei denen es darum geht, die Lieferungen zu den geringsten Kosten zu erledigen. Ich bin ein Kurier. Die Vita Perry ist gestrandet und ich versuche, über Kilian nach Tyrol IV zu kommen.“
„Ein Kurier?“, sagte er mit einem Anflug von Abscheu in der Stimme. „Dieses Schiff ist ein Forschungsschiff, ein Raumfahrtmuseum! Ich bereise die Galaxis auf der Suche nach antiken Spielen aus allen Kulturen. Bei meinem letzten Besuch habe ich ein Xi’an-Verhörspielwürfel, ein erhabenes Stück Geschichte, gefunden. Die Xi’an stülpen den Kasten über die Hände ihrer Gefangenen und nur wenn sie eine Reihe von Hebeln und Schiebern im Inneren des Kastens lösen können, werden sie befreit. Andernfalls verlieren die Gefangenen ihre Hände. Auf der Klinge im Inneren ist noch altes Blut.“
Senet Mehens Begeisterung für ein verdrehtes Stück Kriegsschmuggelware gab mir ein flaues Gefühl im Magen.
„Nun, ich, ähm …“
Die Worte rannen mir aus dem Mund. Es war ein seltener Moment, in dem ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
Senet Mehen versteifte sich, bevor er verkündete: „Da du nicht ganz ehrlich zu mir warst und meine Werte nicht teilst, kann ich unsere Vereinbarung nicht einhalten. Ich hatte vor, Dich, wie gewünscht, im Kilian-System zu lassen, aber ich habe keine Geduld für Wohltätigkeit und plane, zum Stanton-System weiterzureisen, wo ich hoffe, ein gläsernes Matrjoschka-Nestbau-Puzzle zu erwerben. Du kannst Deinem Bedürfnis ndann auf unserer Ankunftsstation nachgehen. Bis dahin, kannst Du Dich an diesem Ort ausruhen, aber halte Deine Finger fern von meinen Wertgegenständen oder ich werde Dich aus der Luftschleuse werfen.“
Senet Mehen kehrte durch die Kabinentür zurück und ließ mich in dem mit Rätseln vollgestopften Raum allein zurück Ich sackte gegen das Tischbein und atmete tief durch, bevor ich versuchte, mit der Faust gegen die Wand zu schlagen.
Regel Nummer fünf: Niemals aufhören zu denken.
Aber was passiert, wenn man mit einem rätselanbetenden Verrückten festsitzt, der dich nicht von seinem Schiff lassen will?
Kapitel 03
[Zeit: 54:11:20]
Die „Dodecahedron“ hatte bereits das Kilian-System durchquert und war auf dem Weg durch Ellis zum Magnus-Sprungpunkt, von wo aus Mehen seinen Weg nach Stanton fortsetzen würde. Es war genau die entgegengesetzte Richtung, in die ich wollte. Unter normalen Umständen hätte sich der Pilot des Schiffes an seine Abmachung gehalten und mich bereits an einer Station abgesetzt, damit ich meine Reise nach Tyrol IV fortsetzen und meine Lieferung pünktlich abschließen konnte. Unter normalen Umständen hätte ich auch einen Platz zum Sitzen gefunden, der nicht aus einem leicht über dem Gefrierpunkt liegendem Schiffsboden mit lauter Holzspielen und Puzzles bestehen würde.
Aber nichts an „Dodecahedron“ war bisher normal gewesen. Jetzt war ich dabei meinen Zeitplan zu sprengen. Ich würde alle meine Ersparnisse aufbrauchen und bald wieder bei Null anfangen. Ich hatte noch nicht aufgegeben, aber ich hatte auch keine Ideen mehr, wie ich Mehen davon überzeugen konnte, mich zu einer Ellis-Station zu bringen. Ich hatte gedroht, seine Puzzles zu zerstören, darauf erwiderte er ruhig, dass er dann die Sauerstoffzufuhr unterbrechen und meinen Körper aus der Luftschleuse werfen würde. Zuerst dachte ich, es sei ein schlechter Scherz. Aber da ich meine Reise weder auf der „Vita Perry“ noch auf der „Dodecahedron“ registrieren ließ, würde niemand erfahren, dass Mehen mich getötet hatte. Kurzum: Ich war ihm hilflos ausgeliefert. In Anbetracht dieser Situation hätte ich mich glücklich schätzen sollen, dass er mich nicht längst niedergeschlagen und in winzige Puzzlestücke geschnitten hatte. Ich konnte diesen Mann einfach nicht einschätzen.
Männer wie er kamen nie in die Bar meines Vaters. Gelegentlich sahen wir „echte Menschen“ – so nannte mein Vater jeden, der mehr als zehn Minuten über ein Thema redete, bei dem es nicht darum ging, etwas zu bauen, zu reparieren oder zu bedienen. Jemand der hereinstolperte, den der Regen durchnässt hatte und der ein trockenes Plätzchen suchte, um sich zu aufzuwärmen. Viele fragten dann nach der Speisekarte und wenn mein Vater auf die Liste mit den acht Gerichten an der Wand zeigte, hielt sich ihre Begeisterung meist in Grenzen. Um fair zu sein, der Begriff „kochen“ war in der Bar meines Vaters recht großzügig gewählt. Wir führten eine Auswahl an verschiedenen lebensmittelähnlichen Mahlzeiten, die wir in halbwegs regelmäßig gewechseltem Öl als Kurzgebratenes anboten. Mein Vater hatte das Essen nur, weil die Betrunkenen nachts etwas brauchten, als Grundlage für den Alkohol, bevor sie unsere Bar wieder verließen.
Ich hatte also nur meine kurzen Interaktionen mit Senet Mehen und seinem fliegenden Museum der Rätsel, um ihn zu beurteilen. Eigentlich war ich einfach nur ratlos, was ich nun machen sollte. Man könnte ihn durch einen Sortierroboter und einen programmierten Autopiloten ersetzen und das Schiff würde ohne Probleme weiterfliegen. Und genau das war das Problem. Weder verstand er die Menschen, noch interessierte er sich für sie. Menschen. Wir waren ein leeres Blatt für ihn. Verdammt, meine erste Nachricht an ihn war wie eine Spam-Mail gewesen. Eigentlich hätte ich misstrauischer sein sollen, als ich seine Antwort bekam. Normale Leute wussten genug über die menschliche Natur, um solche Nachrichten zu ignorieren. Stattdessen interessierte er sich nur für das Rätsel in der Nachricht und für nichts anderes. Jetzt fand ich das ehrlich gesagt, ein wenig traurig. Ich fragte mich, welche Art von Kindheit ihn von der Menschheit weggetrieben hatte, um sich in einer Rumpelkammer zu verstecken, die durchs All fliegt.
Es mag heuchlerisch erscheinen, wenn ich das sage, da ich etwas Ähnliches machte. Ich war aber nicht Kurier geworden, um zwischen den Sternensystemen zu reisen – um der Reise selbst. Ich wollte vielmehr die Menschen an jedem Zielort kennenlernen, ihre Bräuche, mich vor ihren Mahlzeiten ekeln, auf ihren Partys unbeholfen tanzen und über ihre Witze lachen.
Frustriert und frierend, ohne die Möglichkeit Senet Mehen zu erreichen, starrte ich auf den Puzzleturm auf dem Tisch. Die gezackten, fraktalartigen Teile sollten sich eigentlich dreidimensional zusammenfügen lassen und eine hölzerne Skulptur ergeben. Für sich genommen schienen die Teile unmöglich zuordenbar zu sein. Ich hatte schon Mobi-Puzzle zusammengesetzt, als ich ein junges Mädchen war, aber bei denen gab es immer ein Bild, das als Vorlage diente. Bei diesem Puzzle schien es kein vorgefasstes Ergebnis zu geben. Die verrückt ineinandergreifenden Teile mussten auf scheinbar zufällige Weise zusammengefügt werden, um die endgültige Form zu bilden. Als einzige Hinweise, die der Erfinder gegeben hatte, waren hauchdünne Umrisslinien auf den einzelnen Teilen zu sehen.
Ich war beileibe kein Rätselexperte und plötzlich war ich sehr überrascht, dass Senet Mehen nicht in der Lage war, dieses Rätsel zu lösen, wenn es, wie er sagte, nur einen mittleren Schwierigkeitsgrad hatte. Das brachte mich zum Nachdenken: Was wäre, wenn es nicht die Fähigkeit zum Lösen von Problemen erforderte, sondern etwas, das Senet Mehen fehlte?
Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich hatte, bis wir den Magnus-Sprungpunkt erreichen würden, aber wenn ich das Rätsel bis dahin lösen konnte, hatte ich eine Chance. Ich fing schnell an, die Teile zu ordnen und versuchte zu verstehen, wie sie zusammenpassten. Zuerst versuchte ich, die geometrischen Formen zuzuordnen, beendete das aber wieder, da Senet Mehen das wahrscheinlich auch schon versucht hatte. Also brauchte ich mir nicht die Mühe gar nicht erst machen. Dieser Gedankengang eliminierte ein paar andere Strategien. Das betraf im Grunde alles, was mit Geometrie, Physik oder Mathematik zu tun hatte. Auf jedem Stück waren mit Tinte gezeichnete Linien zu sehen, die mich an die Umrisse einer Landkarte erinnerten. Das stimulierte mein Gedächtnis, aber ich konnte nicht erkennen, was sie insgesamt darstellten. Jeder Abschnitt war so schmal, dass er nicht genügend Informationen lieferte. Anstatt die einzelnen Stücke zu betrachten, dachte ich darüber nach, was sie darstellen könnten – etwas, das Senet Mehen übersah. Als ich mein Spiegelbild auf dem hochglanzpolierten Tisch erblickte, wusste ich die Antwort plötzlich: Gesichter.
Senet Mehen wusste nichts über Menschen, also wusste er auch nicht Gesichter zu deuten. Ich hatte gehört, dass Soziopathen andere Individuen als austauschbar betrachteten. Es dauerte nicht lange, bis ich aus einem Dutzend Teilen ein Teilgesicht konstruiert hatte. Eine Frau mit windgepeitschtem Haar und eine Stirn mit gewölbten Augenbrauen bildeten sich auf dem gebogenen Holzteil. Für den Fall, dass Senet Mehen mich über eine Videokamera beobachtete, hörte ich auf, das Puzzle zu lösen und mischte die Teile schnell wieder durcheinander. Dann begann ich Fotos zu machen und benutzte mein MobiGlas, um sie weiter zu studieren. Dabei fand ich das Ziel des Puzzles heraus: Ineinandergreifende Platten zu bilden. Die Gesichter halfen beim Zusammensetzen der Platten und so ergab sich ein großes Bild. Das gesamte Kunstwerk zeigte einen Holzkopf.
Nachdem ich die Bilder sortiert und einige Anleitungen geschrieben hatte, ging ich zurzur Gegensprechanlage an der Vorderseite des Laderaums.
„Hallo, Senet Mehen. Ich muss mit Ihnen über das Rätsel sprechen, das Sie auf Ihrem Tisch haben“, sagte ich.
„Ich habe bereits erklärt, dass ich mich nicht einschüchtern lasse. Alles zu zerstören, würde nur Dein Leben gefährden“, erwiderte er.
„…und wenn ich Ihnen sage, dass ich weiß, wie man das Rätsel löst?“, fragte ich und meine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.
Nach ein paar Augenblicken antwortete er: „Ich würde sagen, Du bist eine Lügnerin. Ich habe meine Feeds überprüft und das Rätsel sieht genauso aus wie damals, als ich es verlassen habe.“
„Oh, ich habe es nicht zusammengesetzt“, sagte ich, „aber ich habe herausgefunden, wie man es zusammensetzen kann. Der Rest ist einfach. Ich bin überrascht, dass Sie es nicht selbst schon vor langer Zeit herausgefunden haben. Wann, sagten Sie, haben Sie mit der Arbeit daran begonnen?“
Die Verbindung knisterte statisch und dann hörte ich einen gedämpften Wutschrei. Ich hatte seine Aufmerksamkeit.
Nach ein paar Minuten antwortete er: „Was willst Du?“
„Setzen Sie mich bei Green ab. Der Planet ist nicht weit vom Magnus-Sprungpunkt entfernt. Es wäre also kein Umweg für Sie“, sagte ich und atmete tief durch. „Und im Gegenzug, verrate ich Ihnen, wie Sie das Rätsel lösen können.“
„Nein, das ist ein Trick. Es ist unmöglich, dass jemand wie Du…“
„Jemand wie ich?! Ja … Vielleicht bin ich damit aufgewachsen Drinks an mürrische Leute auszuschenken und habe mir ihre Sorgen und Nöte angehört, darüber, wie sie ihr Leben lang verarscht wurden – und nicht alle waren unbegründet – aber ich bin ausgestiegen. Ich will etwas Besseres werden. Ich mag für jemanden wie Sie gewöhnlich sein, aber ich habe Ihr verdammtes Puzzle gelöst – in nur ein paar Stunden. Wenn Sie also wissen wollen, wie man es zusammensetzt, schicke ich Ihnen eine Datei, die die fehlende Information enthält, die Sie bisher von der Lösung abgehalten hat. Aber ich schicke Ihnen die Information erst, wenn ich sicher in Green bin, nicht früher und nicht später. Haben wir eine Abmachung?“
Der Ausbruch fühlte sich sehr gut an. Hoffentlich war ich nicht zu weit gegangen war. Die Stille war bedrückend. Eine kleine Ewigkeit verging. Als das Funkgerät wieder zum Leben erwachte, schloss ich die Augen und drückte mir die Daumen.
„Als Gegenleistung für die Lösung werde ich meine Reise nach Green umleiten“, sagte er. „Bereite dich darauf vor, in fünfeinhalb Stunden von Bord zu gehen.“
Erleichterung durchflutete meine Glieder. Ich ließ mich auf den Boden sinken und stützte meinen Kopf in die Hände. Ich war wieder auf dem richtigen Weg. Tatsächlich war ich jetzt einen Sprung näher an Tyrol und dieses ganze Schlamassel auf der „Dodecahedron“ würde mir sogar etwas Zeit sparen. Als wir uns einem kleinen Knotenpunkt in einer weiten Umlaufbahn um Green näherten, zog ich den EVA-Anzug aus, den ich bis dahin aus Wärmegründen anbehalten hatte und begann nach einem Schiff zu suchen, das zum Taranis-System flog. Als ich die „Dodecahedron“ verließ, gab es keinen Abschiedsgruß, aber ich blieb lange genug, damit er die Lösung überprüfen konnte. Seine Augen weiteten sich, als er sah warum das Rätsel seinen Bemühungen, es zu lösen, widerstanden hatte.
„Das is ziemlich bemerkenswert. Hattest du Zeit, dir ein anderes Rätsel anzusehen?“, fragte er.
Ich war so ungläubig über sein Angebot, dass ich fast vergaß zu antworten.
„Nein, tut mir leid. Ich muss ein anderes Schiff erwischen.“
„Ah“, sagte er. „Leb wohl und viel Glück.“
Ich war rechtzeitig gelandet, um einen Transport nach Bethor auf der Oberfläche von Taranis III zu erreichen und wollte ihn nicht verpassen. Ich erreichte die „Filigree Angel“ früh genug. Das Schiff war innen langweilig angesichts meiner neu entdeckten Liebe zu beigen Teppichen und bequemen Sitzen. Die Reise war ereignislos, aber trotz des Mangels an Reizen konnte ich nicht schlafen. Mit der Landung in Bethor war ich auf halbem Weg zu meinem Ziel. Tatsächlich fand ich zwei weitere Flüge, die sich perfekt aneinanderreihten und mich mit einem halben Tag Vorsprung nach Tyrol IV brachten. Ich konnte die Credits praktisch schon riechen, die bald auf mein Konto fließen würden. Ich war ein Jahr näher an meinem Traumschiff, der Aurora LX.
Ich hatte noch nicht gewagt, ihr einen Namen zu geben, weil ich das für zu anmaßend hielt, aber wenn dieser Tag kam, würde es glorreich werden.
[Zeit: 31:05:05]
Der Anflug auf Taranis III war spektakulär. Der sturmgeplagte Planet knisterte vor Elektrizität. Die nördliche Hemisphäre war in Dunkelheit gehüllt, was die glühenden Gasspuren, die sich durch die obere Atmosphäre züngelten noch gigantischer wirken ließ. Es war, als schlängelten sich tausend Kilometer lange riesige leuchtende Schlangen über den Himmel. Das einzige, was ich auf dem Planeten sehen konnte, war eine blaue Kuppelstation, die hoch über dem Äquator schwebte. Bethor war die Heimat einer großen Siedlung von Tevarin und menschlichen Flüchtlingen und Auswanderern. Im Grunde war es die Heimat von jedem, der der Reichweite des Zugriffs des Empires aus dem einen oder anderen Grund entkommen wollte. Die Wolkenstadt war einer der zivilisierteren Teile des unzivilisierten Raums. Allerdings hatte ich keine Zeit, alles richtig zu genießen. Ich bin sicher, ich würde eines Tages zurückkommen müssen, wenn kein Countdown über meinem Kopf schwebte. Es war daher nur ein kurzer Zwischenstopp bevor es mir gelang, ein anderes Schiff nach Tangaroa im Helios-System zu buchen.
[Zeit: 22:13:56]
Abgesehen vom Piloten, der für meinen Geschmack ein bisschen zu viel sang, war der Flug nach Helios so reibungslos wie nur möglich. Das Problem war der Verkehr außerhalb des Tangaroa-Umsteigeknotenpunkts. Die Schiffe stauten sich in einer langen Reihe, um auf die Landeerlaubnis an der belebten Station zu warten. Etwa die Hälfte der Schiffe waren Starliner mit Touristen, die kamen, um an den Stränden des Ozeanplaneten Urlaub zu machen und in den gewaltigen Wellen zu tauchen. Es war ein weiterer Ort, den ich auf meine Liste der Orte setzte, die ich unbedingt besuchen wollte. Es dauerte noch etwa eine Stunde, bis wir landen konnten und zu diesem Zeitpunkt bedauerte ich, dass ich keinen EVA-Anzug hatte. Aus dem Schiff zu springen, wäre besser gewesen, als eine weitere Strophe des Lieblingsliedes des Piloten, „No Room for Love“, zu hören.
Nachdem ich durch die Sicherheitskontrolle gegangen war, machte ich mich auf den Weg durch die Station zu meinem nächsten Flug. Das Gedränge war überwältigend, die Erschöpfung der Reise in den Knochen, hätte ich sie beinahe nicht gesehen – Betrix LaGrange kam aus einem anderen Tunnel, ihr blondes Haar wippte, während sie offenbar Songs auf ihrem MobiGlas hörte. Sie hielt einen Moment inne, um ihren rechten Schuh zu richten. Ich nutzte den Moment, um mich umzudrehen und direkt durch die nächste Tür zu gehen. Eine männliche Stimme räusperte sich. Ich sah mich um und erkannte, dass die Tür, die ich blindlings gewählt hatte, die Herrentoilette war. Ich ging in eine Kabine, bevor jemand anderes hereinkam, setzte mich hin und überlegte mir meinen nächsten Schritt. Was hatte Betrix hier zu suchen? Hatte sie einen Plan, um mir den Koffer zu stehlen oder war das der reine Zufall? Plötzlich schien der Weg nach Tyrol IV wieder voller Gefahren zu sein. Ich überprüfte meine Nachrichten von FTL und fand eine Liste von Lieferungen, für die nächsten zwei Tage. Irgendwie hatte man mich ohne meine Zustimmung angemeldet und die normalen Protokolle über solche Dinge außer Kraft gesetzt.
„Was zum…?“
Betrix musste ihren Freund beauftragt haben, meinen Terminplan zu überladen, um mich vor die Wahl zu stellen, meinen Job bei FTL zu behalten oder nach Tyrol IV zu fliegen. Die Termine waren überschaubar, vorausgesetzt, ich ging sofort und machte mich auf den Weg zurück nach Sol. Es gab genug Lieferungen – wenn ich sie verpasste, würde ich auf Bewährung gesetzt, was für die Firma nur eine Formalität bedeutete bevor die Entlassung folgte. Jobs zu stornieren, sobald man sie angenommen hatte, war fast genauso schlimm. Wütend schlug ich gegen die Plastikwand, so fest ich nur konnte.
„Gibt es ein Problem?“, kam eine tiefe Stimme von der anderen Seite.
„Kein Klopapier“, sagte ich und senkte meine Stimme.
Eine in weißes Zellophan gewickelte Rolle wurde unter der Wand durchgeschoben. Die schnelle
Reaktion fiel mir auf, also beugte ich mich hinunter. Auf der anderen Seite der Wand lag ein Stapel Klopapier, ordentlich aufgereiht oder zu Türmen und Pyramiden gestapelt. Der Herr in der nächsten Kabine schien sie zu horten.
„Nein danke“, sagte ich. „Ich habe Servietten.“
Als ich mich wieder meinem aktuellen Dilemma zuwandte, erkannte ich: Betrix hatte mich in die Enge getrieben. Ich wusste, dass sie darauf zählte, dass ich die Lieferung abbrach und meinen Job rettete, damit sie mir den Koffer wegnehmen konnte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich hatte die Reparatur eines Schiffes im Weltraum und einen verrückten Weltraumfahrenden überlebt. Nun wollte ich mich nicht von diesem kleinen Miststück aufhalten lassen. Die Spülung der Toilette auf der anderen Seite rauschte, was mich daran erinnerte, wo ich mich versteckt hatte. Während ich mir die Nase zuhielt, weil der Geruch des Nachbarn unter der Plastikwand durchquoll, studierte ich die FTL-Liste. Wenn ich die freiberufliche und dann zwei der anderen sechs Lieferungen mit nicht-kommerziellen Schiffen priorisieren würde und den Rest ignorierte, käme ich knapp über die Bewährung. Das Kunststück würde mich mehr Credits kosten als erwartetet und ich dürfte erst in zwei Jahren wieder einen Fehler machen, aber es könnte funktionieren.
Natürlich setzte das alles voraus, dass Betrix nicht noch eine andere Strategie als Ass im Ärmel hatte. Um sicherzugehen, sollte ich meinen Flug erreichen, ohne ihr zu begegnen. Als ich die Kabine verließ, stolperte ich in einen Hausmeister in einem blaugrünen Overall mit Firmenhut, in der einen Hand eine Sprühflasche und einen Lappen in der anderen Hand. Sein Wagen war voll beladen mit Reinigungsmitteln. Er quittierte mein Geschlecht mit einem Zwinkern, bevor er mit dem Wischen des Waschbeckens fortfuhr. Ich runzelte die Stirn und die Nase, nicht wegen des furchtbaren Geruchs, der immer noch in der Herrentoilette herrschte, sondern wegen einer Idee.
„Entschuldigen Sie“, sagte ich. „Möchten Sie ein paar Credits machen?“
*****
[Zeit: 20:58:44]
Die Kleidung des Hausmeisters erfüllte ihren Zweck. Ich war nicht so besorgt über mein Outfit wie über den silbernen Koffer. Das war der Grund weshalb ich den Hausmeister bestochen hatte, mir seinen Wagen zu leihen. Der silberne Koffer war unter den Reinigungsmitteln versteckt. Betrix hatte sich in der Nähe einer Landungsbrücke positioniert, wo mein Schiff wartete. Sie scannte die Leute, die an ihr vorbeigingen. Ich hielt meinen Kopf gesenkt, damit der Hut mein Gesicht verdeckte und ging weiter. Die Station war so belebt, dass Betrix ihre Aufmerksamkeit auf die Suche nach dem silbernen Koffer konzentrierte. Er war ziemlich auffällig. Ich musste hoffen, dass das genug war, um an ihr vorbei zu kommen. Als ich mich ihrer Position näherte, hielt ich den Atem an. Betrix stand auf ihren Zehenspitzen und versuchte über die Menge hinwegzusehen. Als ich näherkam, war ich sicher, sie würde meinen ausgebeulten Overall bemerken und erkennen und dass ich es war unter dem Hut.
Aber so schnell wie ich mich ihr genähert hatte, war ich auch schon an ihr vorbei und ging in die Röhre. Weitere fünfzig Meter weiter zog ich den Overall aus und holte den Koffer heraus. Ich stellte den Wagen dort ab, wo der Hausmeister es mir gesagt hatte. Dann eilte ich in Richtung meines Ziels, in der Hoffnung, dass sie mich früher an Bord lassen würden, falls Betrix mich suchen würde.
Das Tor war in Sichtweite, als ich sah, wie die Sicherheitskräfte die Tür schlossen. Mein MobiGlas zeigte an, dass ich nicht zu spät war. Ich war verwirrt, bis ich die Anzeigen an der Wand bemerkte, die alle gestrichenen kommerziellen Flüge auflisteten. War das auch das Werk von Betrix? War sie mächtiger und verzweifelter, als ich es ihr zugetraut hatte?
Ein paar verärgerte Kunden hatten sich bereits am Schalter für kommerzielle Flüge angestellt. Ich wusste, dass ich dort nichts erfahren würde, aber ich erspähte eine Gruppe von Sicherheitsbeamten, die sich an einem Verkaufsautomaten unterhielten. So unauffällig wie möglich tat ich so, als würde ich meine Schnürsenkel binden, während ich ihrem Gespräch lauschte.
„…keine Ahnung, warum … nur dass wir abgeriegelt sind…“
„… es ist eine medizinische Quarantäne. Ein Code Gelb, also nicht tödlich, aber sie wollen nicht, dass es nach außen dringt. Das lässt die Leute durchdrehen. Ich habe gehört, dass der erste, der krank war, sich die Haare einzeln ausgerissen hat…“
„… verdammt, das bedeutet, dass ich das Sataballspiel meines Sohnes verpassen werde….“
„…aber wenigstens bekommen wir Überstunden…“
„… sagen sie, wie es übertragen wird?“
„…ein Kontaktvirus. Also sollte es sich nicht zu schnell ausbreiten, es sei denn, es wird über Lebensmittel aufgenommen…“
Mist. Quarantäne. Wer weiß, wie lange die dauern wird? Da die Handelsschiffe stillgelegt waren, gab es keine Möglichkeit, von der Station wegzukommen, es sei denn, ich fand einen Captain, der bereit war, die Quarantäne zu durchbrechen. Als ich mich auf den Weg zurück zum Hauptterminal machte, suchte ich in der Schiffsliste nach kleinen Schiffen mit neueren ID-Nummern. Diese würden mir die besten Chancen bieten, da sie die Credits wahrscheinlich am dringendsten benötigten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie mich mitnehmen würden war zwar gering, aber ich musste es versuchen. Ich hatte drei Schiffe ausgemacht, als ich meinen Namen mit altbekannter Verachtung hörte.
„Sorri Lyrax“, sagte Betrix und verschränkte die Arme. „Es sieht nicht so aus als würdest du deine Lieferung machen.“
„Falls du es noch nicht bemerkt hast, niemand verlässt die Station, also auch du nicht“, sagte ich. „Keiner von uns beiden wird den Auftrag jetzt abliefern.“
Als das selbstgefällige, süffisante Lächeln auf ihren Lippen erschien, wusste ich, dass ein Schiff auf sie wartete und sie und den Koffer direkt nach Tyrol IV bringen würde. Betrix war auch unorthodoxen Methoden nicht abgeneigt, wie es schien.
„Übergib mir den Koffer. Du hattest einen guten Lauf, aber er endet hier. Ich gebe Dir fünf Prozent, als Zeichen des guten Willens“, sagte sie und streckte ihre Hand aus.
„Warum willst Du diesen Job unbedingt haben?“, fragte ich.
„Ich spare, um mir ein Schiff zu kaufen, du Dummkopf“, sagte sie. „Eine Aurora LX. Den besten
Langstreckentransporter für einen freiberuflichen Kurier. Komfortabel wie die Sünde. Ich habe eine Nachbildung des Kapitänssessels aus Lackleder in meiner Wohnung auf Saisei, der nur darauf wartet, eingebaut zu werden.“
Das Feuer in ihren Augen glühte förmlich. Auch wenn ich nicht mit ihren Methoden einverstanden war, wusste ich genau, was sie antrieb. Es war das, was auch mich dazu brachte, mit jeder Lieferung ein Risiko einzugehen. Dieses Wissen ließ mich erkennen, so ungern ich es auch zugeben mochte, dass wir vielleicht sogar etwas gemeinsam hatten.
„Warum?“, beharrte ich.
„Was sollen die ganzen Fragen?“, fragte Betrix und schaute sich um, als hielt sie es für einen Trick.
„Wenn Du mich bei Laune hältst, übergebe ich Dir vielleicht den Koffer“, sagte ich.
Betrix zuckte zurück, als ob dieser Schachzug unter diesen Umständen lächerlich erschien. Fast hätte sie meine Frage ignoriert, doch dann spannte sich ihre Unterlippe, als kämen ungewollte Gefühle hoch.
„Ich möchte niemals auf irgendeinem Planeten festsitzen. Niemals. Der Weltraum ist der einzige Ort, an dem man sicher und frei sein kann“, sagte sie.
Das Feuer, das in ihren Augen brannte, wurde von Dunkelheit verschluckt. Ich wollte nicht wissen, was ihr so viel Schmerz bereitet hatte. Und so sehr ich auch jeden Zentimeter an ihr hasste, wollte ich sie in diesem Moment doch in die Arme schließen. Während ich über die verrückte Idee nachdachte, die ich ihr gerade anbieten wollte, bemerkte ich etwas, dass mit dem Obstverkäufer in der Nähe etwas Merkwürdiges passierte. Er hatte seine Waren genommen und auf den Boden geworfen und sortierte sie nun nach Form und Farbe in Gruppen. Die Fahrgäste in der Umgebung machten einen großen Bogen um ihn. Das war nicht die einzige Merkwürdigkeit in der Umgebung. Ein Geschäftsmann hatte seinen Koffer auf den Boden gestellt und seine Kleidung auf einen Stapel gelegt. In der Ferne, sah ich eine Gruppe von Leuten in gelben Schutzanzügen in unsere Richtung marschieren. Mist.
„Hör zu, wir sollten uns nicht streiten“, sagte ich in einem hastigen Atemzug. „Wir wollen beide das Gleiche. Wir sind beide schlau, klug und ehrgeizig. Aber unser Konkurrenzkampf kostet uns Credits, obwohl wir als Team arbeiten könnten. Was wäre, wenn wir die Lieferung zusammen machen und dann unsere Credits zusammenlegen, um eine Aurora zu kaufen und sie für eine Zweier-Crew umbauen lassen? Ja, ich weiß, wir würden uns wahrscheinlich immer noch hassen, aber es wäre ja nur für ein Jahr oder so und wir könnten sicher genug verdienen, um ein zweites Schiff zu kaufen und dann getrennte Wege zu gehen. Bevor du Nein sagst, denk darüber nach. Das würde unsere Pläne, auf eigenen Füßen zu stehen, um Jahre verkürzen. Wenn wir bereit sind, uns gegenseitig zu ertragen, können wir sicher bis Ende dieses Jahres ein Schiff haben und innerhalb von zwei Jahren auf uns selbst gestellt sein.“
Für einen kurzen, wunderbaren Moment war sie ein völlig anderer Mensch. Kein Fünkchen von der selbstverliebten, manipulativen, hasserfüllten Person, die ich sonst kannte. Ich schloss daraus, dass ihr noch nie jemand das Angebot gemacht hatte, mit ihr zusammenzuarbeiten. Plötzlich ergab ihr abweisendes und oft bösartiges Verhalten einen Sinn, obwohl ich nicht wusste, welcher ursprüngliche Schmerz es verursacht hatte. Dann verhärteten sich ihre Gesichtszüge langsam, als würde Frost ihre Seele zufrieren. Als die Worte „Nein, niemals“ ihre Lippen erreichten, hatte ich bereits einen neuen Plan.
„Na schön. Aber sag niemals, ich hätte es nicht versucht.“
Ich versuchte, an Betrix vorbeizugehen, aber sie hielt mich am Arm fest. Ich hätte schwören können, dass sie ein verkleideter Androide war, so fest war der Griff.
„Lass mich los, Betrix“, sagte ich.
„Du wirst diese Lieferung nicht machen“, sagte sie, während sie nach dem Koffer griff.
Ich versuchte, meinen Arm freizubekommen, aber sie ließ mich nicht los. Die Leute um uns herum
begannen sich zu entfernen, weil sie den Konflikt spürten. Die Leute in Schutzanzügen kamen näher und sie begannen uns zu bemerken.
„Nicht jetzt, Betrix oder du bringst uns beide in eine private Quarantäne“, sagte ich.
Entweder hörte Betrix mich nicht oder es war ihr egal, aber sie zerrte weiter an dem Koffer und versuchte, ihn aus meinem Griff zu reißen. Die gelb gekleideten Beamten hatten ihren Weg geändert und kamen direkt auf uns zu. Als ich merkte, dass sie nicht loslassen wollte, schrie ich:
„Sie hat es! Sie hat es! Sie hat das Virus!“
Regel Nummer sechs: Tu so, als ob du Bescheid wüsstest.
In Momenten der Panik oder Verwirrung, sei die Person, die das Kommando übernimmt, um sicherzustellen, dass sich Chaos um deine Bedürfnisse herum bildet. Das war eine weitere Lektion, die ich von meinem Vater gelernt hatte. Bei den Gelegenheiten, bei denen die korrupte örtliche Polizei in die „Goldene Horde“ kam, um Bestechungsgelder zu verlangen, sorgte mein Vater stets dafür, dass es in dem Moment, in dem sie eintrafen, zu einem „Zwischenfall“ auf der Straße kam. In Wahrheit hatte er einen Freund bei der Polizei, der ihn warnte.. Mein Vater war dann immer draußen während des „Vorfalls“ – normalerweise ein kleines Feuer oder ein gemeldeter Handtaschendiebstahl – und er schrie die Polizei an, sie solle das Feuer löschen oder den Dieb aufhalten, der aber nie gefasst wurde. Trotz ihrer Absichten, eher Geld einzutreiben als ihre Arbeit zu tun, hassten sie es noch mehr, wenn man sie dabei beobachtete, wie sie einfache Polizeiarbeit nicht erledigten, wenn jemand auf ein Problem hinwies.
Nun würden die Leute in Schutzkleidung obwohl mehrere offensichtliche Virusausbrüche in Sichtweite waren, Betrix LaGrange angreifen, weil sie versuchte, wegzulaufen. Andernfalls würden die anderen Leute im Terminal sehen, dass die Männer in Schutzkleidung „ihren Job nicht machten“. Gesellschaftlicher Gruppenzwang war schon ein echtes Miststück.
In dem darauffolgenden Chaos rannte ich im vollen Sprint den Gang hinunter. Zu diesem Zeitpunkt herrschte totales Chaos, da die Leute auf der Station von Panik ergriffen waren. Ich rannte, aber nicht in Richtung der drei Schiffe, sondern auf der Suche nach dem Schiff, das Betrix angeheuert hatte. Ich musste nur zuerst herausfinden, welches es war. Ich befürchtete, dass es schwierig werden könnte, bis ich die Zielorte aller Schiffe in Tangaroa aufgelistet hatte. Zwei Schiffe waren auf dem Weg nach Tyrol IV, aber eines davon war kommerziell. Das bedeutete, dass das andere Betrix‘ Schiff war: die treffend benannte „Vengeance Valkyrie“. Nach einem fünfminütigen Sprint durch die Station zitterte mein Arm vom Tragen des silbernen Koffers. Ich musste mich beeilen, da von Minute zu Minute mehr gelbe Anzüge ankamen. Über die Lautsprecheranlage wurden Durchsagen gemacht, in denen alle zur Zusammenarbeit aufgefordert wurden. Angst schwebte über den Menschen wie eine dunkle Wolke.
Überall waren Anzeichen des Virus zu erkennen. Eine Frau in einer weißen Forschungsjacke war dabei, die Sitze in einem Aufenthaltsraum mit einem Schraubenzieher zu demontieren. Sie hatte die Stützen auf einen Stapel, die Rückenlehnen auf einen anderen gelegt und war damit beschäftigt, den Stoff zu entfernen, um einen dritten Stapel zu bilden. Ein anderer Mann schmierte Gewürze aus dem Lebensmittelbereich an die Wand, während ein dritter einen Automaten umgestoßen hatte und dabei war ihn zu leeren und alle Inhalte neu zu sortieren.
Die „Vengeance Valkyrie“ befand sich in einer privaten Bucht. Ich lief auf das Schiff zu und winkte mit dem silbernen Koffer. Der Aufzug fuhr herunter, aber als ich den Knopf drückte, um ihn nach oben zu schicken, meldete sich eine körperlose Stimme über das Kommunikationssystem.
„Sie sind nicht Betrix“, sagte sie mit einem mir unbekannten Akzent.
„Ich bin ihr Partner. Ich habe den Koffer hier, sie wurde aufgehalten. Sie sagte, ich solle die
die Lieferung ohne sie machen“, fuhr ich fort.
„Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Sie nicht Betrix sind. Sie hat mich angeheuert, also
warte ich auf sie“, sagte der Mann.
„Woher hätte ich sonst wissen sollen, dass ich zu Ihrem Schiff muss, wenn sie es mir nicht gesagt hätte? Beeilen Sie sich und lassen Sie mich an Bord. Wenn wir nicht bald aufbrechen, könnten die Marines kommen, um eine strenge Quarantäne zu gewährleisten und Sie bekommen keine Prämie „, sagte ich und vermutete, dass Betrix ihm eine angeboten hatte.
Ich machte eine Pause und ergänzte: „Ich erhöhe Ihr Honorar um zwanzig Prozent.“
„Woher weiß ich, dass Sie nicht diesen Virus haben, der in der Station ist?“, fragte er.
„Ich habe niemanden angefasst“, sagte ich, aber da ich sofort merkte, dass er den Zusammenhang nicht verstehen würde, ergänzte ich: „Das Virus wird durch Kontakt übertragen. Ich habe zufällig gehört, wie die Sicherheitsleute sich unterhielten.“
Nach einem Moment des Schweigens sagte er: „Fünfundzwanzig.“
„Abgemacht“, sagte ich und hoffte, dass das nicht zu viel war.
Als die Plattform begann, sich in das Schiff zu heben, wollte ich bereits aufatmen, aber das sparte ich mir auf, bis wir im All waren. Der Raum hinter der Kabine war nicht groß, aber er hatte einen Passagiersessel. Ich schnallte mich an, nachdem ich den Koffer unter den Stuhl geschoben hatte.
„Fertig!“ rief ich und hoffte, dass er mich durch die Tür hören konnte.
Ich machte mir Sorgen, dass er seine Triebwerke nicht zünden würde, vor allem, als plötzlich die internen Lichter ausgeschaltet wurden und mich in fast völliger Dunkelheit zurückließen. Mit einem Mal wurde mir schwindelig und ich merkte, dass wir uns bewegten. Er hatte uns von der Schwerkraft der Station gelöst und wir trieben davon, drehten uns. Der Schwung zerrte uns in Richtung des Planeten. Durch das wirbelnde Sichtfenster sah ich wie die UEE-Rettungsschiffe auf der Station landeten. Unser Schiff nahm an Geschwindigkeit auf, während wir weiter auf den Planeten zustürzten. Funken blitzten durch das Sichtfenster. Ich begann mir Sorgen zu machen, dass der Pilot gestorben war, als er im gefühlt letzten Moment doch die Triebwerke einschaltete und uns durch die Atmosphäre steuerte. Wir waren auf der anderen Seite des Planeten, weit weg von der Station und den ankommenden UEE-Schiffen.
Nachdem wir der Quarantäne erfolgreich entkommen waren, flog das Schiff in Richtung des Sprungpunktes Tyrol. Der Kapitän lud mich in die vordere Kabine ein. Er war ein gutaussehender Mann in den späten Dreißigern mit olivgrüner Haut und dunklem Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte. Er sah aus, als gehörte er eher in der Wildnis auf eine windgepeitschte Bergkuppe, umgeben von fremden Bäumen, als in eine Valkyrie. Seine Zähne waren ein wenig schief, aber das machte sein Lächeln noch liebenswerter.
„Satchel“, sagte er und reichte mir die Hand.
Wir schüttelten uns die Hände und ich spürte ein warmes Kribbeln. Vielleicht würde diese letzte Etappe der Reise doch nicht so schlimm sein.
„Möchtest Du eine Orange?“, fragte er und bot mir die Frucht an, nachdem er sie aus einer Tasche gepflückt hatte. „Helios hat gute Früchte und eine der besten Orangensorten. Sie schmecken nach Sonne und Stränden.“
Das klang wie aus einem Marketing-Prospekt.
„Sicher“, sagte ich und streifte leicht seine Hand, als ich die Orange annahm.
Er schenkte mir ein Lächeln, das mich fast ein wenig erröten ließ. Ich fühlte mich ein wenig erschöpft von meinem Sprint durch die Station und dem allgemeinen Schlafmangel. Ich schälte meine Orange in aller Ruhe, während wir durch die große Leere rasten. Mit dem Fingernagel brach ich die Schale auf und begann die Frucht zu schälen. Ich roch daran, ich atmete tief ein. Der Geruch nahm mir meine Erschöpfung. Bevor ich ein Stück essen konnte, bemerkte ich etwas Seltsames auf Kapitän Satchels Schoß. Er hatte seine Orange bereits geschält, aber anstatt sie zu essen, stapelte er die gleichgroßen Stücke und legte sie auf sein Bein. Sobald wir einen Blick tauschten, sah ich die Angst in seinen Augen. Er hatte den Virus, was bedeutete, dass ich es auch hatte und wir waren zu weit weg, um Hilfe zu holen.
Kapitel 04
[Zeit: 18:15:25 ]
Die „Vengeance Valkyrie“ steuerte auf den Helios-Tyrol-Sprungpunkt zu, während Captain Satchel und ich in stiller Verzweiflung auf die orangefarbenen Fruchtstückchen in seinem Schoß starrten. Er hatte den Sortiervirus, den er wahrscheinlich vom Obsthändler bekommen hatte. Das bedeutete, dass ich ihn auch hatte. Es bedeutete auch, dass ich die Lieferung nicht schaffen würde. Aber das war die geringste meiner Sorgen. Wir waren in tödlicher Gefahr, wenn wir das Schiff nicht vor uns selbst schützen konnten.
„Wie lange ist es her, dass Sie dieses Obst gekauft haben?“ fragte ich.
Er sah aus, als würde er sich sichtlich bemühen, seine Orangenstücke nicht aufzuheben. Sein
Kiefer pulsierte.
„Vor etwa zwei Stunden“, sagte er mit erheblicher Anstrengung.
„Das bedeutet, dass wir ungefähr zwei Stunden haben, bis ich erste Anzeichen zeige, vielleicht
weniger, je nachdem, ob das Körpergewicht eine Rolle spielt“, sagte ich und tippte mit den Fingern gegen mein Kinn. Kapitän Satchel streckte die Hand nach den Kontrollen aus. Ich ergriff seinen Arm.
„Was machst Du da?“, fragte er.
„Das hängt davon ab, was du tust“, antwortete ich. „Ich habe beobachtet, wie ein Typ
einen Automaten umgekippt hat und ihm die Inhalte rausgerissen hat. Wenn Du das tust, sind wir
verloren.“
„Ich setze das Quantum, um uns zum Sprungpunkt zu bringen“, erwiderte er.
„Okay, stell den Kurs ein, dann fessle ich dich an den Kapitänsstuhl“, sagte ich und beobachtete
seine Bewegungen aufmerksam. Als er unseren Zielort eingab, ergänzte er: „Hinten sind ein paar Gurte, im Seitenfach unter den Notrationen.“
Ich ging in die zweite Kabine und fand ein paar vertraut aussehende schwarze Riemen.
Satchel beendete die Koordinateneingabe und ging zu seinem Stuhl zurück. Er legte sich die Gurte um seine breite Brust und klickte sie ein. Ich wickelte das Seil um seine Arme, während er mich mit seinen braunen Augen beobachtete.
„Ich weiß, das ist eine ernste Situation, aber ich muss sagen, ich genieße diesen Teil“, sagte er mit einem Augenzwinkern.
„Ist das der Teil, in dem ich dich ausnutze?“, fragte ich und bevor er antworten konnte, beugte ich mich hinunter und gab ihm einen intensiven Kuss.
Wir blickten uns lange an, bis ich den Blickkontakt abbrach.
„Lass dich nie ablenken“, sagte ich und schüttelte den Kopf.
„Ich muss herausfinden, was ich tun muss, bevor mich der Virus auch ausser Gefecht setzt.“
Satchel sah verzweifelt aus. Er zerrte gegen seine Fesseln. Seine Finger zupften am Leder des Sitzes.
„Weißt du, wie lange das noch dauert? Wenn ich weiterhin wahrnehmen muss, wie sehr mein Schiff ein ekelhaftes, unordentliches Durcheinander ist, weiß ich nicht, ob ich mich jemals wieder an Bord wohlfühlen werde.“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte ich. „Es könnten Stunden oder Tage sein. Aber vielleicht kann ich das System so einstellen, dass es uns nach Tyrol IV bringt, so dass wir wenigstens in Bewegung bleiben…“
Er zerrte an den Seilen. Sein Gesicht war hart und verzweifelt. Er sprach wie durch knirschende Zähne.
„Das wird nicht funktionieren. Man muss das Ziel nach einem Sprung einstellen. Der Zwischenraum verfälscht die Koordinaten. Und die Energieanzeige des Schildes blinkt falsch“, sagte er.
„Falsch?“ Ich drehte mich panisch um und sah ihn an.
„Falsch. Es sollte jede halbe Sekunde blinken. Das Timing ist falsch. Es sollte blinken…jetzt … jetzt … jetzt! Siehst Du! Ich muss es reparieren!“
Ich sah zu, wie er sich abmühte, frei zu kommen. Hätten wir noch ein paar Minuten gewartet, hätten er und ich es schwer gehabt, ihn aufzuhalten. Er war doppelt so groß wie ich.
„Mist“, sagte ich, zurück an der Seitenwand, „es gibt kein Seil mehr. Nicht dass es wichtig ist. Wenn ich gefesselt bin, wenn wir in Tyrol ankommen, kann ich das Schiff nicht zurücksetzen. Aber wenn ich mich nicht irgendwie festbinde, werde ich das Schiff zerstören und wir werden wahrscheinlich sterben.“
Satchel konnte nicht sprechen. Sein Nacken spannte sich wie ein Stahlseil, als er versuchte, aus dem Stuhl aufzustehen.
Ich sagte: „Wir können Tangaroa auch nicht um Hilfe bitten, da wir die Quarantäne gebrochen haben. Niemand wird uns anfassen wollen.“
Ich trat gegen die Seitenwand und stützte meinen Kopf in die Hände.
„Warum dieses Mal? Warum muss es immer so schwer sein? Ich kämpfe und kämpfe und tue alles
und jetzt, selbst wenn ich einen Weg finde, mich zu fesseln, werden wir Tyrol IV nicht mehr rechtzeitig erreichen. Das heißt, nach all den Gebühren, die ich bezahlt habe, bin ich wieder bei Tag Null im FTL. Alles, was ich im letzten Jahr getan habe, wird umsonst gewesen sein. Vielleicht hatte Betrix Recht. Meine Regeln waren dumm.
Man reist nie mit leeren Händen.
Nichts Illegales.
Offizielle Routen sind für Trottel.
Lass dich nie ablenken!
Niemals aufhören zu denken.
Tu so, als ob du Bescheid wüsstest.
…ich fügte eine siebte Regel hinzu: Manchmal verlierst du einfach.
Das tat weh, als hätte ich eine Sonneneruption in meiner Brust. Es tat weh, weil es wahr war. Manchmal verliert man einfach. Das war eine Lektion, die ich schon früh beim Kartenspielen mit meinem Vater nach Feierabend in der Bar gelernt hatte. Manchmal war es egal, wie man sie spielte oder in welcher Reihenfolge man sie spielte. Manchmal stapelten sich die Karten auf eine Weise, die einem keine Chance mehr ließen. So ging es mir jetzt. Ich war ein Mädchen, das nicht mehr weiter wusste.
Der arme Captain Satchel hatte Schaum vor dem Mund. So würde ich auch bald sein. Ich schnappte mir einen Lappen und wischte ihm die Wange ab. Er dankte es mir mit seinen Augen, obwohl sie vor Schmerz gerötet waren. Da der Kapitän nicht mehr sprechen konnte, begann ich das Schiff nach etwas zu durchsuchen, das ich als Seil verwenden konnte. In seinem Frachtraum fand ich ein Netz, das ich mit einem Messerschnitt befreite. Wenn ich es aufrollte, würde es als Mittel ausreichen, um mich zu fesseln. Aber wie fesselte man sich selbst?
Die Antwort fand ich in einer kleinen Metallbox, aus deren Ende ein Haken ragte. Er hatte einen Magnetfuß und diente dazu, Dinge in den Frachtraum zu ziehen. Ich nahm mein Netz und den Magnethaken mit in die Hauptkabine. Ich hatte vorgehabt mich an das ausklappbare Bett zu binden, aber mit dem Flaschenzug hatte ich keine Hebelwirkung. Ich wollte den Stuhl des Kapitäns nicht nehmen, hatte aber keine Wahl, da es keine anderen Sitze auf dem Schiff gab.
Nach eineinhalb Stunden Umbauzeit hatte ich alles aufgebaut und saß im Kapitänssessel mit einer langen Stange in der Hand. Das Netz lag locker um meinen Körper. Ich musste aufpassen, dass es mich nicht erwürgte, wenn es sich festzog. Wenn ich erst einmal auf den automatischen Magneten gedrückt hatte, konnte ich es nicht mehr aufhalten. Ich wischte den Kapitän ab, bevor ich zu meinem Sitz zurückkehrte. Er sah erschöpft von seinen Anstrengungen aus. Ich glaube, er hatte ein paar Mal Krämpfe bekommen. Durch seine zusammen gebissenen Zähne hatte er offenbar versucht zu schreien.
Bevor ich mich wieder auf den Stuhl setzte, fiel mir etwas an dem Kapitän auf. Seine Arme waren angespannt, als ob er einen Lastwagen heben wollte, aber seine Beine waren fast vollkommen ruhig. Solange ich noch bei Sinnen war, änderte ich daher die Position des Netzes, um mein rechtes Bein zu bewegen und zog meinen Stiefel und meine Socke aus. Ich saß auf dem Stuhl und lehnte ich mich zurück und drückte auf den Knopf des automatischen Flaschenzugs. Sofort begann das Netz um mich herum zusammenzufallen. Ich warf die Stange weg und legte meine Arme eng an, damit sie sich nicht lösen konnten. Die Schnüre zogen sich eng an meinen Körper, fast schmerzhaft und ich befürchtete, dass ich es falsch eingestellt hatte, so dass ich die Blutzirkulation abschneiden würde.
Aber dann hörte der Motor auf zu brummen und das Netz hatte sich engzugezogen, war aber nicht übermäßig schmerzhaft. Ich überprüfte die Bewegung meines rechten Beins. Ich hatte genug Platz, um die Steuerungen zu erreichen. Sobald wir das Tyrol System erreicht hatten, konnte ich das neue Ziel eingeben, vorausgesetzt, der Kapitän war in der Lage, zu diesem Zeitpunkt zu sprechen. Oder dass ich es war.
[Zeit: 15:13:59]
Während die Minuten verstrichen und die erwarteten Virussymptome ausblieben, machte ich mir Sorgen, dass ich mich vielleicht unnötigerweise selbst gefesselt hatte. Eine weitere Minute verging. Ich seufzte und ließ die Anspannung los. Es würde alles gut werden. Meine Hände begannen, den nächstgelegenen Knoten im Netz zu bearbeiten. Wenn ich vielleicht nur genug Platz freimachen könnte, dann konnte ich den Auslöser erreichen. Als ich an den Nylonfäden zog schrumpfte der Abstand zwischen dem Knoten, an dem ich arbeitete und dem nächsten und brachte das Netzgitter aus dem Gleichgewicht. Ich ließ meinen Knoten fallen, um auszugleichen, aber das Ungleichgewicht wurde nur noch größer. Ich machte es nur noch schlimmer. Ich musste das ganze Netz auseinandernehmen und neu ordnen. Nur so konnte ich sicherstellen, dass es perfekt war.
…dann konnte ich mich endlich darauf konzentrieren, den Rest der Kabine in Ordnung zu bringen und alles in die richtigen Gruppen zu stecken. Warum hatten wir sie nicht schon früher an ihren Platz gestellt? Die Welt war der Wahnsinn in diesem Zustand! Dass alles so durcheinander und verworren war, brachte meine Gedanken in Verwirrung. Aber als ich nicht an die Knoten herankam – wollte ich sie mit meinen Händen zerreißen und sie dahin bringen, wo sie sein sollten – ich begann zu krampfen. Ich dachte ich, ich würde ohnmächtig werden. Ich wünschte es sogar, denn das würde mir Erleichterung verschaffen von den Schmerzen. Mein ganzer Oberkörper spannte sich. Ich drückte gegen die Netze und wünschte mit meinem ganzen Wesen, das Schiff mit meinen Händen zu zerstören. Warum nur wurde mir das verwehrt!
Als ich das Chaos um mich herum nicht ändern konnte, begann mein Geist, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Ich sah das Durcheinander, das ich in meinem Leben angerichtet hatte. All die Teile, die nicht zusammenpassten. All die Dinge, die ich falsch gemacht hatte. Ich drehte jede Entscheidung, die ich je getroffen hatte, wieder und wieder um. Der Virus zwang mich, immer tiefer in mich selbst einzutauchen. Die nächsten Minuten, Stunden, Tage – ich wusste es nicht – waren der pure Horror.
Irgendwann stellte ich fest, dass die „Vengeance Valkyrie“ in den Tyrol Raum vorgedrungen war, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, die Koordinaten zu bestimmen. Einige Zeit später hörte ich jemanden zu mir sprechen, der entweder Captain Satchel oder eine Halluzination war. Ein anderes Mal dachte ich, ich sei wieder in der „Goldenen Horde“ oder auf der „Dodecahedron“ mit Senet Mehen oder auf „Night Stalker“ mit Burnett. Hunderte von Schiffsnamen gingen mir durch den Kopf und ich wollte sie auch sortieren. Schließlich wurde mir bewusst, dass Kapitän Satchel mit heiserer Stimme zu mir sprach.
„Sorri. Sorri. Bist du wach?“, fragte er.
Er klang, als hätte er mit Rasierklingen gegurgelt.
„Ja“, sagte ich, obwohl es nur ein Flüstern war. Jeder Muskel in meinem Körper schmerzte. Ich hatte immer noch den Drang, alles zu sortieren, aber er war nicht mehr so stark wie vorher. Mehr wie das Jucken einer Infektion als purer Irrsinn.
„Wir sitzen seit etwa acht Stunden vor dem Sprungpunkt Tyrol-Helios“, sagte er.
„Acht Stunden?“, wiederholte ich und nach einer kurzen Berechnung kam ich zu dem Schluss, dass wir es noch nach Tyrol IV schaffen könnten. Möglicherweise.
„Sag mir die Koordinaten und ich gebe sie mit meinem Fuß ein.“
[07:19:44]
Nach einem kurzen Hin und Her erklärte Satchel, was zu tun war und das Schiff setzte sich in Bewegung.
„Das bringt uns nach Tyrol IV“, sagte er.
Ich versuchte mich zu entspannen, aber ich hatte einen schmerzhaften Druck auf der Blase.
„Ich muss pinkeln.“
„Ist okay“, sagte Satchel.
„Oh. Ist das … okay?“, fragte ich.
„Na ja, es ist jetzt ein bisschen kalt, aber besser als die Alternative. Wenn du uns nicht aus diesen Fesseln befreien kannst“, sagte er.
„Ich bin mir nicht sicher, ob das klug ist, selbst wenn ich wüsste, wie“, antwortete ich. „Ich werde einfach den Stuhl des Kapitäns zu der langen Liste von schrecklichen neuen Erfahrungen hinzufügen
die ich auf dieser Fahrt gemacht habe.“
„Was ist eigentlich so wichtig an dieser Lieferung?“, fragte der Kapitän.
„Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie nicht illegal ist“, sagte ich.
„Ach ja, deine Regeln! Du hast ein bisschen darüber gesprochen, als du nicht ganz bei Dir warst. Ich
mochte sie. Ich meine nicht den Koffer. Ich meine für dich und Betrix?“, fragte er.
„Betrix“, sagte ich halb lachend.
„Ihr seid nicht wirklich Partner, oder?“, fragte er.
Zu diesem Zeitpunkt hielt ich es nicht für fair, ihn anzulügen, besonders nachdem wir eben so viel gemeinsam durchgemacht hatten.
„Nein“, sagte ich. „Obwohl ich ihr angeboten habe, ihr Partner zu werden. Sie hat natürlich abgelehnt.“
„Du hast immer noch nicht erklärt, warum die Lieferung so wichtig ist“, sagte er und stellte mir dieselbe Frage, die ich Betrix vor einer gefühlten Ewigkeit gestellt hatte.
„Freiheit. Die Galaxis sehen. Meinem Vater beweisen, dass ich es allein schaffen kann“, sagte ich.
„All das mit dieser Lieferung?“, fragte er.
„Ich möchte ein Schiff kaufen. Damit komme ich der Sache ein Stück näher“, sagte ich.
„Wird es das?“, fragte er, was mich verblüffte.
„Fühlst du dich denn nicht frei mit deinem eigenen Schiff?“ fragte ich zurück.
Kapitän Satchel war eine Weile still, bevor er sprach.
„Versteh mich nicht falsch. Ich würde die Vengeance Valkyrie gegen nichts eintauschen, aber ich habe immer Probleme mit Rechnungen, Treibstoffkosten, Zollgebühren, verrückten Lieferungen, die mich fesseln und mir das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen“
… wir lachten gemeinsam …
„…manchmal vermisse ich aber die Tage, als ich nur ein frischer Kurier war, der sich nur um die Lieferung selbst kümmern musste.“
„Du warst ein Kurier?“, fragte ich erstaunt.
„Ja“, sagte er, „ich habe für verschiedene Firmen gearbeitet: FTL, United Couriers, und Blue Streak Deliveries, die vor etwa zehn Jahr Konkurs anmelden mussten. Zu der Zeit hatte ich mein Schiff schon. Ich habe einige der Verträge übernommen, was mir beim Start sehr half.“
„Ich will immer noch mein eigenes Schiff“, sagte ich leise.
Er sagte: „Vergiss nur nicht, dass du immer Probleme haben wirst, wenn Du selbständig bist, also vergiss nicht, die Fahrt zu genießen, solange du dabei bist.“
„Danke“, sagte ich, aber ich meinte es nicht wirklich ernst.
„Werden wir es schaffen?“, fragte er.
„Es wird eng“, antwortete ich.
Er schmunzelte.
„Nun, wir können nicht zulassen, dass du es verpasst. Ich kann noch etwas mehr Geschwindigkeit aus diesem Biest herausquetschen, wenn du bereit bist, ein paar ausgefallene Tricks zu machen.“
Meine Brust füllte sich mit Hoffnung.
Es dauerte nicht lange und „Vengeance Valkyrie“ erhöhte ihre Geschwindigkeit um zwanzig Prozent, was uns in einer Stunde nach Tyrol IV bringen sollte. Die Übergabe war direkt auf der Station, was den Transport zum Zielort erleichterte. Da wir noch sechs Stunden Flug vor uns hatten, verbrachten wir die Zeit damit, uns gegenseitig unsere Erfahrungen als Kuriere zu erzählen. Satchel übernahm den größten Teil des Gesprächs, da er älter war, aber ich beeindruckte ihn mit den Erzählungen über meine erste Fahrt. Wir überlegten uns sogar, wie wir aus den Fesseln herauskommen konnten, als wir auf Tyrol IV ankamen. Ich schrieb eine Nachricht an den Schiffswartungsdienst auf der Station und bat um Unterstützung in der Kabine. Wir wussten, dass wir komische Blicke ernten würden, aber es war besser, als festzusitzen.
Die letzten paar Stunden waren qualvoll. Ich war sehr damit beschäftigt, das Schiff mit dem großen Zeh meines rechten Fußes zu steuern, als mir Gedanken darüber zu machen, ob ich es schaffen würde oder nicht. Das Andocken war knifflig, aber Satchel war ein ausgezeichneter Ausbilder und führte mich wie ein Profi durch die Prozedur. Als das Wartungsteam eintraf und uns Fesseln abnahm, schnappte ich mir den Koffer und sprintete zur Abgabestelle. Ich konnte nicht glauben, dass ich es geschaffen hatte.
[Zeit: 01:05:21]
Als sich die Luftschleuse quietschend öffnete, konnte ich mich kaum noch zusammenreißen. Ich fühlte mich wie ein Sprinter am Anfang eines Rennens, der auf den Startschuss wartet. Ich hörte, wie Satchel das Wartungsteam begrüßte.
„Hallo, Leute. Das mag vielleicht etwas seltsam aussehen, aber …“
Als seine Stimme ins Leere ging, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich konnte meinen Kopf nicht weit genug drehen, aber als ich die gelbe Reflexion auf dem Innenglas sah, wusste ich, was passiert war. Eine modulierte Stimme kam durch einen Schutzanzug:
„Wir wurden informiert, dass Sie die Quarantäne durchbrochen haben. Wir werden Sie in Gewahrsam nehmen, bis der Virus abgeklungen ist und das Schiff gereinigt wurde.“
„Nein! Nein! Ich kann nicht. Ich habe eine Lieferung zu machen. Es ist gleich hier auf der Station. Es ist der Koffer unter dem Sessel“, sagte ich.
„Es tut mir leid, Ma’am. Nichts wird das Schiff verlassen, bevor es nicht gereinigt wurde. Wir haben strikte Anweisungen“, sagte der Mann im Schutzanzug. „Bitte kooperieren Sie und Ihnen werden keine weiteren Strafen auferlegt.“
Es war zu Ende. Ich hatte verloren. Ich war an der Station, wahrscheinlich ein paar hundert Meter von meinem Ziel entfernt und ich würde es nicht schaffen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich die Quarantäne durchbrechen könnte, ohne den Zorn der UEE zu riskieren.
[Zeit: 00:00:00]
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich in einer Bio-Blase vom Schiff gebracht wurde, außer, dass Satchel es mir erzählt hat. Die Station hatte keinen Bereich für Bio-Entgiftung, also räumten sie einen Hangar aus und hüllten ihn komplett in Plastik. Nachdem sie bestätigt hatten, dass wir das Virus nicht mehr in uns trugen, steckten sie das Plastik wohl in eine Verbrennungsanlage. Wenigstens durften wir unser MobiGlas behalten, solange wir versprachen, keinen Ärger zu machen. Wir bekamen auch hellblaue Overalls, nachdem sie uns einer Umweltdusche unterzogen hatten. Meine Haut war noch immer wund vom Schrubben. Nachdem wir uns eingerichtet hatten, rief ich die Lieferstelle an, in der Hoffnung, dass ich es noch schaffen würde, aber sie sagten, der Banu-Händler, der auf die Lieferung gewartet hatte, war bereits weg. Ich sollte den Koffer bei ihnen lassen. Während der Wartezeit, kontaktierte Satchel einige alte Freunde in der FTL, die nach seinem Weggang Karriere gemacht hatten. Er nutzte ein paar Gefallen, um meine Jobs zu verlegen, damit ich nicht gefeuert werden würde.
„Warum hast Du das getan?“ fragte ich ihn, nachdem er mir das erzählt hatte.
„Ich habe dir die Daumen gedrückt“, sagte er. „Ich dachte wirklich, wir würden dich rechtzeitig und pünktlich zur Lieferabgabe bringen.“
„Aber das war eine große Unannehmlichkeit für Dich“, sagte ich.
Er hob eine Augenbraue. „Ich habe eine ordentliche Summe für den Job bezahlt bekommen. Und glücklicherweise konnte ich alle davon überzeugen, dass der Virus schuld daran war, dass wir die Quarantäne verletzt haben, also wird keine Anklage erhoben.“
„Es könnte schlimmer sein“, sagte ich und versuchte, mich selbst zu überzeugen.
„Ich habe eine Frage an Dich, Sorri. Was soll ich mit Betrix machen?“, fragte er, während er mich genau musterte.
„Was meinst Du?“ fragte ich.
„Betrix ist diejenige, die mich angeheuert hat. Das steht in den Protokollen. Wenn sich bei der FTL herumspricht, dass sie unabhängige Verträge abschließt, würde sie wahrscheinlich ihren Job verlieren“, sagte er.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Mit ein paar einfachen Worten konnte ich Betrix LaGrange aus der FTL und wahrscheinlich für immer aus den Reihen der Kuriere verbannen. Ich würde aber auch ihre Träume zerstören.
„Nein“, sagte ich und dachte daran, was Betrix mir erzählt hatte, warum sie ein eigenes Schiff wollte.
„Nein. Wir sind Rivalen, keine Feinde. Ich hasse sie nicht.“
„Selbst nach dem, was sie versucht hat, Dir anzutun? Ich hätte es nicht angeboten, wenn ich nicht denken würde, dass Du deine Rache verdient hast“, sagte er.
„Nein. Ich bin mir sicher. Sie hat eindeutig ein paar Probleme, aber das will ich ihr nicht antun.“, antwortete ich. „Außerdem ist es nicht richtig, dass sie gefeuert wird, weil sie fast das Gleiche tut wie ich.“
Er zuckte mit der Schulter.
„Na gut.“
Nach einem weiteren Tag des Wartens in dem provisorischen Raum wurden wir wieder gereinigt und durften dann mit einer offiziellen Verwarnung gehen. Ich schätzte mich glücklich, dass das alles war, was sie getan hatten. Ich holte meine Sachen aus der „Vengeance Valkyrie“, darunter auch den lästigen Koffer. Bevor ich ging, reichte mir Satchel einen versiegelten Umschlag.
„Was ist das?“ fragte ich.
„Mach ihn auf, wenn du endlich dein erstes Schiff bekommst“, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Ich seufzte.
„Das wird noch eine ganze Weile dauern.“
„Wahrscheinlich“, sagte er. „Aber ich bin sicher, dass du einen Weg finden wirst, es zu schaffen
früher als du denkst. Du hattest wirklich Pech mit dieser Lieferung.“
Da ich kein Freund langer Abschiede war, ließ ich Satchel auf seinem Schiff zurück. Außerdem gab es eine kleine Chance, dass ich ihn in naher Zukunft wiedersehen würde. Er hatte mir versprochen, mich mitzunehmen, wenn ich ein Schiff für einen Auftrag bräuchte. Ich wusste, das war angesichts der Größe der Galaxis unwahrscheinlich, aber es war eine nette Geste. Bevor ich Tyrol IV verließ, lieferte ich den silbernen Koffer mit den Banu-Symbolen ab. Ich erhielt einen Hungerlohn für meine Bemühungen, der kaum für die Rückreise nach Sol reichte – um Maria Gorane die Scheidungspapiere zu überbringen.
Von meiner Last befreit, fühlte ich mich seltsam beruhigt. Auf dem Rückweg nahm ich ein paar FTL-Aufträge an. Ich hatte mein Guthaben praktisch auf Null gebracht. Während ich in einem kommerziellen Transporter saß, der auf dem Weg zum Davien-Sprungpunkt durch das Kilian-System flog, drückte ich meine Nase gegen das kühle Sichtfenster. Der leuchtende Sternenhimmel draußen gab mir das Gefühl, als würde ich ihn zum ersten Mal wieder richtig sehen. Während ich die winzige Sonne im Zentrum des Systems in der Ferne wachsen sah, durchlebte ich die Reise der letzten Tage in meinem Kopf und die harten Wahrheiten, die ich erfahren hatte, während ich von dem Sortiervirus fast verzehrt wurde. Die Worte des Banu auf der „Vita Perry“ kamen mir wieder in den Sinn: Reise in dich selbst und du wirst dein Ziel erreichen.
Ich verstand damals nicht, was der Banu gemeint hatte, aber nach der verrückten Lieferung hatte ich eine wage Vorstellung davon, was er gemeint haben könnte. Und Satchel sagte, man handle immer auch mit Problemen – das war auch so eine Weisheit. Ich war so damit beschäftigt, genug Credits für meine Aurora LX zu verdienen, dass ich vergessen hatte, warum ich überhaupt Kurier geworden war – ich wollte die Galaxis sehen! Wenn ich so weitermachte, würde ich wie Senet Mehen enden, zu sehr auf meine Ziele konzentriert, dass ich den eigentlichen Grund meiner Reise vergessen würde.
Als ich das Sol-System erreichte, hatte ich mich mit dem Rückschlag abgefunden. Rückblickend war es eine erstaunliche, wenn auch recht erschütternde Erfahrung gewesen, die in gewisser Weise die verlorenen Credits wert war. Manchmal verliert man einfach. Das war der Lauf des Universums. Aber ich würde mich nicht zurückhalten lassen. Denn trotz allem hatte ich mir selbst eine Menge bewiesen. Die Übergabe der Gorane-Scheidungspapiere in Sol war ein wenig bittersüß. Hier endete die Reise. Als es vorbei war, rief ich mein MobiGlas auf und schaltete meine Verfügbarkeit auf ‚Ein‘. Ich musste eine Menge Credits aufholen.
*****
Erst ein paar Monate später, nach der verpfuschten Tyrol IV-Lieferung, waren die Dinge endlich und wahrhaftig zu Ende. Ich war gerade auf Ferron gelandet, als ich eine Nachricht von Alara Bonaire erhielt. Zuerst verwirrte mich der Name, bis ich mich an die ehemalige Frau von Abel Gorane erinnerte, dem schwachsinnigen Geschäftsmann, vor dem ich Alaras Tochter Maria gerettet hatte.
Grüße Sorri,
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass es dir gut geht. Ich kann mich nie für das revanchieren, was du getan hast. Hätte Abel Maria auf das Schiff gebracht, hätte ich sie nie wieder gesehen. Mein Leben vor der Scheidung war sehr kompliziert. Ich bin froh, dass ich meinen Mann los bin. Ich versuche, es zu vereinfachen, was mich wiederum an dich und Deine Großzügigkeit erinnert. Ich habe beschlossen, dir Abels altes Schiff, die Black Queen zu vermachen. Er sagte, er hätte es nach mir benannt ….. Ich hoffe Du kommst mit dem Schiff besser zurecht, als ich und mein Mann. Sie ist ziemlich abgenutzt, aber sie kann immer noch die Tiefen des Himmels durchqueren. Du findest die Zugangscodes am Ende dieser Nachricht, zusammen mit der Hangar Nummer.
Mach es gut und viel Glück.
Mit freundlichen Grüßen,
Alara Bonaire
Maria Bonaire
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Hangar Fünfzehn. Den ganzen Weg über war ich mir sicher, dass es ein Traum war und dass ich schweißgebadet aufwachen würde. Aber dann betrat ich den Hangar. Es war eine versiegelte Halle, also ging ich durch die Luftschleuse. Auf Platz fünfzehn stand eine Aurora ES, ein frühes Modell. Sie hatte schwere Brandspuren an der Nase, Lochfraß an den Seiten und die Farbe war verblasst. Es war kein Schiff, sondern ein fliegender Ball aus Klebeband. Aber wenn der Brief, den ich gerade erhalten hatte wahr war, dann gehörte dieses Schiff mir.
Ich stieß einen Schrei aus und rannte zur „Black Queen“. Dort waren ein paar Arbeiter in roten Overalls, die auf der anderen Seite des Hangars eine Caterpillar warteten. Sie blickten auf, als ich über den harten Boden sprintete. Ich hörte ein paar Kicherer, als ich den Bug der Aurora umarmte.
Meine Finger zitterten, als ich die Zugangscodes eintippte. Als die Tür aufschwang, konnte ich kaum noch stehen bleiben. Das Innere war ein einziges Wrack. Es gab kaum genug Platz zum Stehen. Der Pilotensessel war aus blankem Metall. Einige der Bedienelemente waren zerbrochen und die Eingeweide von irgendetwas Wichtigem hingen von der Decke. Ich berührte jede einzelne Oberfläche der „Black Queen“, innen und außen, um mir zu beweisen, dass sie echt war. Ich meine, sie flugtauglich zu machen, würde einiges kosten aber nicht so viel, wie ein neues Schiff. Ich konnte es nicht glauben.
Ich wollte eine Nachricht an meinen Vater schicken und ihm sagen, dass ich endlich mein eigenes Schiff hatte. Er würde es nicht glauben. Aber dann erinnerte ich mich an den Zettel, den Kapitän Satchel mir hinterlassen hatte. Ich rannte zurück nach draußen, um meinen Rucksack zu holen. Der Brief war im Boden eingeklemmt, die Ecke war abgerissen. Das Papier darin war dick. Es war ein Blick in die Seele von Captain Satchel. Er hatte meinen Namen mit einem Stift auf die Vorderseite geschrieben.
Ich wollte den Brief gerade lesen, als ich beschloss, dass der richtige Platz dazu im Kapitänsstuhl war. Mein erster Brief, von Kapitän zu Kapitän. Ich klappte ihn. Dann las ich las ich seine Nachricht laut vor, in der Heiligkeit meines eigenen Schiffes: Der Black Queen.
Kapitän Sorri Lyrax.
Ich gratuliere Dir! Ich hoffe, dieser Tag kommt eher früher als später, aber so oder so, heute ist er da. Denk daran, dass Du das Schiff erst taufen musst, auf die einzige Art taufen kannst, die Du kennst.
Dein Freund,
Satchel
Ich verstand nicht, was er meinte, bis ich mich daran erinnerte, was auf der „Vengeance Valkyrie“ passiert war, als wir den Sortiervirus hatten und in unseren Stühlen gefangen waren. Ich lachte eine ganze Minute lang, bevor ich den gefalteten Zettel in einen Spalt zwischen die Instrumententafeln steckte. Mir wurde klar, was es brauchte, um die „Black Queen“ wieder flugfähig zu machen. Zum Glück hatte ich in den letzten Monaten hart gearbeitet und hatte fast genug, um die Reparaturen zu bezahlen. Bald würde ich in der Lage sein, die Jobs anzunehmen, die ich wollte, da ich nicht mehr an Schiffsfahrpläne und vorgegebene Kurierrouten gebunden war.
Als ich darüber nachdachte, überkam mich ein Stich des Bedauerns. Ich wäre zwar in meinem eigenen Schiff unterwegs, aber ich würde nicht mehr durch die bevölkerten Sternenhäfen und schwebenden Stationen gleiten. Stattdessen würde ich in einer Stahlkiste eingesperrt sein, genau wie Senet Mehen. Ich meine, war das nicht der Grund, warum ich überhaupt Kurier geworden war? Um Menschen zu treffen? Plötzlich schien die „Black Queen“ ein einsamer Ort zu sein. Was zum Teufel hatte ich mir gedacht? Dafür hatte ich so hart gearbeitet und jetzt war ich voller Zweifel? Ich saß eine halbe Stunde lang da und überlegte, was ich tun könnte, bis ich schließlich eine Lösung fand, die gleich mehrere Probleme auf einmal löste. Ein kurzes Tippen auf mein MobiGlas rief den Link zur Nachricht auf.
Liebe Betrix,
ich begann zu tippen, mir ist klar, dass dieses Angebot etwas seltsam erscheinen mag,aber ich habe jetzt mein eigenes Schiff. Bestimmte Aspekte des Betriebs würden mit einer zweiten Person reibungsloser ablaufen. Bist du daran interessiert, mein Erster Offizier zu werden?
Sorri